Wo die Ostseewellen lecken an dem Strand, ist mir doch so vieles noch ganz unbekannt. Darum rolle ich dort mit dem Fahrrad los. Das Meer ist meine Heimat, aber auch sehr groß.
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NEU: Die andere Strecke durch Dänemark - mit opportunistischer Mikro-Insel
Freitag, 7. Juli 2023
Hel
Donnerstag, 6. Juli 2023
Von Białogóra nach Swarzewo
Heute erscheint es ganz selbstverständlich, dass Polen an der Ostsee liegt - immerhin habe ich schon hunderte polnische Küstenkilometer abgefahren. Doch es gab eine Zeit, da ergaben die Worte polnische Ostseeküste in etwa so viel Sinn wie dänisches Hochgebirge. Die Grenzen verliefen komplett woanders, und keine davon berührte ein Meer. Von diesem Original-Polen rund um Warschau bleibe ich auf meiner Reise weit entfernt.
Alles, was ich bisher von Polen gesehen habe, war quasi das zweite Upgrade von 1945. Die Sowjetunion war da schon länger scharf auf Gebiete im Osten Polens, also gönnte sie sich die endlich und ließ die polnischen Bewohner auf Gebiete östlich der Oder umsiedeln, die bisher deutsch gewesen waren. Also war das unterm Strich für Polen kein richtiger Gebietsgewinn - deswegen nennt man das die Westverschiebung Polens. Viele Deutschen und Polen mussten ihre Heimat verlassen. Danach sah Polen auf der Landkarte völlig anders aus.
Aber jetzt überquerte ich die Mündung der Piaśnica (hinten im Bild) und gelangte ins erste Upgrade von 1918, auch bekannt als Polnischer Korridor. Das hatte Polen schon im Versailler Vertrag bekommen, und anders als die Westverschiebung war das ganz klar ein erfreuliches Ereignis. Jedenfalls für Polen. Sie konnten endlich am Strand baden und viel wichtiger, Handelsschiffe losschicken!
Für Deutschland dagegen war das, jenseits von allem Blut-und-Boden-Blödsinn, schon unpraktisch und trug vermutlich stark zum Erfolg der Nazis und zum nächsten Krieg bei. Der polnische Korridor schnitt ein Stück Deutschland von Deutschland ab, Unternehmen aus Ostpreußen mussten zweimal eine internationale Grenze überqueren, um ihr Zeug nach Berlin zu schaffen (und das über 70 Jahre vor dem Schengen-Abkommen).
Der Gedenk-Grenzstein unten rechts im Bild ist nicht mehr im Original erhalten. Entweder wurde er im Zweiten Weltkrieg abgeschnitten und Hitler als Trophäe gebracht, oder erst nach Kriegsende zerstört, da widersprechen sich die Berichte.
Das ehemalige Grenzgebiet dient jetzt als Nordic-Walking-Park. Bis heute treffen sich jedes Jahr Patrioten und Veteranen an dieser Holzbrücke, um die Heirat Polens mit dem Meer zu feiern. Leider entleeren sie hinterher das Dixiklo nicht. Offenbar ist es üblich, hier in Ostpolen überall Dixiklos bei den Sehenswürdigkeiten der Natur aufzustellen - doch leider riechen nur die an den Riesendünen von Łeba erträglich.
In den Dünen verbirgt sich die erste Sehenswürdigkeit des polnischen Korridors: Eine chaotische Kapelle aus knorrigem Holz. Solch ein Gotteshäuschen hätte ich eher in den Bergen Tibets oder so erwartet, keinesfalls in Polen mit seinen sonst so supersauberen, ordentlichen Kirchen (kein Klischee, sondern meine eigene Erfahrung). Die Kapelle ist über und über bedeckt mit Holzkreuzen und Bildern, unter anderem eine schwarze Maria mit einem ebenso schwarzen Jesusbaby.
Aber auch sonst sollte ich heute ein wenig mehr vom Glauben dieses Landes mitbekommen. Die Dorfkreuze haben eine maritime Gestaltung: Das eine wächst aus einem Boot und verkündet auf seinem Segel die Gottesdienstzeiten. Das andere wächst aus einem Anker, verkündet die Gottesdienstzeiten per Glocke und hat einen Rettungsring. Für den Fall, dass jemand im Taufwasser zu ertrinken droht.
Wie geht es weiter durch den Korridor? Jetzt gibt es zwei Möglichkeiten. Der Iron Curtain Trail führt (jedenfalls laut manchen Karten) schnurgeradeaus am Meer weiter. Vorteil: Ich wäre superschnell bei der Halbinsel Hel. Nachteil: Ich würde Hauptstraße fahren.
An dieser Strecke liegen zwei besondere Steilküsten. Da wäre zum einen das Kap Rozewie (früher Rixhöft). Wörtlich übersetzt also das Rosa Kap? Oder Rosenkap?
Rosenkap passt besser, denn die Steilküste ist über und über mit den Büschen der Kartoffelrose (habe erst neulich in der Nordsee gelernt, dass die so heißt) überwuchert. Stufen schlängeln sich durch das Reich der Zweige und Dornen. Falls man diese schiefen Holzbohlen überhaupt als Stufen bezeichnen kann, so schräg und unregelmäßig, wie sie sind.
