NEU: Die andere Strecke durch Dänemark - mit opportunistischer Mikro-Insel

Alsternative: Von Flensburg nach Svendborg

Montag, 6. Mai 2024

Von Suuremõisa nach Peraküla

Die ersten Sonnenstrahlen des Tages wandern von Osten her über eine kleine Republik im Nordosten Europas, sie überqueren den Moonsund und treffen auf eine Insel, die aussieht wie ein Kreuz. Als erstes berührten sie das östliche Ende des Kreuzes, beleuchten ein Schiff, einen modernen Fährhafen und ein eigenartiges Bauwerk aus Grau und Glas, in dem sich Fahrräder unterstellen lassen. Und einen Radfahrer.

Und ihr Licht trifft auf keinerlei Widerstand. Die Wolken haben kampflos aufgegeben und den Himmel komplett freigemacht. Ungestört strahlt sie über den Sund und eine winzige Insel mit Leuchtturm neben der Fährstrecke. Als der Schneesturm letzte Woche vorbei war, dachte ich mir: Dafür muss jetzt aber zum Ausgleich die zweite Woche komplett Sommer sein. Das Universum hatte diese Forderung nach ausgleichender Gerechtigkeit gehört und dachte sich: OK, geht klar.

Die Fähre gehört demselben Betreiber wie die erste in Virtsu. Allerdings braucht sie ein gutes Stück länger - sie fährt etwa alle zwei Stunden und auch etwa zwei Stunden lang. Heißt: Man kann sein warmes Styropor zumindest ohne Eile essen. Und dann ist immer noch Zeit, um die Sonne auf dem Außendeck zu genießen.
So erreichte ich den Hafen von Rohuküla, wo übrigens auch Fähren nach Vormsi (die viertgrößte Moonsund-Insel) ablegen.

Nach drei Tagen stand ich erneut auf dem Festland. Und das Festland gab sich direkt Mühe und startete am Hafen den besten Bahnradweg des Baltikums.

Kein Wunder, dass hier viele Radler und Spaziergänger aus der nahen Stadt unterwegs waren. Es ist zwar wie üblich (außer in Emmaste) ein Kiesweg, aber ein sehr guter, der richtig viele Überbleibsel der historischen Bahnstrecke enthält. Also, hier noch nicht, aber bald. 
Die Wälder und Wiesen machen einen nassen Eindruck, dementsprechend zieht sich oft ein Entwässerungsgraben auf beiden Seiten der Bahnstrecke entlang.

Ich würde ja gern ein paar interessante Fakten über diese Bahntrasse preisgeben, aber...

Fest steht nur, sie sollte offensichtlich eine Verbindung zur Fähre darstellen, wegen des Dörfchens Rokuküla am Hafen werden die sich wohl kaum die Mühe gemacht haben.
Nach ein paar Kilometern kam ich an ein paar rostigen runden Blechschuppen vorbei, überquerte eine Brücke und fuhr in den Bahnhof von Haapsalu ein. Da liegen ja noch richtige Schienen mit Zügen drauf!

Lokomotiven und Wagen mit Namen wie Auruvedur TE-3368 Eestis stehen auf den drei Gleisen herum. Dahinter beginnt der längste überdachte Bahnsteig Estlands. 216 Meter graue Platten bröckeln vor sich hin.

Aber das bunte Dach und das Gebäude deuten noch auf die vergangene Pracht hin. In Haapsalu machten nämliche die russischen Adligen gern Urlaub. Der Bahnhof wurde extra für Besuche der Zarenfamilie gebaut, und der Bahnsteig misst genau 216 Meter, weil das die Länge vom Privatzug des Zaren war.
Tja. Und jetzt findet sich im Gebäude nur noch das Radteemuuseum (Eisenbahnmuseum), aber keine Eisenbahn fährt mehr. Das ist schon echt traurig, denn Haapsalu ist nun wirklich keine kleine Stadt (immerhin Platz 15 in Estland)!

Der Bahnhof ist der Knotenpunkt von gleich drei Bahnradwegen. Den ersten zum Hafen kenne ich schon. Der zweite folgt einem Gleis, das bald komplett vom Gras überwachsen ist, zurück zum Wasser auf einen schönen Uferweg und in die Innenstadt.

Happsalu liegt ziemlich geschützt in einem großen Fjord voller Schilf. Dennoch war die Ostsee gerade dabei, eine der städtischen Badeinseln zu verschlucken.

So, wie sieht denn nun die eigentliche Stadt aus? Niedrig, niedlich, mit viel bemaltem Holz und einer Burg - quasi ein Kuressaare auf dem Festland.
Auf dem Schwedischen Markt steht eine Statue namens Junge mit Fisch. Dreimal dürfen Sie raten, was hier gehandelt wurde und woher die Fischer ursprünglich stammten.
Weitere Exportgüter der Stadt: Schals und die Illustrationen der Astrid-Lindgren-Romane.

Es war an der Zeit, Lebensmittel für das letzte Wegstück einzukaufen. Während in Lettland irgendwelche Super2000Wasweißich-Supermarktketten dominierten, die ich nicht kannte, befindet sich ganz Estland fest in der Hand von Coop. Selbstbedienungskassen gehören in diesem digitalen Land selbstverständlich zum Standard. Einige Coops waren noch einen Schritt weiter und hatten diese kleinen Handscanner, mit denen man die Sachen direkt scannt, wenn man sie in den Einkaufswagen legt.
Der Coop in der Altstadt von Haapsalu hat einfach mal so für den Kontrast eine uralte Registrierkasse als Deko danebengestellt.

