NEU: Die andere Strecke durch Dänemark - mit opportunistischer Mikro-Insel

Alsternative: Von Flensburg nach Svendborg

Samstag, 27. April 2024

Von Ventspils nach Melnsils

Dieser Tag war trübe und kalt. Ein vollbehangener Himmel, Nieselregen, Gegenwind und sogar ganz, ganz leichte Hügel lagen in meinem Weg. Und trotzdem war ich total froh. Weil es einfach nur ein stinknormaler Radtour-Tag war, ohne zerstörte Fahrräder und Schneestürme. Noch schneller als der Schnee sind jedoch meine zwei Tage Puffer weggeschmolzen. Ab jetzt darf nichts mehr schiefgehen.

Das Schmelzwasser hatte den Radweg aus der Stadt hinaus überschwemmt, aber ein paar Bretter führten über die Pfützen. Zum Fahren sah mir das nicht vertrauenswürdig genug aus, dann doch lieber schieben.


Im sumpfigen Wald liegt ein Badesee, und ein einsames Bahngleis reißt ab. Es kündigt an: Heute begegne ich spärlichen Spuren des armen lettischen Bahnnetzes.

Wenig überraschend: Der Radweg hört ein paar Kilometer hinter der Stadt auf.
Ebenfalls wenig überraschend, weil es der Fahrradmechaniker in Ventspils angekündigt hat: Baustellen.
Als die Ampel auf Grün schaltete, holperte ich durch eine lange braune Erdwüste und hatte meine liebe Mühe, in nur einer Grünphase das Ende zu erreichen. Dieser Vorgang wiederholte sich dreimal.
Aber sonst war die Strecke heute die bisher beste in Lettland. Immer dieselbe Straße, fast ohne Abbiegen, und diesmal mit so wenig Verkehr, dass ein Radweg echt nicht nötig wäre. Die Straße selbst wird "großzügigster Radweg Lettlands" genannt.

Fast ohne Abbiegen? Nicht ganz - ein paarmal bin ich freiwillig abgebogen. Zum Beispiel auf den ersten Kolonnenweg im Baltikum, der mich ins nächste Lost Place brachte. Hinter den Nadelbäumen erschienen dunkle Kästen mit leeren Augen.  Das heißt, eigentlich sind sie aus weißen Steinen gemauert, aber in der Masse wirkten sie trotzdem grau. Block um Block ragte über der Betonstraße auf und starrte mich aus tausenden bröckelnden Fenstern finster an.
An der innerdeutschen Grenze stehen solche Kasernen einzeln verteilt, im Baltikum dagegen konzentrieren sie sich in großen Militärstädten, welche die drei annektierten Sowjetrepubliken unter Kontrolle halten sollten. Diese Städte gab es sogar schon, als Lettland zum ersten Mal unabhängig war: Die Sowjetunion bedrohte die baltischen Staaten, bis sie nachgaben und der Roten Armee erlaubten, 25 000 Soldaten zu stationieren. Natürlich nuur, um sich gemeinsam vor den Nazis zu schützen (mit denen die Sowjets eigentlich dank Hitler-Stalin-Pakt gerade gut Freund waren), und auf keinen Fall, um eine spätere Invasion leichter zu machen.
Große Sperrgebiete umgaben die Militärstädte und blockierten einen nicht unerheblichen Teil des Landes. Die Menschen wanderten ab, und Panzer trainierten in den leeren Dörfern. In anderen Dörfern engagierten sich die Soldaten aber auch im Gemeindeleben oder trainierten die Dorfjungen als Nachwuchs-Grenzsoldaten. Und die Mädchen? It happened often that the fate of young soldiers and local girls were linked together. Joa, so kann man es natürlich auch sagen.
Ventspils hatte zumindest mehr Glück als Liepāja: Die Stadt selbst gehörte nicht zu Sperrzone, denn die Militärstadt stand ein gutes Stück außerhalb in Irbene. Außerdem hinterließen die Sowjets das größte Radioteloskop in Nordeuropa (auch wenn sie es beim Abzug mit Absicht kaputtmachten). Heute steht in Irbene ein Forschungszentrum für Radioastronomie.

Ausgerechnet an diesem beunruhigenden Ort rollten auf einmal zwei Fahrräder vorbei - und an ihren Gepäckträgern hingen dick gefüllte Taschen! Diese Damen waren die allerersten Tourenradler, die ich auf dieser Reise gesehen habe. Und noch viel mehr hardcore drauf als ich, denn sie waren Wochen vor mir in Lübeck gestartet. Und natürlich Deutsche. (Muss ich das extra erwähnen?) Und sie hatten bereits von mir gehört - in Ventspils hatten sie dieselbe Fahrradwerkstatt besucht, wo bereits die Geschichte vom dämlichen Deutschen, der mit einem Schrottrad startete, die Runde machte.

Unter der Straße zog still und träge ein Fluss durch sein grüngelbes Tälchen. Die Irbe fließt lange Zeit parallel zur Ostseeküste, weshalb man dort angeblich beim Paddeln auf weiten Strecken das Meeresrauschen hören soll - unser Pastor hatte mal überlegt, dort eine Paddelreise zu veranstalten.
Der nächste Fluss ist dann auch schon die Grenze zum Slītere-Nationalpark. Der besteht aus Wald und Feuchtgebieten, nur auf 4 Prozent der Fläche wird Landwirtschaft betrieben. Geologisch am ältesten sind die Blue Hills, die ehemalige Küste eines Eissees. Am jüngsten sind die Kangari, das sind lange, parallele Dünen. Im Frühling und Herbst ziehen hier zehntausende Vögel pro Stunde (vö/h) durch, die zwischen Ostsee und Weißem Meer pendeln.
Erste Waldstücke wurden zwar schon 1921 geschützt, aber am meisten zu ihrem Schutz trug versehentlich die Militärstadt Irbene mit ihrem Sperrgebiet bei. Von Ventspils bis Mērsrags (also noch deutlich weiter als der Bereich des Nationalparks) durfte niemand ins Küstengebiet, außer er hatte eine Einladung von einem Bewohner und brachte sie zur Polizeiwache, um einen Besuch zu beantragen.

