NEU: Die andere Strecke durch Dänemark - mit opportunistischer Mikro-Insel

Alsternative: Von Flensburg nach Svendborg

Posts mit dem Label Eurovelo10 werden angezeigt. Alle Posts anzeigen
Posts mit dem Label Eurovelo10 werden angezeigt. Alle Posts anzeigen

Sonntag, 31. Oktober 2021

Bornholm: Von Sose nach Rønne

Bornholm III: Die Südküste

4:30, Sose, Kilometer 93 Ich erwache. Warum erwache ich nur so früh, wenn ich unter freiem Himmel schlafe? In meinem Zimmer kann ich bis um 12 Uhr schlafen, aber an der frischen Luft ist spätestens um 6 Schluss. Es liegt nicht an der Helligkeit, denn unter den Bäumen ist es dunkler als in meinem Schlafzimmer. Muss also die Luft sein.
Möglichst leise mache ich mich auf die Socken.

5:00 Als ich längst wieder an der Straße fahre, klingelt mein Handywecker. Den habe ich vorsorglich gestellt. Es fährt nämlich nur eine Fähre am Tag, also sollte ich die auf jeden Fall schaffen.

Gestern, 19:56 Hier müsste irgendwo die Schutzhütte von Arnager sein. Ich fahre vorfreudig den Feldweg zum Wasser herunter, denn der Meerblick ist traumhaft. Doch aus der Hütte schauen mir bereits Reisende mit halb mitleidigem, halb zufriedenem Gesichtsausdruck entgegen und zucken mit den Achseln. Deshalb bin ich gestern die paar Kilometer bis Sose zurückgefahren.


5:05, Arnager, Kilometer 98 Neben der Straße erstreckt sich der Lufthavn von Bornholm. Um diese Zeit fliegen dort keine Flugzeuge, sondern ausschließlich Vögel. Ihre Landebahnen sind mit extragroßen Pfützen ausgestattet.

5:10 Immer noch Flughafen. So ein Lufthavn ist echt lang.


5:17 Ein Haufen Mülltonnen markiert die Stelle, an der ich die Straße verlassen soll. Hier gibts einen kürzeren und schöneren Weg ins Stadtzentrum, und zwar... wieder eine Bahntrasse? Ich bin nicht ganz sicher, aber könnte sein.
Zunächst bringt mich diese Trasse durch einen normalen Laubwald.


5:23 Und anschließend durch Kleingartenanlagen. Naja, das wars jetzt wohl endgültig mit den besonderen Landschaften.


5:30 Von wegen! Zum Schluss durchquere ich noch einen Dünenpark. Ein paar wenige Nadelbäume wurzeln hier im Sandboden einer extrabreiten Düne, die mehr oder weniger unerkannt in den normalen Erdboden übergeht. Oder steht der ganze Vorort auf dieser Düne?


5:37 Ich schiebe durch den Sand bis zu einer Bank, wo ich eine zweite Frühstückspause einlege. Hier fällt die breite Düne steil zum Wasser ab. Ich genieße den Blick auf strahlende Wolken im Morgenrot und die Mole am Hafen, welche aus aufgeschütteten Steinen besteht. (Da finde ich die Wolken doch schöner.) Dort baggert bereits ein Bagger herum. (Also, auf dem Pier, nicht in den Wolken. Fliegende Bagger gibt es auch im technisch fortschrittlichen Dänemark noch nicht.) Der Baggerfahrer und ich scheinen die einzigen Personen auf der Insel zu sein, die schon wach sind.


5:57 Ich zische an der Festung von Rønne vorbei. Bin ich wirklich schon da?

6:04, Rønne, Kilometer 107 Jap, bin ich. Viel zu früh erreiche ich den Hafen. Darum schaue ich noch eine Weile die schlafende Stadt an und flicke mein Fahrrad.

7:30 Auf meinem Ticket steht Sowohl in Sassnitz als auch in Rønne ist es selbst Check In. Trotz der fragwürdigen Formulierung erkenne ich den Sinn des Satzes und sehe mich nach einem Automaten oder etwas ähnlichem um. Fehlanzeige.

7:45 Etwas, das einem weiblichen Menschen zum Verwechseln ähnlich sieht, taucht auf und scannt die Tickets der Radfahrer. Erstaunlich, wie weit die Robotertechnologie in Dänemark schon ist!