Auch relativ zentral befindet sich dieser Friedhof, auf dem offenbar Strafgefangene bestattet wurden.

Die ganze Stadt gruppiert sich um eine enorme Riesenmauer: Die Bischofsburg. Na, dann mal rein da!

Im äußeren Ring durfte ich wie so oft eine Plattform auf den Außenmauern besteigen und frei herumfahren.
Das hatten auch die Sportlehrer von Haapsalu mitbekommen. Einer hatte seine Klasse mitgebracht und ließ sie an diesem klaren Morgen zwischen den uralten Mauern herumrennen. Ich gewährte ihnen Vorfahrt, denn ich hatte ja Zeit. Das Burgmuseum sollte in einer knappen Stunde öffnen - das geht ja noch, so lange kann ich auch mal warten.
Haapsalu ist eine aufsteigende Stadt. Das meine ich wortwörtlich: Seit die Gletscher verschwunden sind, hebt sich der Boden um einen Zentimeter pro Jahr. Heißt: Als Haapsalu 1279 das Stadtrecht bekam, stand es noch auf einer Insel und in strategisch günstiger Position.

Und genau deshalb errichteten die Fürstbischöfe von Ösel-Wiek hier ihre Burg. Sie regierten das Gebiet (inklusive Saaremaa), das die Ordensritter erobert hatten, wie einen Gottesstaat oder eine deutsch-katholische Kolonie. Zwar lebten sie so ziemlich am Rand der katholischen Welt, aber die Kleriker hatten ja überall in Europa von Rostock bis Bologna studiert und damals Networking betrieben, und mit diesen Connections wurden sie mächtige politische Spieler, die auf ihren Dienstreisen nach Rom auch im Rest Europas vorbeischauten. Ihre konkurrierende Nachbarkolonie, zu der sie eine sorgfältige Hassliebe pflegten, war der Livländische Orden.
Bischof Hermann von Buxhoeden gründete die Stadt Haapsalu und verlegte das Domkapitel, also im Prinzip die Hauptstadt, hierher. Sein Vorgänger hatte noch verlangt, dass die Domherren bescheiden und fromm im Kloster nach den Regeln des Heiligen Augustinus leben und den Großteil ihres Einkommens an die Kirche spenden. Hermann war eher eine Art FDP-Bischof und führte die lockeren Aachener Regeln ein: Die Domherren durften auf eigenen Gutshäusern leben und Kohle scheffeln. Er hoffte, mit diesen attraktiven Benefits zweit- und drittgeborene Söhne des Adels, die sonst nichts erben würden, als Fachkräfte anzuwerben.
Vor Eroberung mussten sie erstmal keine Angst haben. 1384 empfahlen die Ratsherren von Lübeck allen Kolonien dringend, die neu erfundenen Kanonen nicht an Fremde zu verkaufen. Was bei Atomwaffen nur wenige Jahre gehalten hat, klappte damals immerhin 100 Jahre. So lange konnten sich die Bischöfe mit ihrem Keller voll Schießpulver sicher fühlen.

Auf die halben Mauern der Burg wurden von außen moderne schwarze Kästen draufgebaut und von innen moderne Glasscheiben mit Landkarten und Bildern drauf getackert. Im Keller und Erdgeschoss dieses hybriden Bauwerks erstreckt sich ein modernes Museum. Es gibt am Eingang Kopfhörer, und dann soll man sich eine App als Audioguide runterladen. Erstaunlicherweise funktionierte das sogar alles.
Die App gibt es auch auf Deutsch, wobei eine automatische Stimme (KI?) vorgefasste Texte mit seltsamer Aussprache vorliest. Aber man kann sie ja auch auf der App nachlesen. 29 Räume oder Punkte mit je einem kleinen, handlichen Stück Text - das ist ja zum Glück noch überschaubar, ich dachte schon, ich bleibe hier womöglich den ganzen Tag hängen.
Die Stimme in der App sagt zum Beispiel "Hypokau-Stofen" statt "Hypokaust-Ofen". Das ist eine mittelalterliche Heizung, bei der die Wärme ein paar mehr Zwischenschritte durchläuft als normalerweise. Unter dem Mauerbogen brennt sechs Stunden lang ein Feuer und erhitzt die Steine darüber. Wenn die Steine schließlich Saunatemperatur haben, werden werden links und rechts Luftkanäle geöffnet und die warme Steinluft strömt durch die Burgmauern.
Trotzdem gab es auch offenes Feuer, also wurde Holz als Baumaterial möglichst überall gemieden. Kalksteine konnten aber nur im Winter über die gefrorene Ostsee rangeschafft werden, weil Haapsalu nun mal eine Insel war. Die Burgherren waren so zur Nachhaltigkeit gezwungen und nutzten beim Umbauen möglichst viele alte Steine.

Auch waren die Fürstbischöfe so fortschrittlich, dass ihr Klingelbeutel (unten rechts) in der Burgkirche selbstverständlich alle Arten von Kreditkarten akzeptiert.