Im Nationalpark habe ich die Straße zweimal verlassen - das zweite Mal war definitiv ein Muss, das erste Mal, naja, war nicht ganz so definitiv ein Muss. In der neusten Bikeline-Auflage (schon überraschend, dass ein Reiseführer, der auch durch Russland geht, überhaupt noch neu aufgelegt wird) wurde als Alternative ein Bahntrassenradweg eingezeichnet. Der ist etwas näher an der Küste und gehört zu einem 30 Kilometer langen Rundweg durch den Nationalpark. Aber schon der Einstieg war unauffindbar: Wo sich laut analoger und digitaler Karte der Waldweg befinden sollte, war viel Wald, aber null Weg. Erst an der nächsten Dorfstraße konnte ich auf die Bahntrasse rüberwechseln. Wer hätte gedacht, dass ausgerechnet im Nationalpark mal eine Bahn fuhr?
Es gab sogar ein Fahrradschild.

Aber nicht sonderlich viel Fahrradweg. Stellen Sie sich das bitte nicht vor wie einen Bahnradweg in Deutschland - im Baltikum sind Bahntrassenwege nicht asphaltiert und eher schlechter als normale Radwege. Es war zwar keine Vollkatastrophe wie der Sandgrenzweg ab Šventoji, aber ein paar schlammige Stücke haben schon genervt. Immerhin war ich nah dran an der Natur - endlich mal keine Straße, die mit ihren Kiesstreifen und Wassergräben Abstand zu den Bäumen hält. Links und rechts schluckten schwarze Tümpel das spärliche Sonnenlicht. Nadelbäume und Birken tauchen diesen düsteren Sumpf in Schatten. Bei diesem Wetter war die Landschaft eher bedrückend als beglückend.

Zum Schluss muss die Trasse noch einen Bach überqueren. Keine Ahnung, wie die Bahn das damals gemacht hat, aber wahrscheinlich nicht mithilfe einer von der EU geförderten Holzbrücke, bei der zwei Bretter zerbrochen sind und eins in der Mitte fehlt. Aber gut, die Brücke ist auch von 2013, da entspricht das wohl der üblichen Halbwertzeit von Holzbrücken.
Ein kleines Schild sagt, die Brücke sei Teil der Förderung des Green Belt - und präsentiert ein Logo zum Grünen Band, das ich in ähnlicher Form sonst nur in der Gegend um Salzwedel gesehen habe. Wahrscheinlich war die Brücke für den Wanderweg am Grünen Band gedacht, denn der Hauptradweg verläuft immer noch nebenan auf der Straße.

Auf diese Straße bin ich dann auch zurückgekehrt. Die ehemalige Bahntrasse knickt hier ab und entfernt sich in völlig unbegehbarer Form von der Küste. Die Alternativroute geht zwar noch weiter, aber viel gezackter und unbahntrassiger. Nee, nee, mein Bedürfnis nach wilden Wege war vorerst gestillt.

Die Straße endete schließlich an einem Kreisverkehr. Ich wollte all seine Ausfahrten der Reihe nach erforschen.
Die linke Ausfahrt brachte mich zu einem Strandzugang mit einer kleinen Heidefläche und einem sehr hohen Aussichtsturm. Aber die Bäume wachsen so dicht und hoch, dass der Blick trotzdem nur bis zum nächstbesten Strandstück reichte. Das könnte einfach irgendeine Stelle an Lettlands Westküste sein. Warum es das eben nicht ist, lässt sich noch nicht erkennen.

Die mittlere Ausfahrt dagegen lässt gleich durchblicken, dass hier irgendwas Besonderes abgeht: Ein großer Parkplatz, ein Imbisshaus, eine Touristinfo und der erste lettische Lavazza-Kaffeeautomat außerhalb einer Großstadt. Natürlich noch alles geschlossen - bis auf den Automaten.
Ein windzerzauster Nadelwald wächst auf den Dünen. Ein Sandweg brachte mich zu einem steinernen Tor...

...und dann ein paar Stufen runter zum Strand. Aus dem Nebel schält sich ein Funkturm. (Lettland ist voll von Funktürmen, manchmal gleich zwei nebeneinander. Irgendwo muss das berühmte gute Internet ja herkommen.)
Es herrschte Stille, nur das Meer gab seine rhythmischen Geräusche von sich. Ich hatte den Touristen-Hotspot ganz und gar für mich und spazierte allein an die Spitze einer Nation. Das ist ein bisschen Nebel und Niesel ja wohl wert.
Die Höhe der Düne ist jetzt nicht gerade rekordverdächtig, aber es muss ja nicht immer eine Steilküste sein. Auch ein 1-Meter-Abgrund genügt anscheinend, um große Bäume zu Fall zu bringen. Außerdem ist dieser Ort sowieso für etwas anderes bekannt.

Und zwar für folgendes:
Der Strand bildet eine Spitze und knickt plötzlich nach Süden ab. Ein paar Meter draußen im Wasser ragt noch ein schiefer Haufen wellenbrechender Steine aus dem Meer. Wellen aus zwei Richtungen zogen heran, trafen zusammen und schwappten dann kreuz und quer durcheinander, völlig verwirrt, wo es denn jetzt hier weitergeht. Nach Süden geht es weiter, jedenfalls für mich! Denn das hier ist Kap Kolka.
Hier trifft die zentrale Ostsee auf die Rigaer Bucht (okay, aber ist ja beides irgendwie Ostsee), und die Spitze ist der nördlichste Punkt von Kurland (okay, also nicht mal von ganz Lettland). Die geographischen Rekorde klingen zwar nicht übermäßig beeindruckend, aber trotzdem ist das Kap sehr bekannt: Wenn man sich Lettlands Umriss auf einer Landkarte anguckt, ist das so ziemlich der auffälligste Punkt.
Eigentlich gehört an so eine Spitze ein Leuchtturm, ich habe aber keinen gesehen: Der alte soll eine Ruine sein, der neue versteckt sich irgendwo draußen im Nebel auf einer Insel.
Jetzt fahre ich also an der Rigaer Bucht, oder, wie eine Texttafel schreibt, an der Little Wave Sea statt der Big Wave Sea. So anders sieht die aber noch nicht aus, eher wie eine Same Height Wave Sea.