8:00 Die Fähre legt pünktlich ab. 

11:20 11:40, Fährhafen Mukran, Sassnitz, Insel Rügen, Deutschland Die Fähre legt nicht so ganz pünktlich an - ein passendes Willkommen in Deutschland (vor allem, wenn man danach mit der Bahn weiterwill).

Samstag, 18. September 2021

Von Zingst nach Barth

Bei unserer großen Sommertour 2021 hatten wir Warnemünde als Mindestziel festgelegt. Wenn wir noch Zeit und Lust haben und meine Freundin die Impfung gut überstehen würde, wollten wir noch vier Tage anhängen und die gesamte deutsche Ostsee zu Ende fahren. Nach drei Tagen Erholungszeit ging es ihr eigentlich wieder ganz gut, sodass wir dachten, wir können es mit stark reduziertem Gepäck wagen.

Ich hatte ursprünglich überlegt, noch einmal die schon bekannte Strecke über Zingst-Darß-Fischland zu fahren, schließlich war die echt schön. Aber wir wollten auch bald endlich mal nach Hause. Außerdem hatten wir seit Lübeck gespürt, wie jeder Tag kürzer und kälter wurde, und dass wir jeden Tag ein paar Minuten früher am Ziel sein mussten, um das Zelt noch im Hellen aufzubauen. Also entschieden wir, direkt in Zingst zu starten. Dazu fuhren wir mit der Bahn nach Barth, wo ein Bus mit ultrabreitem Fahrradanhänger bis nach Zingst verkehrt.

Nachdem wir in Zingst ein paar Sachen eingekauft hatten und feststellten, dass die Tauchgondel diesmal wegen zu hohem Seegang geschlossen war, verließen wir die ZDF-Halbinsel über die Meiningenbrücke. Genau genommen sind das zwei Drehbrücken mit auffällig rostigem Stahlgeländer, das vermutlich einmal weiß war. Die rechte Brücke wurde rege befahren, sie hat eine Straße sowie einen gemeinsamen Fuß- und Radweg. Die Eisenbahnbrücke links sieht recht eigenartige aus, denn sie wird nicht mehr genutzt und ist dauerhaft zur Seite gedreht - aber womöglich nicht mehr lange.


Viel Ostsee haben wir nicht gesehen, trotzdem war diese Strecke super. Vor und hinter dem Brücke verläuft ein Bahntrassenradweg schnurgeradeaus - aber wie lange noch? Kurz vor unserem Aufbruch lasen wir in den Mecklenburger Nachrichten: Die Darßbahn kehrt zurück! Auch an den Bahnhöfen verkündeten große Plakate die frohe Botschaft. Von solchen Aussichten können die Bahntrassen am Ederseebahnradweg oder Milsenburgradweg nur träumen.
Ich denke mal, dass der Radweg trotzdem bleiben wird. Schließlich sind die Radtouristen mindestens ebenso wichtig wie die Touristen, die hier mit der Bahn anreisen könnten (allein die Existenz des Fahrradbusses weist darauf hin) und in diesem flachen Gebiet ist noch genug Platz für Gleise. Auf dem Festland ist sogar noch ein Gleis vorhanden, das auf Betonstützen über dem sumpfigen Land verläuft.

Ein paar alte Waggons beinhalten eine Galerie mit dem Namen Kunst auf Schienen. Auch für die findet sich hoffentlich in Zukunft ein Abstellgleis.

Das Städtchen Barth kannte ich bisher nur von den Stundenplänen in der Grundschule. Die wurden alle von den Barther Tomaten gesponsert. Damals hätte ich keinesfalls gedacht, dass ich in Barth einmal die bisher längste Radtour meines Lebens beenden würde.
Ich habe mich in der Innenstadt von Barth einigermaßen wohlgefühlt, die ist ganz nett, aber nicht so richtig sehenswert. Das Dammtor und die Kirche sind historische Ziegeltürme, der Rest sind  irgendwelche bunten Häuser. Früher war das eventuell anders, weil hier vielleicht die legendäre, superreiche und untergegangene Stadt Vineta stand. Vielleicht aber auch nicht.