Während die Domherren auf ihren Gutshäusern entspannten, galten für die Mönche auf der Burg weiter strenge Regeln. Nicht jedem gefiel dieses Leben in der Theokratie. Unzufrieden waren zum Beispiel ein junges Mädchen aus der Stadt und ein junger Mönch, der ganz und gar unmönchische Dinge für besagtes Mädchen empfand, die er unter Todesstrafe nicht empfinden durfte. Aber welche Chance hat die Furcht vor dem Tod gegen junge Hormone? Null. Er verkleidete sein Freundin als Jungen, sie bewarb sich im Kloster und sang bald darauf mit ihm im Chor. Bis die beiden irgendwann erwischt wurden.
Der Fürstbischof war so schockiert von diesem Gendergaga, dass er ihn im tiefsten Verlies verhungern ließ und sie lebendig einmauerte. Tagelang hallte ihr Klagen durch die Gänge. Und Sie haben es wahrscheinlich schon erraten: Angeblich ist hier Geist hier noch immer heimisch und demonstriert, dass das Verfallsdatum von Liebe manchmal länger dauert als das von Schmelzkäse. Selbst für ein Burggespenst ist es ein ungewöhnlich standortfixierter Geist, denn die Weiße Dame erscheint nur in einem ganz bestimmten Fenster.

Nur bei Vollmond im August (rein zufällig zum Festival Zeit der Weißen Dame) fällt das Licht in einem ganz bestimmten Winkel durch ein spitzes gotisches Fenster in einem runden Seitenraum der Kirche. Dann erscheint an der Wand die Gestalt einer runden (ja, so stand es auf dem Schild - Body-Positivity gibt es auch bei Gespenstern) weißen Frau.
Niemand weiß, ob das Zufall oder Spuk ist oder ob der Architekt da ein Easter Egg zu Ehren der Jungfrau Maria verbaut hat.
Bei Tageslicht im Mai sieht die Silhouette jedenfalls aus wie ein... Fenster.

Irgendwann endet alles, insbesondere Theokratien. Im Livländischen Krieg eroberten die Schweden das Land und machten aus der prunkvollen Bischofsresidenz eine nüchterne, wehrhafte Festung. Nach Kriegsende verkauften sie das Ergebnis an einen Grafen, der sie eigentlich wieder in Richtung prunkvoll umbauen wollte, aber nicht genug Geld hatte. Dann brach ein Feuer im Haus eines Gärtners aus und machte endgültig eine Ruine daraus.

Auch im kostenpflichtigen Museumsbereich gibt es noch Treppen auf die Wehrgänge, die Mauern rauf und runter und in Wendeltreppen durch die kleinen Türmchen. Na, da kann ich doch ganz oben gleich mal nachgucken, wie die restliche Strecke heute aussieht.

Zwei Tage Puffer hatte ich zu Beginn der Reise eingeplant. Zwei Tage Puffer habe ich an den Katastrophentagen zu Beginn verloren. Und zwei Tage Puffer habe ich inzwischen wieder aufgeholt - würde ich heute wieder 100 Kilometer am Tag fahren, wären es sogar drei. Deswegen habe ich mir heute in aller Ruhe die Burg angeschaut und bin danach nur 60 gefahren. (Wobei, dafür gibt es noch einen weiteren guten Grund, zu dem kommen wir noch.) Einen großen Teil davon verbrachte ich damit, den Fjord von Haapsalu (hinten im Bild) großräumig zu umfahren.

Erstmal kehrte ich zum Bahnhof zurück und nahm die einzige Bahntrasse, die ich noch nicht probiert hatte. Sie brachte mich hindurch zwischen alten Wagen, Bahnhofsgebäuden und Wasserpumpen - der Zarenbahnhof hatte echt ein großes Gebiet.

Und auch auf dem Rest der Strecke ragten hin und wieder alte Bahnsteigkanten aus dem Gras. Der Bahnradweg geht noch viel weiter zu anderen Städten im Binnenland - keine Sorge, bis irgendwo tatsächlich noch Züge fahren, dauert es noch.
Aber Ostseeradler müssen ihn nach acht Kilometern wieder verlassen.

Aber hey, sie bekommen ja trotzdem einen Radweg.
Der plötzlich an einer Kreuzung so endet, dass sie entweder Geisterfahrer werden oder das Rad über grasige Verkehrsinseln drüberheben müssen.
Oder der aus Dorfpistenmaterial besteht.

Puh, endlich konnte ich die Hauptstraße verlassen und auf die Nebenstraße.
Wo Elche rumlaufen.

Okay, Elche habe ich keine gesehen. Aber ein Kuh-Warnschild erwies sich als sehr wahr. Direkt vor mir versuchte eine Bäuerin, ihre entflohene schwarze Kuh wieder in Richtung Wiese zu lenken. Doch die Kuh fand die Straße und all die Dinge, die so plötzlich auf sie zurasten und abbremsten, offensichtlich spannender.

Auf einmal löste sich direkt vor mir ein Auto in einer Staubwolke auf. Entweder das, oder es ist auf eine Dorfpiste abgebogen.

Boah, ich muss den Staub aus der Lunge kriegen! Nichts wie ab ans Meer (hinten links) und in den Wald, wo die Luft besser ist!
Und die Wege sandiger. Seufz. Ich hätte die Bahntrasse nie verlassen sollen.
Diese Heidefläche wächst bei Dirhami, an der nordwestlichen Ecke des estnischen Festlands.

Auch hier lebten wieder mal die Estnischen Schweden a.k.a. Küstenschweden. In Spithami durften sie im Zarenreich wohnen bleiben und hauten erst 1944 nach Schweden ab. Die Grenztruppen schleiften ihre Häuser, aber in den 90ern bekamen sie die Grundstücke zurück, verkauften sie weiter oder bauten sich Ferien- und Wochenendhäuser drauf. Die Häuser sehen modern aus, die Wege dorthin sind es nicht. 