Die rechte Ausfahrt im Kreisverkehr brachte mich wieder auf den rechten Ostseeradweg, und erst einmal ins Dorf namens Kolka. Es hat gleich drei Kirchen. Die Protestanten haben wie üblich norddeutsch-bescheiden mit Feldsteinen und einem Rahmen aus Backstein gebaut.

Den Orthodoxen standen dieselben Materialien zur Verfügung, aber sie waren trotzdem bemüht, einen Hauch von Moskau darin anklingen zu lassen.

Die Katholiken aber haben, großer Plottwist, die bescheidenste Kirche der drei - einen Holzschuppen mit Türmchen im Wikingerlook!
Und auch ihre Geschichte zeugt von ungewöhnlichen Pragmatismus: In Kolka gab es eine katholische Gemeinde ohne Kirche, in einem anderen Dorf eine katholische Kirche ohne Gemeinde. Also genehmigte der Bischof, das komplette Bauwerk auseinanderzubauen und zu transportieren.

Vor 8000 Jahren stand das alles hier unter Wasser, die Ostseeküste lag 3 bis 7 Kilometer weiter drin im Land. Dann spülte das Meer langsam eine Insel aus Sand an, die einen Teil des Meeres abschnitt. Eine Lagune war geboren. Als nächstes sank der Meeresspiegel um 1,5 Meter, und die Lagune war wieder gestorben. Von ihr blieben nur ein paar kleine Angelseen und Naturschutzgebiete, und die lockten dann wiederum Menschen (hauptsächlich Angler) an. Die meisten Seen habe ich nicht besucht, nur der kleine Zēņu dīķis mit seinen Holzbrückchen lag ohne Umweg direkt zwischen Straße und Ostsee.

Auch eine anständige Steilküste gibt es noch, und zwar in Ēvaži. Bis auf einen Sandstreifen ist sie von Bäumen und farbenfrohen Moosen bewachsen, und ziemlich hoch. Die Rigaer Bucht sieht inzwischen doch anders aus, das Wasser wird ruhiger und transparenter. Joa, Little Wave Sea passt. Mit diesem schönen Ausblick verabschiedete ich mich aus dem Slītere-Nationalpark.

Mein Ziel war ein Campingplatz, dessen guter Ruf ihm ebenso vorauseilt wie mir mein Pannen-Ruf. Nicht nur ich hatte auf einem anderen Ostseeblog Gutes von ihm gehört, auch die anderen beiden Radfahrerinnen von heute Vormittag und sogar Störche. Auf dem Platz stehen jede Menge Holzhütten und sogar ein fünf Meter hoher Holzleuchtturm, der wohl allenfalls für Papierschiffe einen nützlichen Orientierungspunkt darstellt.
Etwas ernüchtert war ich dann aber doch, als ich hörte, dass die Saison eigentlich erst morgen startet und wir nur ausnahmsweise schon mal Zelte aufstellen dürfen. Auf der Website hatte es so ausgesehen, als würde der Platz den ganzen Winter hindurch laufen. Der geheizte Bar-Raum war noch zu, und die angeblich inkludierte Sauna nicht in Betrieb, es hätte 25 Euro gekostet, sie anzufeuern.

Dafür juckte es absolut niemanden, wo ich mein Zelt hinstelle. Na denn, dachte ich, und stellte es kurz vor den Strand, gleich neben die Bänke eines Bungalows. Und stellte dann überrascht fest, dass es erst 16 Uhr war. Wat mache ich jetzt mit dem Rest des Tages?
Tee. Viel Tee. Schließlich steht im halboffenen Kochhäuschen ein Wasserkocher. Eine warme Mahlzeit hatte ich mir schon am Kap Kolka gegönnt. Also verbrachte ich den Abend damit, beim Rauschen des Meeres Käseschnecken zu essen, Tee zu trinken und Hans Fallada zu lesen. (Als meine Familie fragte, wie es mir denn ginge, schickte ich einfach dieses Foto mitsamt meiner Abendplanung - die Probleme der letzten Tage gab ich nur stark verkürzt wieder.)
Die Nähe zum Wasser hatte aber auch einen Nachteil - es war kälter als bei den Nächten unter freiem Himmel. Trotzdem hat mir der entspannte Nachmittag anscheinend jede Menge Kraft gegeben für das, was ich am nächsten Tag schaffen sollte.

Von Labrags nach Ventspils

Das hier ist nun die Strecke, die mich der barmherzige Kammerjäger mitgenommen hat. Nachdem das Rad wieder intakt war, habe ich sie mit dem Fahrrad nachgeholt - ich kann ja nicht einfach 53 Kilometer überspringen. 53 Kilometer mal zwei ist eine ganz schöne Nummer, aber ich habe sie tatsächlich noch an einem Nachmittag geschafft. Man muss auf diesen 53 Kilometern nämlich nur ein einziges Mal abbiegen. Ansonsten immer dieselbe Asphaltstraße geradeaus. Es ist unfassbar, wie viel Zeit man dadurch spart. Mir war nicht klar, wie unglaublich viel Zeit ich auf Radtouren im schrecklich verwinkelten Deutschland eigentlich mit Abbiegen verschwende.

Lettische Leitpfosten sehen auf den ersten Blick aus wie bei uns. Auf den zweiten Blick bestehen sie nur aus einer dünnen, leicht gebogenen Plastik-Platte, wie die Attrappe eines Leitpfostens. Manche von ihnen bestehen nur noch aus verstreuten Plastiksplittern auf dem Boden, was mich etwas beunruhigte. (Besonders, nachdem ich auch noch in Ventspils Zeuge wurde, wie ein Autofahrer beim Einparken ein Verkehrsschild um 45 Grad verbog. Doch das ist selektive Wahrnehmung, die meisten Fahrer wirkten ganz vernünftig.)

Gehöfte stehen verstreut auf den Wiesen. Manche verkünden ihren Namen auf kreative Weise, auf einer alleinstehenden Haustür oder einem Findling. Wobei sich mir nicht ganz erschlossen hat, ob das nun der Name des Hofes, der Familie oder der Straße ist.