Schon wieder ein Gedenkstein, sogar mit polnischer Flagge? Eine Tafel erzählt eine Sage aus so alter Zeit, dass die Menschen noch nicht schreiben konnten und sie mündlich ihren Kindern weitergaben... so viel verstehe ich... hier wohnte also irgendwer in einem Haus am höchsten Kliff... er lebte im Wald, im Einklang mit der Natur und so... dann stand er auf und zog sich an, aber wieso? Nee, sorry, bin raus.
Puh, erstmal baden. Die letzten Tage haben waren die Wellen ziemlich umwerfend, heute ist die Ostsee ruhiger. Hängt halt vom Wetter ab, alles in allem sind die Wellen aber nicht viel stärker als in Deutschland. Und das Salz nimmt immer weiter ab.
Ach ja, die Flagge hat wahrscheinlich eh einen anderen Grund: Dieser Punkt galt lange als nördlichster Punkt Polens.
Erst 2003 wurde ausgemessen, dass die Steilküste im benachbarten Jastrzębia Góra noch zwei Meter weiter in den Norden ragt. Eine erfreuliche Nachricht für alle, die auf der wilden Treppe von Rozewie immer ins Stolpern gerieten: Fortan konnten sie Polens nördlichsten Punkt auf sicheren Stufen besuchen. Eine rot-weiße Säule mit Windrose markiert die Stelle.
Mann, ist das schon warm, so früh am Vormittag. Wo ist eigentlich meine Sonnencreme? Merkwürdig.
Jetzt könnte ich bis zur Halbinsel Hel durchfahren. Möchte ich aber nicht. Der Ostseeküstenradweg ignoriert den nördlichsten Punkt und schickt die Reisenden stattdessen weg vom Meer, auf einen der schönsten Radwege Polens. Das will ich mir nicht entgehen lassen, und so fahre ich schräg zurück bis nach Krokowa. Das Örtchen hat eine Kirche nach Rotterdamer Vorbild und ein Schloss mit ausgedehntem Park, in dem einst die Familie Krokow das Geschick des Dorfes lenkte.
Ich musste heute Sonnencreme und ein paar andere Sachen nachkaufen. Zum Glück haben viele Dörfer eine Art Tante-Emma-Laden mit Essen und was sonst noch so gebraucht wird. Etwas verwirrend ist nur: Es gibt einen Bereich mit Regalen, wo man sich selbst etwas rausnehmen kann, und einen hinter der Kasse, wo die Verkäufer einem die Ware rausgeben. Aber wo ist die Grenze? Als ich ahnungslos durch die Regale schlenderte und um eine Ecke bog, befand ich mich plötzlich hinter den Kassen. Die gefallenen Grenzen Europas auf dieser Tour sind toll, aber das ist eine Grenze, die durchaus bleiben könnte.
Mittwoch, 5. Juli 2023
Von Rowy nach Białogóra
Rowy, ein Fischerdorf an einer Brücke, und der letzte Außenposten der Zivilisation. Naja, eigentlich nicht wirklich, aber es klingt so schön abenteuerlich. Und zumindest steckt ein kleiner Kern Wahrheit darin.
Willkommen im Slowinzischen Nationalpark! Wie auf Wolin sollte ich eigentlich am Kassenhäuschen Eintritt zahlen, aber was kann ich dafür, wenn die Kassierer so früh am Tag noch schlafen?
Was dahinter kommt, wäre durchaus ein paar Münzen Eintritt wert. Dieser Weg folgt dem Nordufer vom Jezioro Gardno (früher Garder See - liegt aber trotzdem nicht in Italien).
Der Weg ist das genaue Gegenteil des Plattenwegs nach Jaroslawiec: Der Karte sagt, er sei schlecht befahrbar, dabei war er richtig gut. Der achtgrößte See Polens ist zwar vom Weg aus nicht wirklich zu erkennen, aber immer wieder zweigen Plattformen ab und bieten eine herrliche Aussicht auf die spiegelglatte Wasserfläche. Welch traumhafter Ort für ein Frühstück.
Dann verließ ich das Gebiet des Nationalparks erstmal wieder und umrundete ihn außenrum, mit einem Tempo von oF km/h, wie mir eine Messstation freundlich mitteilte. Steht das für OberFix?Hoffentlich ist das noch innerhalb der erlaubten Höchstgeschwindigkeit innerorts.
Ein Plattenweg umschlang einen winzigen Waldsee und fächerte sich dabei zu einem großen Lochplattenplatz auf. An einem anderen Plattenweg wurde noch gearbeitet, doch die netten Bauarbeiter waren fast fertig und ließen mich fast sofort vorbei. Sogar so weit draußen im Nirgendwo fährt es sich gut. Bisher.
In diesem Land lebten die Slowinzen, ein komplett ausgestorbenes Volk von Bauern, Torfstechern und Fischern. Wie genau sie lebten, das zeigt ein Freilichtmuseum. Aber nicht mir, ich habe keine Lust, dafür dieselben 10 Kilometer hin und zurück zu fahren. (Am Museum direkt weiterfahren kann man angeblich nur, wenn es lange trocken war - aber in den letzten Tagen gab es immer mal wieder Regen.)