Aber dann, im tiefsten Wald und mitten im Naturschutzgebiet, erwartete mich eine vollkommene Überraschung. Auf einer kleinen Lichtung am Wegesrand stand dieser Aussichtsturm mit extraweitem Blick über einen Sumpf. Nein, das ist nicht die Überraschung, so was gab es ja schon hin und wieder.
Aber an seinem Fuß standen ein paar Bänke und eine Tafel. Mooment - dieses Symbol mit dem Zelt und der 4 daneben - ist das etwa ein Naturlagerplatz? Mal sehen, was auf der Texttafel darüber steht - ja, wirklich, hier kann man einfach gratis zelten. Ein aufrechtes kleines Naturschutzgebiet im Nordwesten hat beschlossen, sich von Dänemark inspirieren zu lassen. Zumindest von den Übernachtungsmöglichkeiten, nicht unbedingt von den Radwegen.

Bislang waren exakt 0 von 4 Zeltstellen besetzt. Na, wenn es das hier schon so etwas Seltenes gibt, dann sollte ich da ja wohl auch pennen, oder? Dann mache ich heute eben mal früh Feierabend. Wo genau bin ich überhaupt? Ich schaute auf den Plan vom Naturschutzgebiet und sah, dass es ein paar Kilometer weiter noch mehr Zeltstellen geben soll, direkt am Strand. Klingt noch besser!

Und was das für Zeltstellen waren. Das Areal ist gigantisch, so einen riesigen Naturlagerplatz habe ich noch nie gesehen. Hölzerne Zäune grenzen ein Rechteck nach dem anderen ab, und darin befinden sich immer wieder Plumpsklos, halboffene Rasthütten, verbunden durch Holzstege, Feuerstellen, Grills, Tische und Bänke, Bänke, Bänke... und dann der nächste Zaun, und alles geht von vorn los. Würde man diesen Naturlagerplatz in Stücke zerteilen und über ganz Estland verteilen, hätte das Land wahrscheinlich ein ähnlich dichtes Netz an Zeltstellen wie Dänemark.

Die letzte Reihe an Zeltstellen befindet sich nicht mehr im Wald, sondern in den Dünen. Weit entfernt grillte irgendwo eine Familie, ohne zu zelten. Ansonsten hatte ich die freie Auswahl. Obwohl es dort keine Hütten und Plumpsklos mehr gab, entschied ich mich für eine Dünenstelle. Das hat einfach mehr Stil, und der Sand ist auch weicher. Nur kühler war es natürlich.


In der Abenddämmerung ragte eine rätselhafte Ruine auf der Düne auf wie eine unbeantwortete Frage. Das demolierte Haus eines Estnischen Schweden?
Und noch ein Rätsel: Wo im Bild beginnt der Himmel und endet das Meer? Na?

Der Finnische Meerbusen sah ganz eigenartig aus. Als hätte er überhaupt keine Lust, ein Meer zu sein, und wäre viel lieber ein Himmel.
Winzige Wellen schwappten an den Strand. Mein Kochtopf musste noch ausgespült werden, und weil ich kein Wasser nachfüllen konnte und keine andere Möglichkeit hatte, probierte ich es hier. Das Wasser war so flach, dass ständig Sand mit hineingeriet. Wenn ich tieferes Wasser wollte, schwappte es schon auf meine Schuhe.

Sonntag, 5. Mai 2024

Von Emmaste nach Suuremõisa

Also dann, heute kommt die zweitgrößte Insel an die Reihe! Während Saaremaa auf der Karte einfach aussieht wie ein riesiger Mikrororganismus, hat Hiiumaa die Form eines Kreuzes. Und von dem will ich heute drei Viertel umrunden. Als erstes bin ich das südliche Ende des Kreuzes hochgefahren. Das ging, dem Wunder des Nicht-Abbiegens sei dank, total fix. Geradeaus, Wiese, sumpfiger Birkenwald, trockener Nadelwald, zack, fertig.


Als nächstes wollte ich einen Abstecher auf die Halbinsel Kõpu (das westliche Ende des Kreuzes) unternehmen. Nicht wegen der Strecke selbst, das ist immer noch eine Waldstraße mit ordentlich Abstand zum Wasser.

Wenn ich schon auf die Halbinsel fahre, will ich doch auch irgendwas von ihrer Küste sehen. An der Spitze surfen Surfer in den Hochseewellen, aber habe einfach mal an der Seite der Halbinsel nachgeschaut. Hin und wieder zweigte ein Feldweg von der Straße ab, aber immer privat. Es dauerte echt eine Weile, bis ich einen fand, wo normale Wanderer und Radler ausdrücklich erlaubt sind.

Und selbst da kam ich mir vor wie ein Eindringling, als sich der Weg in einen Waldpfad auflöste, der ganz dicht an einer Strandvilla vorbeistrich. Aber er brachte mich tatsächlich zu einer ziemlich wilden Steinernen Küste. Die nächste Strandvilla hält ordentlich Abstand, hat ein Reetdach und einen Badesteg.

Nun aber zurück zur Mitte der Halbinsel und zum eigentlichen Grund, warum ich hier bin. Dabei tauchten zum ersten Mal auf dieser Reise richtige Steigungen auf. Keine schlimmen, aber die Art Hügel, die in großen Mengen schon echt anstrengend werden können und von denen es in Finnland richtig viele geben soll. Nordestland bereitet mich da schon mal ganz, ganz allmählich drauf vor.