Es gibt an der Küste viele Orte, die mit Jur- beginnen, und meistens stechen sie positiv aus der Umgebung hervor. Das letzte Jur- (Jurmalciems) zum Beispiel mit seiner asphaltierten Dorfstraße. Inzwischen liegt die Messlatte etwas höher: Jurkalne hat einen Supermarkt. Den einzigen bis Ventspils, deshalb soll man hier unbedingt einkaufen, rät der Reiseführer. Ach was! Eine Flasche Limonade, dann ziehe ich durch.

Braune Schilder mit so einem verschnörkelten Symbol weisen am Straßenrand zu den Sehenswürdigkeiten - genau wie in Dänemark. Mal sind sie fünf Kilometer entfernt, mal nur einen halben. Oft blieb mir ein Rätsel, was genau sich hinter langen Namen wie Užavas elku liepa un elku strauts verbarg. Nur so viel hatte ich schnell begriffen: Baka heißt Leuchtturm und Pak heißt Klippe.
Auch Jurkalne hat eine Pak hinter dem Friedhof. Schlichter, steiler Sand fällt zur Ostsee ab. Und große weiße Buchstaben machen unmissverständlich klar, zu welchem Dorf diese Schönheit gehört. Damit man es auch direkt zuordnen kann, wenn ein Bild davon auf Instagram landet.

Und es gibt noch eine Stelle, an der ich zur Ostsee abgebogen bin. Die Steilküste ist dort zu einer geduckten Düne zusammengeschrumpft. Auf der steht ein metallenes Segel mit Löchern - ach so, das ist der Text. Es erinnert an eine Gruppe von Letten, die am Ende des Zweiten Weltkriegs den Sowjets davonsegeln wollten. Sie nahmen Kurs auf Gotland - die schwedische Insel war nur 150 Kilometer weg und zu der Zeit ein beliebtes Ziel für alle, die ein Fischerboot hatten. Auf Gotland regierte jedoch Horst Seehofer, und er befahl: "Abschieben, abschieben, abschieben." Die Gruppe, die an dieser Stelle gestartet war, musste zurück nach Lettland und wurden zu Hause sofort nach Sibirien deportiert.
Es ist die erste Stelle der Ostseeküste seit Kühlungsborn, an der wieder eine Fluchtgeschichte zu lesen ist.

Das einzige Abbiegen der Strecke brachte mich auf eine große Straße parallel zu Lettlands zweitlängstem Fluss, der Venta. Jetzt im Nachhinein sehe ich auf der Karte, dass sie offiziell gar keine höhere Kategorie hat als die Straße davor - aber mir kam sie ähnlich verkehrsreich vor wie die A11 vor drei Tagen. Und leider dauerte es noch ein Weilchen, bis sie der Stadt auch so nah kam, dass ein Radweg auftauchte.
Am Horizont (hinten links) erschien ein Berg, in Lettland stets eine Seltenheit. Daher war dieser Buckel vollkommen zugebaut mit Zeug, vor allem einer olympischen Bobbahn.

Anscheinend ist Ventspils (früher Windau) eine wichtige Stadt für den Bobsport. Aber der Schnee schmolz schon wieder weg - die olympischen Rodler haben es nicht bis zum Berg geschafft und ihre Bobs einfach mitten in der Innenstadt abgestellt.

Im ersten Fahrradladen, vor dem mich der Kammerjäger absetzte, war der Mechaniker noch in der Winterpause. Aber ich entdeckte schnell seinen Kollegen von VeloBode, der auf Google viele gute Bewertungen erleichterter Radtouristen gesammelt hat. Zuerst schätzte der Mechaniker die Arbeitszeit auf zwei Stunden, aber als er sich die Sache genauer ansah, meinte er, das würde doch bis morgen Mittag dauern. Außerdem sollte ich ab morgen fünf Gänge weniger haben, denn eine identische Ersatz-Gangschaltung fehlte.

So hatte ich auf jeden Fall genug Zeit, um Ventspils zu entdecken - und die eigenartigen Kreaturen, die seine Parks bevölkern.

Auch um Ventspils dreht der Ostseeradweg eine Parkschleife zwischen Stadt und Strand. In den weitläufigen Parks habe ich mich verlaufen und auf diese Weise einen lettischen Friedhof entdeckt. Viele kyrillische Buchstaben bedecken die Steine, und steinerne Rahmen unterteilen die Fläche in Rechtecke aus Sand. Nun, das passt auf jeden Fall zu diesem Sandland.

Am Freilichtmuseum hatte ich ein Deja-vu: Die Tür stand offen, aber dahinter war alles menschenleer, düster und abgeschaltet.
Es geht um das Bauern- und Fischerleben der Letten und Liven. Livland gehört heute teils zu Lettland, teils zu Estland. Das Volk der Liven hatte eine finno-ugrische Sprache und lieferte England das Holz, um zur globalen Seemacht aufzusteigen. Zur Belohnung starben sie fast aus. Nur in den Dörfern, an denen ich morgen Vormittag vorbeikommen werde, leben noch ein paar letzte Angehörige.

Immer geöffnet und kostenlos ist dagegen das Floß, auf dem ich mich an einer Kette über den überraschend langen Teich ziehen durfte. In Deutschland gibt es solche Dinger eigentlich nur in kostenpflichtigen Arealen (Hansapark, Blumeninsel Mainau, Minigolfplatz Föhr), in Ventspils dagegen darf jeder gratis und ohne Aufsicht ins eisige Wasser plumpsen.

Auch am Strand hat die Saison noch nicht angefangen, Fahrradständer, Gummireifen, Bänke, alles lag noch auf einem großen Haufen im Winterschlaf, und auch am Aussichtsturm erwartete mich eine Absperrkette.

Die Stadt ist besessen von Kühen, überall stehen irgendwelche rätselhaften Kuhstatuen in allen Farben. Gibt es hier etwa eine kuriose Legende über einen Typen, der auf einer Kuh geritten ist? Mal googeln... nee, das ist einfach eine Variante vom Berliner Bären: Lasse Künstler ganz viele Varianten desselben Tieres aufstellen. Ursprünglich stammt das Prinzip wohl aus Zürich und Chicago und heißt Cow Parade (obwohl in Zürich eigentlich Löwen aufgestellt wurden, sehr seltsam). Aber warum hat sich Ventspils für Kühe entschieden? Visitventspils.com antwortet sehr vage: Weil die Kuh für verschiedene Menschen auf der Welt unterschiedliche Dinge darstellt und alle zum Lächeln bringt.

