NEU: Die schwedische Halbinsel der Zugvögel

Falsterbo

Freitag, 20. August 2021

Von Gedser nach Sundby

Vor uns läuft die haushohe Hybridfähre in den tristen Hafen von Gedser ein, über uns strömt der dänische Nieselregen, in uns strömen Vorfreude, Nervosität und gelegentlich eine Welle von Verärgerung, wenn uns etwas Neues einfällt, das wir vergessen haben. Am Ende des Tages beläuft sich die Liste auf: 1 Handtuch, 1  Zahnpasta, 1 heilen Wassersack, 1 Fahrradschloss, 1 Bikini, Seife, Salz. (Ich hoffe, ich habe nichts Vergessenes vergessen, aber wahrscheinlich schon.)

Vor allem der Wassersack ist ein Problem. Ich habe keine Ahnung, wie der plötzlich dermaßen viele Löcher bekommen konnte, auf jeden Fall läuft er aus wie ein Sieb und auch die vermeintlich wasserdichte Mülltüte, in der ich ihn verstaut habe, hält nicht mal ansatzweise, was sie verspricht. Das  Teil tropft und sprüht das komplette Fahrzeugdeck der Scandlines-Fähre voll - noch ein Liter mehr und sie hätten wahrscheinlich die Schotten dichtgemacht. Als ich mein Rad ein bisschen zur Seite neige, quillt plötzlich ein Wasserfall hervor, trifft punktgenau die Öffnung in der Fahrradtasche meiner Freundin und durchnässt ihre komplette Wäsche. Das sind keine optimalen Startbedingungen.
Ja, wir hätten uns länger als zwei Abende für unsere (bisher) längste Reise vorbereiten sollen. Das war uns zu diesem Zeitpunkt bereits bewusst. Bald sollte es uns noch viel, viel klarer werden. Aber gerade überwog noch die Vorfreude auf das große Abenteuer nach dem einsamen Coronawinter. Über einen Monat wollen wir fahren, an der restlichen dänischen und der kompletten deutschen Ostsee.

Als wir in Dänemark aussteigen, überwältigt uns das Land sofort, und zwar in mehrfacher Hinsicht.
Erstens scheint es, als hätte die dänische Regierung meinen Blog aufmerksam gelesen und den Satz Wir hoffen, dass die nächsten dänischen Inseln wieder ein bisschen lebendiger sind entlang unserer Strecke radikal umgesetzt. In Gedser erwarten uns gleich mehrere geöffnete Cafés und Museen - das wird uns niemand glauben, der schon einmal in Gedser war. Damit nicht genug: Zwei Dörfer weiter entdecken wir einen geöffneten Supermarkt, der die wichtigsten vergessenen Ausrüstungsgegenstände anbietet - für alles weitere finden wir später ein großes Einkaufszentrum. Wahnsinn, auf Møn wäre das undenkbar!

Zweitens die dänischen Corona-Regeln beziehungsweise deren Abwesenheit. Weil die Impfquote hoch und die Entspannung der Dänen noch höher ist, brauchen wir Masken nur in Flughäfen, Testzentren und der Fahrradwerkstatt in Middelfart zu tragen. (Letztere hat wahrscheinlich vergessen, das Hinweisschild abzunehmen.) Die 3G-Regel gilt lediglich für die Einreise, Innengastronomie und Schwimmbäder. Und mit gefühlt jedem gefahrenen Kilometer wird eine weitere Maßnahme aufgehoben. Man muss kein Coronaleugner sein, um dort wortwörtlich das Gefühl zu haben, freier atmen zu können.

Drittens kam später noch die dänische Freundlichkeit dazu, die direkt mit der schon genannten Entspannung zusammenhängt.


So toll wir Dänemark auch fanden, so langweilig blieb die Strecke von Gedser nach Væggerløse, die wir schon vom letzten Mal kannten - ausgerechnet dieses öde Stück mussten wir zweimal fahren. Mit Nieselregen war es sogar noch blöder.
Als wir dann den bekannten Weg verließen, verbesserte sich schlagartig nicht nur die Strecke, sondern auch das Wetter. Das Wasser rückte immer näher, bis wir direkt am Guldborgsund fahren durften. Diese Meerenge ist dermaßen glatt und schmal, ich hätte sie beinahe für einen Fluss gehalten. In der Mitte grenzen die Bojen eine Schiffsroute ab, die noch viel schmaler ist, woraus ich jetzt einfach mal die Schlussfolgerung ziehe, dass der Goldborgsund auch noch verdammt flach ist.
Neben der Straße gelangten wir in die Inselhauptstadt Nykøbing. Den Eingang zur Stadt bilden eine Brücke und eine Nordzucker-Fabrik, genau so eine, wie sie auch bei uns in Norddeutschland rumsteht (kein Wunder, hier sind wir noch viel weiter im Norden).
Als nächstes folgt ein Frisör- und Feuerwehrmuseum - wenn Ihnen in Nykøbing die Haare brennen, müssen Sie sich keine Sorgen machen.