Es ist Zeit, dass ich endlich mal einen Leuchtturm des Baltikums besteige, und der von Kõpu ist etwas ganz Besonderes. Denn dieser weiße Riese (nicht das Waschpulver) ist alt. Es ist der drittälteste Leuchtturm auf diesem Planeten. Schon um 1490 wollte die Hanse hier einen haben, denn ein Riff namens Hiiu Madal hatte viele ihrer Schiffe aufgeschlitzt.
Erstmal wurde nur der untere Teil gebaut, und der leuchtete anfangs auch nicht, sondern war einfach durch seine Anwesenheit ein Wegweiser. Jedenfalls tagsüber. Er war auch noch nicht weiß, die Farbe kam erst 1805 dazu. (Also nicht unbedingt die aktuelle Farbe, die ist von 2012.) Der Turm brauchte diese vier komischen Dreiecke an der Seite, damit er überhaupt stand. Mit denen stand er dann aber richtig fest. So fest, dass ihm nicht mal 400 Jahre später deutsche Bomben etwas anhaben konnten - also Waffen, die zur Zeit seiner Erbauung so unmöglich klangen wie für uns das Zeitreisen.
Damit die Hanseefahrer auch nachts um Kõpu  segeln konnten, kletterten ab 1649 Feuerwächter außen an Leitern hoch, zogen mit Seilen Feuerholz herauf und warfen es in die Mitte, wo das große Feuer brannte.

Ab Mai ist der Turm geöffnet, also bin ich gerade zum rechten Zeitpunkt gekommen, oder? Ja, die Tür stand offen, doch statt einer Kasse verlangte da nur ein Drehkreuz mit erwartungsvollen Lasern einen Strichcode. Den ich nicht hatte. Erstmal musste ich noch in der Baustelle des Restaurants unten das Gebäude finden, in dem man die Karten kauft. Dann konnte ich in das... also, ein Treppenhaus kann man das nicht nennen. Eher einen Treppentunnel. Ich musste mich die ganze Zeit ducken, während ich mich auf diesem abenteuerlichen Aufstieg erst gerade und dann im Kreis durch die uralten weißen Mauern schraubte. Diese Treppen wurden nämlich erst nachträglich reingeschnitten. Treppensteigen damals war... anders. Aber immerhin angenehm kühl an heißen Sommertagen.

Dann kam ich in den neuen Etagen von 1810 an und konnte meinen Rücken wieder voll aufrichten. Hier gibt es richtige Holztreppen, Fenster und ein paar Infotafeln über Leuchttürme der Ostsee.

Obwohl er so alt war, war der Leuchtturm immer mal wieder für eine Innovation gut, zum Beispiel kriegte er eine Gas-Petroleum-Lampe von der Weltausstellung 1900 in Paris. Seit 1946 leuchtet er elektrisch mit Batterie und Generator, seit 1963 direkt aus der Stromleitung und seit 1996 vollautomatisch.
Als ich dann ganz oben rauskam, wurde der Turm wieder ungewöhnlich. Ganz nach oben zum Licht konnte ich nicht, auch wenn ich es schon von unten sehen konnte. Stattdessen wurde ich als Tourist auf ein breites, schwarzes Rechteck aus Blech geschickt, das in der Sonne rasch wärmer wurde und auf dem mich der Wind fast umwarf. Wäre da kein Geländer, hätte ich gedacht, ich sei einfach aus Versehen und verbotenerweise auf dem Dach gelandet.

Der Turm ist 36 Meter hoch, aber diese 36 Meter beginnen ja schon auf einem Hügel. Das macht insgesamt 102 Meter über dem Meeresspiegel, sodass ich in drei verschiedenen Himmelsrichtungen besagten Meeresspiegel sehen konnte, obwohl er viele Kilometer entfernt war.
Zwei Funktürme leisten dem Leuchtturm inzwischen Gesellschaft, und eine kleine Insel an Gebäuden. Ansonsten: Ein grünes Meer, das in einer schnurgeraden Linie vom blauen Meer abgelöst wird. Ein bisschen wie auf dem polnischen Leuchtturm von Stiło.

Wenn ich schon mal da bin, kann ich ja auch ein bisschen mehr von Kõpu  ansehen. Aber erstmal Essen! Mit den Fertiggerichten war ich erstmal fertig, heute nahm ich mir etwas mehr Zeit und schnippelte Gemüse.

Dann nahm ich mir noch mehr Zeit und stieg die Treppe hinauf ins Naturschutzgebiet. Hier verbargen sich nämlich zwei Hügel mit hölzernen Aussichtstürmen, der Rebastemägi (Fuchshügel) und Kaplimägli (Kapellenhügel).
Vor 10 000 Jahren schmolz hier ein Gletschersee, und zum Vorschein kam eine einsame Insel - damals war Kõpu noch nicht mit dem Rest Hiiumaas verbunden, und das Wasser war viel näher. Der scharfe Wind türmte über Jahrtausende erstaunliche Dünen auf.
Auf dem Kaplimägi soll mal eine Kirche gestanden haben. Angeblich war der Vikar so dick, dass er auf dem Weg zum Gottesdienst ordentlich ins Keuchen kam, und deswegen brannte sie der nicht ganz so gottesfürchtige Diener Gottes eines Tages frustriert nieder. Der Hügel soll auch als Standort für den Leuchtturm diskutiert worden sein, wovon eine erste Mauer (die ich aber nicht gesehen habe) zeugt.