Dann kam ich an der Venta und am Hafen heraus. Da stehen verschiedene Arten von Bojen herum, die den Spaziergängern etwas über verschiedene Arten von Bojen bojbringen. Die orange ganz vorn wiegt zum Beispiel 2200 Kilo und markiert den Anfang eines Hafens.

Die Kanonen der alten Burg zielen direkt auf die Kohlehaufen am Hafen gegenüber. Wären sie noch geladen, wäre das brandgefährlich.
Der Hafen von Ventspils ist das erste, was ich jemals von den baltischen Staaten (oder generell von der Ostseeküste östlich von Usedom) gesehen habe. Bei meiner ersten Lettlandreise sind die Fähren aus Lübeck-Travemünde nämlich noch nach Ventspils statt Liepaja gefahren. Die Stadt war für uns damals bloß eine Durchgangsstation: Fähre, Reisebus und nix wie weg. Deswegen hat es mich überrascht, was für eine liebenswerte Stadt doch direkt neben dem Fährterminal beginnt. Auch wenn sie offenbar noch schläft. Oder? Horch, klingt hier nicht irgendwo Musik? Hinter den Kanonen folgte ich dem Geräusch zu einem Eingangstor.

Es brachte mich runter in den Keller der Burg (hinten im Bild), wo ich richtig lecker gegessen habe. Die Burg gehörte dem Schwertbrüderorden aus Deutschland, der die Hansestadt Ventspils auch gegründet hat.
Die nächste Gasse heißt Nabagu iela und ist ein architektonisches Kuddelmuddel: Erst ein Holzhaus in schwedischem Rot, dann ein seltsames gelbes Haus mit weißen aufgemalten Fake-Fenstern und Fake-Steinen, dann ein geteertes Haus, so tiefschwarz, dass es alles Licht aufzusaugen schien, und schließlich noch eins in tschechischem Grau.

Aber eins haben sie alle gemeinsam: Sie sind niedrig. Die Altstadt von Ventspils ist viel geduckter als in Liepāja, und gerade deswegen irgendwie süß.
Ganz links im Bild beginnt eine Straße namens Lielā iela, lila ist sie leider nicht.

Auch die Marktstände auf dem Pulksteņa tornis ducken sich. An diesem Platz standen mal die Häuser der Reichen, das Rathaus, dessen Entscheidungen hier verkündet wurden, und ein Glockenturm. Zumindest für letzteren gibt es einen Nachfolger.

Als die volle Stunde schlug, bimmelte ein Glockenspiel eine melancholische Melodie nach der anderen und wollte gar nicht mehr aufhören. Dazu drehen sich die Zeiger einer kleinen astronomischen Uhr auf dem Holztürmchen.
Auf dem Platz wird schon seit Jahrhunderten gehandelt, aber damals noch mit ganz anderen, total exotischen Maßeinheiten wie pods (8 Kilo), pūrs (65 Liter) oder čarka (0,13 Liter). Auf den Tischen stehen verschiedene Würfel, Gefäße und Kürbisse, die an diese für Matheschüler sicher schwere Zeit erinnern und uns gemahnen, dankbar für das metrische System zu sein. Der steinerne Kürbis ganz rechts wiegt zum Beispiel 1 birkavs (160 Kilo).
Textaufgabe: Wie viele birkavs sind eine orange Boje?

So, nachdem ich also abends also alle Kilometer nachgeholt hatte, zeigte mir Ventspils auch noch seine moderne Seite: Hinter dem VIZIUM Science Center aus gelb leuchtenden Linien (hinten) überquerte ich eine ähnlich cool beleuchtete Brücke in den Nordteil der Stadt.

Aber diesmal war ich der Abenteuer und der Kälte überdrüssig. Ich hatte mir auf Booking ein Zimmer mitten in den Wohnblocks der Nordstadt gebucht. Wo ist denn nur die richtige Hausnummer? Ach so, in zweiter Reihe hinter den großen Blocks! Der kleine versteckte Kasten ließ durch nichts ahnen, dass sich darin eine Viesnīca verbarg - heißt das Dorf? Nee, es muss wohl so viel wie Hotel bedeuten. Als ich klingelte, wirkte die Dame an der Tür erstmal weitgehend ratlos, was ich hier wollen könnte - aber bei dem Wort Viesnīca hellte sich ihr Gesicht auf - ach ja, richtig, sie vermietete ja Zimmer. Zimmer aus den 50er Jahren - Zeit für die nächste Zeitreise! Ist ja auch völlig in Ordnung, wenn es so warm und gemütlich ist. Nur die Kommunikation war schwierig, denn meine Frage nach dem bathroom brachte Ratlosigkeit. Lediglich das Wort toilet ist universal verständlich.
Puh. Schließlich saß ich allein im Zimmer und ließ mich aufs Bett fallen, woraufhin das Bett zur Abwechslung mal nicht zusammenbrach. Da entdeckte ich etwas hinter dem Vorhang. Steht hier etwa eine ausgestopfte Katze? Nein, sie lebte, und irgendwann bewegte sie sich sogar. Unter mein Bett zum Beispiel. Und irgendwann dann doch aus dem Zimmer.

Freitag, 26. April 2024

Von Pāvilosta nach Labrags

So hatte ich mir die Frühlingsreise nicht vorgestellt. Keine Frühblüher guckten aus dem Schnee, sondern nur komische schlanke Pilze. Es fiel nichts mehr vom Himmel, aber das Land war weitgehend weiß.