Nykøbing hat eine hübsche Innenstadt, in der Menschen bummeln, Bäumchen wachsen und Fontänen sprudeln.
Die Straße am Hafen dagegen ist laut und hässlich - ein Unterschied wie Tag und Nacht.

Von den Sehenswürdigkeiten klang für mich Den Gamle Købmandshandel (Der Alte Kaufmannsladen) am interessantesten. Dieses Geschäft ist original eingerichtet wie in den 50ern und man kann dort Lebensmittel und anderes Zeug genauso kaufen, wie es das damals gab. Anscheinend gab es damals auch schon Harry-Potter-Notizbücher.
Der Kaufmannsladen war leider schon geschlossen - so sehr haben sich die dänischen Öffnungszeiten dann doch nicht verändert.

Nach unserer Runde durch die Stadt haben wir eine flache Klappbrücke überquert. Neben uns fuhr eine seltsame Regionalbahn, die aussah wie eine schlecht gepresste Leberwurst. Die kam aus der Richtung, die wir gerade ansteuerten, nämlich von

Insel Nr. 8: Lolland


Auf Lolland haben wir erstmal die Radroute verlassen und sind der Hauptstraße auf der anderen Seite des Guldborgsunds gefolgt, voller Vorfreude, dass wir gleich unseren ersten Schlafplatz erreichen werden. Dabei hatten wir nochmal einen traumhaften Blick über die Stadt. Komisch, von hier sieht der Hafen sogar schön aus.

Einen ähnlich guten Blick hatten wir während der Nacht. Wir schliefen auf einer Wiese, die als Naturlagerplatz ausgewiesen ist. Anders als die Lagerplätze der letzten Tour ist der hier nicht gratis - angeblich sollte abends jemand vorbeischauen, um 3 Euro zu kassieren. Angeblich. Zugegeben, da war ein Plumpsklo, das fast nicht stank, Tische, Bänke und eine Feuerstelle, dafür kann man schon einen kleinen Obolus dalassen. Aber wenn keiner kommt, dann halt nicht. Wir fanden sogar die Wegbeschreibung zum Wasserhahn in der Nähe, leider war der abgebrochen und wollte keinen einzigen Tropfen preisgeben.
Weil meine Freundin der Meinung war, wir sollten auch während der Reise gesünder und frischer essen, gab es heute Salat. Weil ich der Meinung bin, dass ein Salat auf einer Radtour nicht als Hauptmahlzeit reicht, gab es dazu Kartoffeln. Weil unser Topf der Meinung war, er sei viel zu klein zum Salatmischen und diese Meinung kundtat, indem er immer wieder Teile des Salats auf den Tisch fallen ließ, gab es während der restlichen Tour keinen Salat mehr.
Unsere Wiese war perfekt gemäht, so wie die Rasen aller anderen Häuser ringsherum. Trotzdem beschlossen alle Anwohner, ihren Rasen abends zur Sicherheit noch einmal abzumähen, damit wir bloß keinen falschen Eindruck von ihrer Gartenpflege erhalten. Das machten sie natürlich nicht gleichzeitig, sondern alle nacheinander, damit wir nicht ohne das liebliche Brummen ihrer Mäher einschlafen würden. Ein Motorboot drehte bis spät nachts seine Runden, und dann kam noch irgendein ganz komisches Geräusch dazu, möglicherweise eine Fabrik am anderen Ufer - oder ein Vogel? Der Platz war vielleicht idyllisch, aber alles andere als leise.

Das Örtchen Sundby ist im Grunde ein Vorort von Nykøbing und besteht aus einem Shoppingcenter und den Villen der wilden Rasenmäher. Der Grund, warum wir dort so weit abseits des Ostseeradwegs übernachtet haben, ist aber ein anderer: Das Middelaldercentret. Dieses Freilichtmuseum haben wir am nächsten Morgen direkt angesteuert.
In den Häusern des Mittelalterzentrums führen Handwerker ihr Handwerk vor und wir konnten mit ihnen reden. Also, theoretisch. Ein bisschen was konnten die auch auf Deutsch und Englisch erklären, doch nur wer Dänisch kann, blickt so richtig durch. Die Sprachbarriere war hier stärker zu spüren als die (angebliche) zeitliche Barriere zum mittelalterlichen Mittelstand.
Dieser Handwerker stellt gerade per Pedal Schüsseln aus Holzblöcken her.

Und die Färberin färbt Stoffe. Heute köchelte gerade Gelb über dem Feuer, das roch ziemlich gut. Es wird aus einer Pflanze hergestellt, wie die anderen Farben - außer blau. Für blau nutzte man damals einen speziellen Stein und Urin, das an der Taverne gesammelt wurde. Das riecht dann weniger gut (liegt vermutlich am Stein). An manchen Tagen wird hier heute noch so gefärbt. So viel habe ich verstanden. Allerdings habe ich mich nicht getraut zu fragen, ob ich denn mit meinem Toilettenbesuch vorhin quasi auch zu den nächsten blauen Stoffen beigetragen hätte.