Es soll hier mal eine Festung gegeben haben, von der nach feindlichen Schiffen gespäht wurde. Hm.  Muss eine echt große Festung gewesen sein. Die Bäume überragen die beiden Aussichtsplattformen um Längen, sodass nicht sonderlich viel Aussicht da ist.

Nein, das echte Highlight ist der Wald selbst, mit dessen Holz St. Petersburg zusammengezimmert wurde. Es ist natürlich längst alles nachgewachsen und geschützt. Und so schön, dass ich spontan den ganzen Foxhill Study Trail gelaufen bin. Dabei hatte ich nun echt nicht vor, dermaßen viel Zeit hier zu verbringen, aber gegen die Magie dieses Waldes war ich machtlos.
Die Pinien hier wurden vor 70 Jahren nach einem Waldbrand gepflanzt. Heide wächst hier nicht, obwohl der Boden trocken und sandig ist. Die langen Dünenstreifen bilden tiefe Täler, und die alten Straßen da unten gehören längst völlig den Tieren und Pflanzen. Weiter oben am Rande des Abhangs wandert es sich eh am schönsten.

Auch Hiiumaa blühte in voller Pracht, aber nicht weiß-gelb, sondern blau-violett. Diese kleinen blauen Pünktchen nennen sich Blausternchen und schießen sogar in den schattigsten Ecken des Waldes aus der Erde.

So, danach wollte ich eine Abkürzung von Kõpu runter nehmen und geriet prompt auf eine miese Kiespiste - ja, okay, ich sehe es ein, es hatte seinen Grund, warum die Karte mir genau denselben Weg wie auf dem Hinweg empfohlen hat.
Die restliche Strecke um die nordwestliche Ecke Hiiumaas ging aber ziemlich flott, es gab sogar einen eigenen Radweg mit eigener Brücke über den Fluss von Kõrgessare.

Irgendwann habe ich diese schnelle Route dann doch wieder verlassen, um auch das nördliche Ende des Kreuzes zu erkunden. Dieser besonders breite Finger heißt Tahkuna. Auf ihm liegt zum Beispiel das Mihkli Talumuuseum. Das ist ein alter Bauernhof, der seit 180 Jahren komplett eingefroren geblieben ist, aber nur selten seine Pforten öffnet. Wie alle Freilichtmuseen auf der Strecke konnte ich dieses bloß über den Zaun hinweg sehen. Das halbvergrabene Häuschen ganz rechts ist eine Dampfsauna, in der schon im 18. Jahrhundert Bauern saßen - bestimmt auch ohne Handtuch, oder? Irrtum, denn ursprünglich war die Gegend von Schweden besiedelt, gut möglich also, dass diese Sauna ausnahmsweise mal anständig genutzt wurde.

500 Jahre lang lebten und saunierten Estnische Schweden auf Hiiumaa. Wer wissen will, was aus ihnen wurde, findet die Antwort ganz unten auf dem Tahkuna-Finger, neben der Hauptstraße.
Am 20. August 1781 hielten sie hier einen letzten Gottesdienst ab. Aus Gründen, die wohl nur sie selbst so richtig kapierte, hatte Katharina II. entschieden, dass die Schweden mitten im kalten Winter in die Südukraine umziehen sollten. Zum Abschied stellte jeder estnische Schwede ein Kreuz auf diese Hügel. Das Ergebnis war Ristimägi, der Hügel der Kreuze (nicht zu verwechseln mit dem größeren Berg der Kreuze in Litauens Hauptstadt). Die Sowjets erlaubten ihnen später, aus der Ukraine nach Schweden zurückzukehren, und so endete die Reise von einigen auf der gegenüberliegenden Seite der Ostsee, auf Gotland.
Naja, es gibt noch eine zweite, ziemlich bescheuerte Legende über Ristimägis Usprung: An dieser Stelle sind sich zwei Hochzeitszüge begegnet, und weil sie einander keine Vorfahrt gewähren wollten, gab es eine heftige Schlägerei. Jeweils eine Braut und ein Bräutigam starben, die beiden übriggebliebenen heirateten angeblich später. Ende. Ja, so habe ich auch geguckt.
Ein paar stabile Kreuze aus Metall stehen sozusagen als Basis herum, damit auf jeden Fall ein paar Kreuze Wind und Wetter widerstehen. Aber sie sind kaum zu erkennen unter einer Flut aus annähernd kreuzförmigen Stöckern (das auf dem Foto ist bei Weitem nicht alles). Ob da noch irgendein Kreuz der ursprünglichen Schweden druntersteckt? Schwer zu sagen, denn inzwischen ist es Brauch, dass jeder Besucher selbst ein Kreuz bastelt und hinterlässt. Das soll Glück und/oder einen neuen Partner bringen. Damit die Natur aber nicht mit Plastik zugekreuzt wird und das Ganze zu einer kleinen Challenge wird, darf man nur Naturmaterialien nutzen.
Viele haben es sich ganz einfach gemacht, und zwei gekreuzte Stöcker auf den Boden gelegt. Ja, okay, streng genommen hat keiner gesagt, dass das Kreuz stehen muss - aber das ist nun doch ein bisschen zu simpel. Zumal diese Stolperfallen mitten auf dem Weg sicher keine große Halbwertzeit haben. Andere waren geschickt und haben ihr Holz irgendwie mit Gras und Blättern verknotet, doch das wollte bei mir nicht so recht klappen. Da fiel mir eine ideale Lösung ein: Ich muss nur einen Stock mit zwei Astgabeln finden, die so günstig liegen, dass ich den zweiten Stock dahinterklemmen kann.