Heute bin ich wieder auf eine verkehrsreiche Straße abgebogen - aber zum Glück nicht die A11, sondern eine Nummer kleiner. Bisher das Beste, was es im ländlichen Lettland für Radfahrer gibt.
Auch die Ostsee guckt hin und wieder als blauer Streifen hinter der Wiese hervor (links). Sie zu besuchen, ist aber nicht so einfach. Die Feldwege dorthin sind praktisch alle Privātīpašums, ein Wort, das die Letten oft und gern verwenden. Zum Glück ist privat eines der wenigen Worte im Lettischen, die ich auf Anhieb verstehe. Ansonsten hätte ich die unauffälligen, unverständlichen Schilder einfach ignoriert.
Die Sprache ist für mich die bisher Rätselhafteste an der Ostsee, ganz zufällig ploppen bekannte slawische, skandinavische oder deutsche Wörter aus einem Meer gänzlich unbekannter Vokabeln, welche möglicherweise aus dem Finnischen herunterflossen sind. Nur eine Regel ist absolut klar: Hänges ans möglichsts jedes Worts eins S drans!


Aber ich hatte gerade auch komplett andere Probleme, als Lettisch zu lernen. Mein Fahrrad nämlich. Ich hatte gehofft, dass es noch die 69 Kilometer bis zur Werkstatt in Ventspils durchhält. 16 Kilometer später schmolz diese Hoffnung schneller dahin als der Schnee. Inzwischen rieb sich das Rad nicht nur an seinen Bremsen, sondern auch an allen möglichen Stangen. Ploing. Eine weitere Speiche gab den Geist auf. Ich fühlte mich wie auf einem unartigen Esel, Spaß machte das Fahren schon seit einer Weile nicht mehr, und mein Tempo näherte sich dem einer treibenden Schneeflocke an.
Es half nichts, das hatte so keinen Sinn mehr. Da vorn war eine Bushaltestelle, vielleicht kam ja gleich ein Bus. Labrags heißt das Dorf, so so. Und um 13 Uhr, in wenigen Minuten also, kommt ein Bus, wunderbar. (Vor allem, weil der nächste erst um 20 Uhr gekommen wäre.) Ich stellte mich neben eine Labragserin an die Haltestelle.
Dann kam der Bus, und ich erkannte meinen Fehler. Dieses Fahrzeug war kaum größer als ein Familienauto, eher wie diese kleinen Schulbusse auf dem Land. Ich fragte trotzdem, ob das Fahrrad hineinpassen könnte, aber der Fahrer schüttelte nur den Kopf. Als er davonfuhr, erkannte ich hinten die Tür eines Kofferraums - in diese Zelle werden laut dem aufgeklebten Symbol offenbar Rollstuhlfahrer eingesperrt. Aber mein Rad konnte, wollte oder durfte er dort nicht hineinstopfen.

Labrags besteht aus völlig verstreuten Gehöften und insgesamt drei Flüssen. Einer davon hat eine ganz schöne Holzbrücke, unter der das Wasser hindurchrauscht. Das war so ungefähr die einzige Sehenswürdigkeit auf dieser Etappe, und ich habe sie auch nicht so richtig genossen, während ich fluchend vorbeikroch.

Nach ein paar Metern musste ich absteigen, dieses Rad ließ sich nur noch schieben. Ich stellte das Rad auf den Kiesstreifen zwischen Straße und Straßengraben und versuchte ein weiteres Mal, es irgendwie notdürftig zu flicken, die Bremsen auszuhaken und so aus dem Weg zu schaffen, damit das Rad nicht dagegenkam, aber so hatte es nur noch mehr Spielraum, um gegen andere Teile zu schleifen. (Ich weiß immer noch nicht, was ursprünglich schiefgelaufen ist, in Deutschland fuhr das Rad noch super. Vielleicht haben ich und die deutsche Werkstatt übersehen, dass ein paar Speichen locker saßen, und daraus wurde dann eine Kaskade der Kaputtheit.)
Und dann passierte etwas, das weder ich noch voll ausgebildete Fahrradmechaniker bis dahin für möglich gehalten hatten. Eine Panne so groß und umfassend, dass ein Mechaniker darüber die Hände über dem Kopf zusammenschlagen sollte - und einfach nicht glauben wollte, wie sich ein funktionierendes Fahrrad so schnell in so etwas verwandeln kann.
Die Gangschaltung geriet in die Kette. Eine unvorstellbare Kettenreaktion entstand: Noch bevor ich das Schieben einstellen konnte, zog die Kette das ganze mechanische Gekröse in den Abgrund und riss an allen möglichen Kabeln. Knack! Das Gangschaltungsteil am Lenker zerbrach. Knack! Das Licht brach ab. (Was zur Hölle?) Knirsch! Mein Hinterrad sah aus, als hätte jemand einen Roboter geschlachtet.

Jetzt hatte ich wirklich ein Problem, denn in dem Zustand ließ sich das Rad nicht einmal schieben. Ich saß in Labrags fest. Musste ich hier etwa im Wald auf der Schneedecke zelten?
Nein, ich musste irgendwie nach Ventspils kommen. Ich googelte mit dem tadellosen mobilen Internet und entdeckte zwei Taxiunternehmen in Ventspils. Das erste rief ich an. Sie sprachen so gut wie kein Englisch, und als ich das zweite Mal das Wort "bicycle" erwähnte, legten sie einfach auf. Uff.
Regelmäßig fuhren Autos vorbei, und einige sahen durchaus aus, als würde ein Rad hintenrein oder hintendrauf passen. Aber niemand bot Hilfe an. Wirkte ich bei meinen Reparaturversuchen etwa so, als hätte ich die Situation unter Kontrolle? Nee, oder? Dann waren sie wohl einfach nicht hilfsbereit. Aber vielleicht sollte ich doch eindeutiger signalisieren, dass ich die Situation nicht unter Kontrolle habe.
Mit dem Gedanken Das klappt doch eh nicht hockte ich mich vor meinen Schrotthaufen und starrte resigniert zu Boden.
Quietsch. Augenblicklich hielt ein Wagen an. Auf seine Außenseite waren irgendwelche Mäuse und Ratten geklebt. Der mutmaßliche Kammerjäger stieg aus. Er sprach kein Wort Englisch, wir kommunizierten ausschließlich durch Handgesten und Ortsnamen.
"Ventspils?" Er zeigte in die entsprechende Richtung.
"Yes, Ventspils."
Ohne Umschweife klappte er seinen Kofferraum auf, der vollgestopft war mit einem Gewühl aus Leitern, Eimern und Werkzeug. Beim Versuch, das Rad auf diesen Haufen zu legen, brach auch noch ein Schutzblech ab. Dann brauste er los.