Ab und zu bieten kleine Plattformen einen tieferen Einblick in den Nationalpark - mal auf eine Heidefläche, mal in einen Sumpfsee. Auch wenn ich solche Landschaften auch aus Deutschland kenne, fielen mir immer mal wieder Pflanzen ins Auge, die irgendwie fremd erschienen. Ich kann aber nicht sagen, ob sie es wirklich sind.
Kennen Sie diese Reparaturstationen, an die man sein kaputtes Rad hängen kann und wo Luftpumpe und Werkzeug an Stahlseilen dranhängt? In Polen gibt's die auch - und zwar immer genau da, wo a) man am wenigsten damit rechnen und b) nicht da, wo ich eine Panne habe.
Man sollte meinen, so etwas steht immer dort, wo auch die Radwege und Schilder tipptopp ausgebaut sind. Das Gegenteil ist der Fall: Diese grüne Reparatursäule markierte den möglicherweise schlimmsten Teil des gesamten Ostseeradwegs.
Er beginnt hinter den Dörfern Izbica und Gac. Izbica klingt ein bisschen nach Ibiza, und beide Orte haben wirklich eine Gemeinsamkeit: SAND. Aber in Izbica liegt der nicht am Strand, sondern auf dem Weg. So viel Saaand. Meine Reifen sackten immer wieder ein oder rutschten zur Seite weg, bis mir keine Wahl blieb als zu schieben. Oder in diesen Sand zu stürzen.
Natürlich bin ich nicht der erste, den es auf diesen Weg verschlägt. Das macht das Ganze aber auch nicht besser. Am Wegesrand schlängeln sich immer mal wieder kleine Ausweichpfade durchs Gras, auf denen andere Radler versuchten, dem Sand zu entkommen. Stattdessen ermöglichten sie es dem Sand, sich noch weiter auszubreiten, denn mittlerweile waren die völlig zerfahrenen Pfade genauso schlimm wie der eigentliche Weg.
Kennen Sie den Begriff Desertifikation, also dass weltweit immer mehr Flächen zu Wüsten werden? In Izbica wird die Desertifikation maßgeblich von frustrierten Radfahrern unfreiwillig vorangetrieben.
Doch der Mensch wäre nicht der Mensch, wenn er eine Wüste wirklich sich selbst überlassen würde. Zumindest nicht für auf einem derart langen Teil der Küste. Deswegen hat der Mensch eine Schneise in die Natur geschlagen, und diese Schneise heißt Łeba. Straßen, Schienen, Radwege, tausende Reisende, sie alle durchstoßen den Nationalpark an dieser Stelle und dringen bis zur Ostsee vor. Die Stadt wird als Tor zum Nationalpark bezeichnet, aber wenn ich mir das auf der Karte so ansehe, erscheint mir das Wort Keil passender.
Wozu die Mühe? Łeba ist letztlich auch nur ein polnisches Ostseebad wie die bisherigen, nur etwas größer, gelber - und lauter. Dazu tragen vor allem die Lautsprecherwagen bei. Sie düsen durch den Ort, verstopfen die Straßen und die Ohren der Menschen noch weiter, und zwar zu keinem anderen Zweck als Plakate hochzuhalten und lautstark zu krächzen, wie toll doch irgendeine Attraktion der Region sei.
Um sich vor all dem Trubel zu schützen, erbauen die Menschen ihre eigenen Festungen aus Stöcken und Stoff. Noch nie habe ich derart viele Windschutzzäune an einem Strand gesehen. Vielleicht schützen sie sich ja noch vor einer anderen Gefahr?
Auf der Karte ist in den Dünen vor der Stadt die Kirchenruine St. Nikolaus eingezeichnet. Neugierig ließ ich das Rad stehen und erwartete... also, ich weiß nicht, was ich erwartete, aber mit Sicherheit mehr als einen kümmerlichen Ziegelhaufen, großräumig eingeschlossen von grünen Zäunen.
Kaum zu glauben, aber die alte Kirche von Łeba ist sogar noch kaputter als die von Trzęsacz. Dabei ist das Meer noch ein paar Meter entfernt? Was ist hier passiert? Die schiefe Mauer ist nur die Spitze des Eisbergs: Der Reiseführer sagt, die komplette Stadt stand mal an dieser Stelle, und der Kirchenrest ist als einziges übrig.
Das stimmt nicht ganz, ein Stück entfernt steht auch noch ein evangelischer Friedhof. Die Slowinzen waren nämlich Protestanten, im Gegensatz zu ihren Nachbarn, den Kaschuben, die schon deshalb katholisch waren, weil ihr Name ja auch mit Ka- anfing. Protestanten in Polen bedecken ihre Gräber vollständig mit weichem Moos, anders als der katholische Friedhofsfarn von Darłowo. Naja, das könnte aber auch bloß an der lokalen Pflanzenwelt liegen, da sollte ich lieber nicht zu viel Theologisches reininterpretieren.