Nicht ganz so alt ist dieser Panzer: Die Nordspitze von Hiiumaa gehörte wieder mal dem Militär. Und davon ist noch viel mehr übrig als gestern auf dem Panga Pank. Es reicht für ein komplettes Militärmuseum, und noch ganz viele andere Reste, die außerhalb davon herumstehen. Auch hier wütete der Zweite Weltkrieg besonders übel.

Der Beobachtungsturm musste nachträglich um ein Stockwerk aufgestockt werden, weil die verdammten Bäume gewachsen waren - Russland war ebenfalls im Kalten Krieg mit dem Wald. Die großen Batterietürme konnten 25 Kilometer weit schießen. Sie waren aber schon nach dem Zweiten Weltkrieg zu großen Teilen explodiert, mit Wasser geflutet oder einfach Schrott, der zu Altmetall zerschnippelt wurde. Offenbar glaubten die Sowjets doch nicht so sehr an einen Krieg mit der Nato, dass es ihnen die Mühe wert war, sie wieder aufzubauen.
Überall gehen Betontunnel in die moosbedeckten Hügel hinein.

Einige davon sind vergittert oder zugemauert, andere nicht.

In den Gängen rosten rätselhafte Gerätschaften vor sich hin. Die Betten erkenne ich ja noch, aber dieses komische Regal (hinten links)... sieht aus, als gehörte es in einen Weinkeller. Aber vermutlich steckte da kein Wein drin, sondern irgendwas sehr Explosives.

Wenn ich schon so weit oben bin, dachte ich, dann fahre ich auch noch die letzten Meter bis zur Sackgasse. Der Leuchtturm wurde 1874 in Frankreich gebaut, keine Ahnung, wie die den dann hierher gekriegt haben. An seinem Fuß kapitulierten im Oktober 1941 die letzten sowjetischen Soldaten der Insel. Nun hielt am Fuß gerade ein Reisebus, aus dem die Touristen drängen. Dabei ist das Kap Tahkuna eigentlich nicht soo spektakulär. Die Küste ist flach und steinig, der Leuchtturm geschlossen.
Folgendes konnte ich nicht sehen, weil es sich in viel zu großen Maßstäben abspielt: Ungefähr hier teilt sich die Ostsee. Im Norden hat sie nicht ein Ende, sondern zwei, und zur großen Freude aller pubertären Witzbolde heißen sie Meerbusen. Hier geht der Finnische Meerbusen los, der kürzere von beiden. Der Name ergibt nicht wirklich Sinn, denn der Bottnische Meerbusen hat eine viel längere finnische Küste als der Finnische.

Trotzdem liegt ab jetzt Finnland auf der gegenüberliegenden Seite. Ein estnisches Paar soll auf der Flucht aus der Sowjetunion einmal komplett nach drüben geschwommen sein. Für die meisten war Finnland aber abschreckend, denn es hatte ein Auslieferungsabkommen mit den Sowjets. Wenn Esten in Booten ankamen, fragten sie direkt, ob sie in Schweden und Finnland waren. War die Antwort Finnland: Nix wie weiter Richtung Westen. War die Antwort Schweden: Erstmal ausruhen, aber dann trotzdem lieber weiter Richtung Westen, nach Norwegen oder Amerika, wer weiß schon, ob die Schweden nicht auch noch so ein Abkommen schließen.
Eine Sache haben die DDR und Estland unter allen Ostblockstaaten gemeinsam: Quer über den Meerbusen konnte man finnisches Westfernsehen empfangen. Das hatte Folgen. Einem anderen Ostseeblog zufolge unterschieden sich die baltischen Sowjetrepubliken stark: Litauen platzierte seine Landsleute in die Partei, um Investitionen ins Land zu holen, Lettland duldete die Herrschaft am passivsten, Estland aber blieb am westlichsten orientiert.



An der endgültigen Spitze pendelt eine Totenglocke. Sie erinnert an die größte Katastrophe der Ostsee nach 1945.
1994 fuhr hier die die Fähre Estonia, die die Meyerwerften in Papenburg für die Strecke Tallinn - Stockholm gebaut hatten. Ein Sturm riss das Visier (also diesen Teil, der vorne aufklappt) auf, und Wasser flutete das Autodeck. 989 Passagiere fuhren mit, und 852 davon (aus 70 Ländern) kamen ums Leben. Die Gesichter auf der Glocke sollen besonders an die verstorbenen Kinder erinnern. 852! Das klingt nach der Titanic und nicht nach den 90ern! Ich war verstört. Von all den Tragödien, deren Spuren ich an der Ostsee begegnet bin, ist das für mich die lebensnächste, immerhin sind die Fähren heute grundsätzlich immer noch so aufgebaut. Ich dachte, seit der Titanic seien die Schiffe alle gut für Notfälle ausgerüstet?!

So, dann mal zurück in Richtung Süden, diesmal wieder auf einem Waldweg statt auf der Straße. Am Wegesrand steht obskure Zielscheibe. Auf die Mauer wurde ein roter Fleck gepinselt, und gut sichtbar klaffen Einschusslöcher darin. Soll das ein Land darstellen, auf das die da geballert haben? Die baltischen Staaten, Russland, USA, Ukraine, China... nee, passt alles nicht. Ich habe es immer noch nicht erkannt.