Für eine entspannte Reise gibt es kein besseres Gepäck (außer vielleicht ein intaktes Rad) als den Glauben an das Gute in den meisten Menschen. Das Beste: Wer den vergessen hat einzupacken, findet ihn auch unterwegs.

Mittwoch, 24. April 2024

Von Liepāja nach Pāvilosta

Hier im Norden Liepājas liegt noch ein ganz wichtiger Vorort, der im Prinzip die ganze Stadt veränderte: Karosta. Er ist ein Relikt eines Kalten Kriegs - aber nicht des Kalten Krieges USA gegen Sowjets, sondern von dem davor. Um 1900 war Bismarcks Friedenspolitik schon zerbröselt und die zukünftigen Gegner des Ersten Weltkriegs rüsteten um die Wette, darunter auch Zar Alexander III., der sich vom deutschen Kaiser Wilhelm II. bedroht fühlte, obwohl Wilhelm ein I weniger hinter seinem Namen hatte.
Das Zarenreich hatte sich schon 200 Jahre vorher im Großen Nordischen Krieg große Teile Lettlands gegönnt, und das brachte einen großen Vorteil: Einen sicheren und eisfreien Hafen. (In den historischen Texten auf dieser Reise kommt das Wort eisfrei extrem oft vor, was im Prinzip schon alles über die russischen Winter sagt, was man wissen muss.) Alexander gründete Kara Osta und machte es zum Standort seiner Kriegsflotte. Mit schweren Folgen für Liepāja: Die Stadt war nun abgeriegelt und nur mit Genehmigung zugänglich, sie hatte ein neues Stadtviertel voller russischer Militärs, inklusive drehbarer Klappbrücke, prächtiger orthodoxer Kathedrale, Villen für die Admiräle und einem Schloss für den Zaren, das er insgesamt einmal benutzte. Ach ja, und dem ganzen Militärkram natürlich auch noch. Die Kommunisten machten damit im Großen und Ganzen weiter und stationierten auch noch Atom-U-Boote.

Für Schiffe und U-Boote gab es einen extra Kanal. Damit ist doch nicht dieses kleine Flüsschen gemeint, oder? Tja, auf jeden Fall stehen an seinem Ufer Bunker. Jede Menge Bunker. Noch einer und noch einer und noch einer, eine endlose Kette ragt aus den Hügeln. Erst einmal sahen die noch recht normal aus, nur die Masse war außergewöhnlich.
Aber dann mündet der Kanal ins Meer, und die Bunkerkette trifft auf die Ostsee. Und zwar wortwörtlich. Was die Northern Forts zum wahrscheinlich eindrucksvollsten Lost Place des Baltikums macht.

Der Wind hatte aufgefrischt, Wellen klatschten gegen die Küste und die Überreste der Zarengrenze. 1908 änderte das Zarenreich seine Verteidigungsstrategie, und den Bunkern wurde ihr wichtiger Status entzogen. Als der frühe Kalte Krieg dann tatsächlich in den Ersten Weltkrieg überging, ließ Russland die Anlagen sprengen und die Klippen runterstürzen, damit sie nicht Deutschland in die Hände fallen. Es ist eigentlich nicht zu fassen, dass irgendetwas diese gewaltigen Betonwürfel zertrümmern kann - aber der Zar und die Ostsee kriegen das gemeinsam hin!


Zumindest so halb. Es stehen immer noch jede Menge halbe und ganze Bunker auf der Steilküste herum. Ich konnte über ihre Dächer wandern, zwischen ihnen auf einem Rastplatz frühstücken, sie betreten und nach draußen blicken. Aber nur kurz, denn wirklich sicher ist das nicht.

Brocken, Mauerbögen und Treppen ragen chaotisch aus den wilden Wellen. Es war ein völlig surrealer Anblick und erinnerte mich an den Limbus aus dem Film Inception. Solch eine Faszination übt sonst keine Ruine auf dem Eisernen Vorhang aus.

Tatsächlich stand Liepāja dann am 4. November 1919 wirklich im Zentrum des Kampfgeschehens, aber komplett anders, als sich der Zar das vorgestellt hatte: Die Lettische Republik verteidigte Liepāja gegen Deutsche und Russen. Also genau genommen die monarchistische Weiße Armee im russischen Bürgerkrieg, die sich mit Deutschland zusammengetan hatte. Die Letten hatten ein Jahr zuvor ihre eigene Republik ausgerufen. Eine Republik, die aber im Osten von Sowjets und im Westen von Deutschen besetzt war.
99 unausgebildete lettische Soldaten mussten Liepāja gegen fünfmal so viele Gegner verteidigen. Und zu allem Überfluss hatten die Deutschen sie auch eiskalt überrascht. Trotzdem kriegten die das hin. Die Infotafel erklärt es mit dem Heroismus der Letten. Da ist sicher was dran, aber die stark ausgebauten Verteidigungsanlagen der Stadt dürften auch eine Rolle gespielt haben.

Aber genug vom Krieg, wenden wir uns nun etwas anderem... oh, jetzt kommt ein Holocaustmahnmal.
Feldsteinmauern strecken sich wie ein kleines Labyrinth in die Ostseedünen von Škede hinein. Sie bilden einen siebenarmigen Menora-Leuchter.
Das Mahnmal erinnert auch an nichtjüdische Letten, die in dieser Zeit Juden geholfen haben - 26 Menschen aus Liepāja erhielten dafür den Ehrentitel Gerechte unter den Völkern, ziemlich viele für eine Stadt. Und es erinnert, allerdings mit deutlich weniger Worten, an andere Letten, die beim Morden mitgemacht haben.
Wurden denn direkt an diesem Strand Menschen ermordet? Ja, erschossen im Dezember 1941. Und wie viele, bestimmt mehrere hunder... 2750?!
Die Ostsee rauscht immer wütender gegen die Dünen, als könnte sie sich noch genau daran erinnern.

Der Umweg zu diesen beiden Orten hat mich viel Zeit gekostet, aber ich bereue nichts.
Diese Strecke bestand wieder aus Dorfpisten, aber etwas bessere als gestern. Mehr zu schaffen machten mir heute mein Rad und das eklige Wetter. Mein Hinterrad hatte so seltsam zu eiern begonnen. An den Bunkern hatte ich versucht, es geradezurichten, aber womöglich hatte ich es irgendwie schlimmer gemacht.
Kalter Wind peitschte mir entgegen.