Insgesamt waren da aber recht wenige Handwerker, wenn ich das mit der ähnlichen Anlage Botanicus in Tschechien vergleiche. Viele Häuser standen leer, beim Seilmacher lagen zum Beispiel halt einfach sauviele Seile rum. Könnte natürlich an der Pandemie liegen.
So richtig spannend wird das Dorf erst durch seine Aktionen. Zu bestimmten Uhrzeiten findet irgendwas statt, das mit Waffen zu tun hat. Vormittags konnten wir Bogenschießen - etwas, das ich bisher nur einmal mit acht Jahren und meine Freundin nur in Computerspielen ausprobiert hat. Und tatsächlich habe ich paar der Ziele getroffen. Wenn auch nicht die, die ich anvisiert habe. Und, na schön, eigentlich war der Heuballen vor meiner Nase über und über bedeckt mit irgendwelchen Ringen, Schlaufen und Punkten als potentielle Ziele. Man hätte sich schon sehr anstrengen müssen, um keins davon zu treffen.

Mittags fand dann ein Ritterturnier statt. Dort kämpfte ein norwegischer Ritter gegen einen dänischen (glaube ich, das hat der Moderator nur auf Dänisch erklärt), während die Zuschauer angestachelt wurden, ihren Favoriten anzufeuern und den anderen auszubuhen. Zuerst traten die beiden in Trainingsdisziplinen gegeneinander an, die für das Ergebnis gar nicht zählen, zum Beispiel Zwiebelschneiden - eine Disziplin, der wir uns am Abend zuvor beim Salatmachen auch stellen mussten, wenn auch mit geringerer Entfernung, auf einem Schneidebrett statt einem Holzpflock und mit einem Gemüsemesser statt einem Schwert.
Dann kam das eigentliche Lanzenreiten. Die beiden hatten durch die tägliche Vorstellung viel Übung und konnten ganz souverän sowohl die Zwiebeln als auch ihren Gegner ordentlich vermöbeln. Oft stand es unentschieden. Am Ende musste einer der Ritter sehr wütend auf den Moderator zureiten und ihm bedrohlich mit der die Lanze vor dem Gesicht herumwedeln, damit er sah, dass sie tatsächlich abgebrochen und er damit doch noch der Sieger war. Das Ergebnis ist wohl nicht inszeniert, sondern wird tatsächlich nach aktueller Tagesleistung vergeben.

Am meisten beeindruckt hat mich das Katapult. Was für ein unglaublich monströses und unpraktisches Teil! Diese Dinger waren nicht mobil und wurden nur gebaut, um den Menschen in einer bestimmten belagerten Stadt Leid und Verderben zu bringen. Zwei Mitarbeiter liefen eine Viertelstunde lang in integrierten Hamstererrädern, um das Gerät spannen.
Während ein Moderator auf Dänisch sprach und erklärte und redete, liefen seine Kollegen immer weiter auf der Stelle und zogen das Gerät immer straffer...

...und straffer...

...und straffer.
"Wie viele Deutsche sind hier?", fragte der Moderator. Als überall Hände hochgingen, seufzte er: "Oh mein Gott!" Nachdem er sich vom Schock unserer Invasion erholt hatte, erklärte er dann aber doch sehr souverän auf Deutsch, dass diese Steinschleudern nicht nur mit Steinkugeln Mauern einreißen konnten, sondern auch mit Bienenstöcken oder infizierten Leichen als mittelalterliche Psycho- oder Biowaffen genutzt wurden. Ja, diese Konstruktion repräsentiert wirklich nicht gerade die besten Eigenschaften des Menschen, trotzdem habe ich sie mit derselben Faszination angestarrt wie alle anderen. "Aber es hat einen Nachteil: Es ist sehr langsam.", fügte der Mann schließlich hinzu. "Es gibt einen Grund, warum der hundertjährige Krieg 100 Jahre gedauert hat."

Allerdings ist das langsam. Als wir dachten, jetzt ist es endlich fertig, mussten die Leute in den Hamsterrädern noch eine Weile in die andere Richtung laufen, um irgendein anderes Seil zu spannen.
Über 20 Minuten waren vergangen, bis eine Freiwillige endlich am entscheidenden Seil ziehen durfte ("Keine Angst, bisher ist nie was passiert."). Der Balken schnellte zurück nach oben, die Kugel flog... ganz hoch... immer höher in den blauen Himmel... und immer weiter.... wo ist sie denn jetzt überhaupt? Platsch, ah, da ist sie wohl gerade im Wasser gelandet. Wie machen die das bloß, dass sie nie ein Boot treffen? Wahrscheinlich ist der Bereich im Guldborgsund  großräumig abgesperrt. Angeblich soll die Kugel ja immer dieselbe Stelle treffen.

Später sollten auch noch Kanonen abgeschossen werden, aber da mussten wir schon weiter.

Allein schon weil ich weiß, wie cool mein kleiner Bruder diese Steinschleuder fände, und auch wegen des liebevoll gemachten Mittelalterspielplatzes erhält das Middelaldercentret das Prädikat

🌟Ort, den ich meiner Familie mal als Tagesausflug empfehlen würde

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