Im Nordosten Hiiumaas liegt die Inselhauptstadt (naja, eigentlich auch die einzige Stadt) Kärdla. Sie ist sehr grün, aber wirklich klein und unspektakulär, trotzdem reicht es immerhin für Platz 29 unter den Städten Estlands. Wie viele Städte hat Estland überhaupt? Ah ja, 29.
Kärdla wurde in die Grube eines Meteoriten gebaut, der vor 400 Millionen Jahren von Hiiumaa angezogen wurde - irgendwas macht diese Inseln unwiderstehlich für kosmische Geschosse (die von Kaali und Kärdla sind bei Weitem nicht die einzigen).

Am Fluss ragt ein Fabrikschornstein auf. Robert von Ungern-Sternberg hat hier 1830 eine Tuchfabrik gebaut. Die Sowjets machten ein Kraftwerk draus und holten sich acht Dieselgeneratoren, einen davon von Škoda aus Tschechien. Nicht gerade nachhaltig, aber für die Arbeiter gab es immerhin ein eigenes Gebäude, um ihre Fahrräder unterzustellen. Erst 1977 bekam Hiiumaa einen normalen Stromanschluss über ein Unterwasserkabel von Saaremaa.
Im weißen Gebäudekomplex steckt das Inselmuseum, und joa, diese Stelle ist im Prinzip auch schon das Highlight von Kärdla. Oder?

Nicht ganz. Am Ortsausgang entdeckte ich dann doch noch etwas sehr Witziges. Seebrücken scheint es so weit nördlich nicht mehr zu geben, dafür aber kleine Badestege. Meistens private, aber dieser hier ist mal öffentlich und noch dazu ziemlich verrückt.

Erst einmal geht er ziemlich lange über Land, dann geht es steil runter und das Ding schwimmt auf einmal auf der Ostsee. Bei jeder Welle schaukelt es heftig auf und ab. Die Geländer in der Mitte wurden da aus gutem Grund angeschraubt - ohne hätte ich es kaum an die Spitze geschafft, ohne unfreiwillig baden zu gehen. Ein bisschen wie Rodeoreiten auf einem störrischen hölzernen Riesenwurm.

Auf der Küstenstraße fiel mir dann noch etwas anderes auf.

Was ist das? Noch eine Insel - oder eher zwei Inseln, die durch ein dünnes flaches Landstück verbunden sind. Sieht aus wie Drejø in Dänemark. Oder wie ein Telefonhörer.
Rund um die Finger spalten sich immer mehr kleine Inselchen ab. Außer den drei großen gehören noch etwa 500 Mini-Inselchen zu den Moonsund-Inseln.

Unvermeidlich ist natürlich, dass ich auf den Inseln auch mal auf einen Flughafen treffe. Dafür, dass ich noch nie auf eine Insel geflogen bin, habe ich schon echt viele Insel-Flughäfchen gesehen. Der Radweg macht eine komplizierte Schleife um den Hiiumaa-Flughafen, dann geht es verwinkelt weiter durch Wälder und Dörfer.

Diese Windmühle macht einen genickten Eindruck. Sie ist traurig, weil sie nur noch zwei halbe Flügel hat.

Als ich keine Lust mehr auf Zickzack hatte, bin ich auf die Hauptstraße nach Suuremõisa abgebogen. Das ist quasi die ehemalige Inselhauptstadt, denn im Herrenhaus herrschte einst die Familie Stenbock, der die ganze Insel als Privatbesitz gehörte. Auch die Ungern-Sternbergs (die mit der Fabrik in Kärdla) lebten hier zwischenzeitlich.
Die heutige Version des Hauses hat Gräfin Ebba-Margaretha Stenbock 1760 mit einem Vorarbeiter namens Peter Opel (keine Ahnung, ob dessen Nachkommen Autos gebaut haben) bauen lassen, als der Familie nicht mehr die komplette Insel gehörte. Seit 1920 ist das Ding eine Schule, wobei so gut wie jede existierende Schulform darin ausprobiert wurde.

Das Gut ist ebenso gut erhalten wie die Kirche, die älteste der ganzen Insel. Nur die holländische Windmühle liegt in Trümmern.
Der Besitz der Familie Stenbock ist von der kompletten Insel auf ein paar Gräber auf dem Friedhof zusammengeschrumpft.

Und damit wäre es auch schon wieder Abend. Ich hätte zwar noch die letzte Fähre nehmen können, aber dann wäre ich erst im Stockfinstern angekommen.
Das Wilde Campen wird im Baltikum meines Wissens geduldet, also weder ausdrücklich erlaubt noch verboten. Aber ich wollte Begegnungen wie in der zweiten Nacht mit der Polizei von Liepāja dennoch vermeiden - allein schon, um in Ruhe durchzuschlafen. Seit ich also ab Rīga das Wildcampen wiederaufgenommen habe, habe ich möglichst noch abgelegenere Plätze gesucht. Das war nicht immer einfach - außer auf den Inseln, die sind dafür super.
Estnische Naturschutzgebiete sind durch so ein kleines weißes Schild mit einem Blatt drauf markiert und leicht zu übersehen. Aber auch außerhalb dieser Blattgebiete gibt es jede Menge schützende Wälder mit relativ weichem Boden. Ein besonderer Traum ist dieser helle Buschwald heute Nacht, in den sich das Rad problemlos reinschieben ließ und in den sich offenbar nie jemand verirrt. Auf der Straße, die ihm am nächsten ist, fährt im Schnitt vielleicht ein Auto pro Nacht.

Äh, ja. Und erst jetzt, wo ich das hier zusammenschreibe, lese ich, dass auch Braunbären auf der Insel leben sollen.
Uff.