In Ziemupe versteckte ich mich unter einer Schutzhütte am Gutshof. Wenn das Dorf mit seinem "Reichtum" prahlt, meint es damit aber nicht die historischen Gebäude oder die Landwirtschaft, sondern die seltenen Pflanzen am Strand, Naturschutzgebiete, Lettlands drittgrößte Linde und mysteriöse "Steinstapelungen".
Aber es half nichts, ich musste weiter. Ich verdrückte eine Tafel Schokolade und setzte die Reise fort.

Diese Küste ist gesäumt von Leuchttürmen, die unterschiedlich lange Umwege erfordern. Der erste steht in Akmeņraga und erinnert an ein Ofenrohr in abblätterndem Rostrot. Leider haben die Leuchttürme, wie überhaupt ganz viele Sehenswürdigkeiten Lettlands, Montag und Dienstag Ruhetag. Und heute war, mal sehen, Montag. Leider konnte ich keinen einzigen lettischen Leuchtturm betreten.

Ich hatte die meiste Zeit auf dieser Reise Gegenwind, und heute, am dritten Tag, hatte ich mich schon dran gewöhnt.
Bis mir der Wind Regentropfen ins Gesicht klatschte. Das war nicht sehr angenehm. Aber naja, was soll's, dachte ich, es ist ja nur Regen.
Bis aus dem Regen Schnee wurde. Ach du meine Güte. Andererseits: Sind Schneeflocken nicht sogar angenehmer als Regentropfen? Hauptsache, das Zeug bleibt nicht liegen, sagte ich mir.
Bis die ersten Flocken liegenblieben.
Ah, gleich bin ich im Wald. Da ist es bestimmt windgeschützter.
Nee, war es nicht. Die lettischen Waldpisten sehen ziemlich genauso aus wie die Dorfpisten. Eine breite Schneise wurde ins Gehölz geschlagen, links und rechts fließt ein Straßengraben. Eigentlich ist das super, um schnell, ohne unnötige Kurven und holprige Wurzeln voranzukommen. Aber in dem Moment, mit meiner vorgefertigten Vorstellung Wald=weniger Wind, eine echte Enttäuschung. Allmählich wurde jeder Meter zum Kraftakt, und sehnte mich nur noch danach, in der nächsten Stadt anzukommen.

Gefühlt war es Abend, tatsächlich war es erst Mittag, als ich über eine Brücke fuhr und endlich in Pāvilosta ankam. Inzwischen brüllte der Wind vom Meer her und presste wilde Wellen in den Fluss hinein.
Pāvilosta hieß zur Zeit des Deutschen Ordens noch Paulshafen und soll einen sowjetischen Grenzturm, einen NATO-Wachturm und einen touristischen Aussichtsturm haben. Aber ich hielt es nicht lange genug am Meer aus, um herauszufinden, welcher davon der Turm da drüben war.

Schnell irgendwo rein! Da ist das Heimatmuseum, ist das offen? Ich griff nach der Tür und wurde mit widersprüchlichen Eindrücken konfrontiert.

Einerseits ließ sich die Tür öffnen, andererseits war dahinter alles still, düster und menschenleer. Die Dame jedoch, die verwirrt die Treppe heruntertapste und "Closed" murmelte, sprach eine eindeutige Sprache.

Aber es muss hier doch ein Restaurant geben? Und eine Fahrradwerkstatt bräuchte ich auch. Zum Glück konnte ich alles schnell auf Google Maps nachsehen: Der berühmte Mobilfunkempfang der baltischen Staaten ist wirklich super, wenn man schnell mal nachsehen will, was es im eigenen Umkreis gerade alles nicht gibt. Kein Restaurant, keine Fahrradwerkstatt, kein offenes Museum. Selbst die Hängebrücke über den Fluss war gesperrt, bei dem Wetter vielleicht auch besser so.
Nur auf zwei Sachen kann man sich verlassen, die in fast jedem Nest vorhanden sind: Ein Supermarkt und ein überraschend günstiges Zimmer auf booking.com. In ersterem habe ich mich aufgewärmt und die Taschen aufgefüllt, und letzteres hat mich an dem Tag verdammt nochmal gerettet. Inzwischen war das Wetter zu einem waschechten Schneesturm angewachsen. Erst nachdem ich das Zimmer gebucht hatte, stellte ich fest, dass ich mich noch einmal quer durchs Dorf und durch eben diesen Sturm kämpfen musste.

Am äußersten Ende von Pāvilosta steht ein Haus voller Zimmer für 30 Euro - ein Grund dafür ist offenbar ein Festival, das hier jedes Jahr stattfindet. Natürlich war kein Schwein da, das lief alles über einen Code, mit dem ich eine Box öffnen musste, die den Schlüssel enthielt. Mit Eisfingern versuchte ich den einzutippen. Aus irgendeinem Grund läuft das bei mir immer so: Ist so was elektrisch, klappt es tadellos, aber ist es mechanisch, gibt's Probleme. Nach einer halben Stunde hatte ich die richtige Tür und die SMS mit dem richtigen Code, trat ins Zimmer und ließ mich aufs Bett fallen.
Woraufhin das Bett zusammenbrach.

Lettische Möbel erfordern eine gewisse Vorsicht. (Als ich mich zum Beispiel in einer anderen Unterkunft auf dem Klo leicht nach rechts neigte, da neigte sich das Klo mit.) Aber dieses Zimmer hatte zum Glück noch ein zweites Bett, das mit ausreichend Behutsamkeit bis zum nächsten Morgen überlebte. 15 Uhr war es erst, und es gibt sogar WLAN, dann kann ich ja mal das Video angucken, das mir jemand auf Whatsapp geschickt ha...
Das Handy rutschte aus meiner Hand und fiel auf meinen Bauch.
Als ich wieder erwachte, war es schon um neun, und die Landschaft, das Piratenschiff draußen im Teich und mein Fahrrad waren unter einen weißen Decke verborgen. Ich auch, nur war meine Decke warm.