Ziemlich schnell stellte sich heraus, dass es eine blöde Idee war, weiterzufahren. Es ging meiner Freundin immer noch nicht gut genug zum Radeln. Die Erschütterungen beim Fahren verursachten eine eigenartige Übelkeit, die das Fahren, nicht aber das Essen unangenehm machte und sie dementsprechend nicht daran hinderte, in der Innenstadt einen Salat zu essen, während wir auf den Zug warteten.

Von Gedser nach Rostock, Von Gedser nach Ahlbeck, Von Gedser nach Swijnouscie - ich dachte, eine dieser Überschriften würde auf unsere Tour zutreffen. Auf Von Gedser nach Barth bin ich hingegen nicht gekommen.

Was mich daran am meisten ärgert, ist aber nicht, dass wir nicht die gesamte deutsche Ostsee geschafft haben (das war eh nur ein optional eingeplant), sondern dass wir die nächste Ostseetour damit beginnen müssen, beim Umsteigen noch einmal am bescheuerten Bahnhof von Velgast völlig vollbepackte Räder die Treppen rauf- und runterzutragen.

Mittwoch, 15. September 2021

Von Warnemünde nach Markgrafenheide

Gegenüber von Warnemünde liegt der Ortsteil Hohe Düne. Er besteht aus ebenso teuren wie gelben Hotels, einer Radarstation und Dünen, die dem Namen zum Trotz allenfalls normal hoch sind. Eine Autofähre verbindet Hohe Düne und Warnemünde. Diese Fähre bildet allein die Tarifzone 6 des Rostocker Nahverkehrs. (Wo Tarifzone 5 ist, wird für immer ein Mysterium bleiben. Vermutlich ist die unsichtbar und nur für Zauberer.)

Die Hotels können Spaziergänger leicht in ihre Fänge locken. Im einen Augenblick sind Sie noch auf etwas, das wie ein öffentlicher Bürgersteig aussieht, und im nächsten haben Sie plötzlich einen Flur des Hotels betreten.

Da spaziere ich dann doch lieber direkt am Ufer der Warnow entlang. Dort ragt ein Pier in die Ostsee. Es sieht aus wie sein stärker frequentiertes Gegenstück drüben in Warnemünde, mit zwei Unterschieden: Zum einen ist der Leuchtturm an der Spitze ist rot und nicht grün. Zum anderen liegt nebenan kein Strand, sondern ein Yachthafen. Auch die Robben haben ihre eigene Yacht: In einem Schiff befindet sich eine Robbenaufzuchtstation. An manchen Tagen lässt sich beobachten, wie sie in ihrem Becken, einem abgetrennten Teil der Ostsee, herumplantschen.

Diese kurze Etappe verläuft auf einem schmalen Streifen Land zwischen der Ostsee und einem breiten Ausläufer der Warnow. Deswegen gibt es hier nur eine einzige mögliche Strecke, wo Straße und Radweg verlaufen.
Zunächst führt dieser Weg an einer langen, langen Kaserne der Marine vorbei. Sollten die Luxushotels von Hohe Düne je angegriffen werden, mache ich mir keine Sorgen.

Die Dünen hinter Hohe Düne sind gar nicht so hoch. Dieser Strandabschnitt heißt Tarterhörn.

In der 11. Klasse musste ich dort Wasserproben untersuchen - eigentlich ein schöner Ort für den Unterricht, wäre der Wind an dem Tag nur nicht so eiskalt und fies gewesen. Nach dem Unterrichtsschluss hab ich dann auch noch den Bus verpasst. Und die dortige Buslinie ist zufällig die einzige in Rostock, die nur einmal stündlich fährt. Aufgrund dieser Erfahrungen bin ich nicht so der Tarterhörn-Fan.

Aber das ist natürlich nur meine persönliche Assoziation. Im Allgemeinen ist der Strand weiß und fein, wie es der Mecklenburger Qualität entspricht, und auch der Radweg ist echt schön, obwohl er einer Hauptstraße folgt. Sobald die Kaserne zu Ende ist, geht es durch grüne Dünenlandschaften, großzügig durchsetzt mit Strandparkplätzen.

Diese Straße knickt irgendwann nach rechts ab und führt nach Markgrafenheide. Ein irreführender Name: Grafen gibt es hier nicht mehr, Heide auch nicht und bezahlt wird natürlich mit Euro.
Markgrafenheide besteht stattdessen aus ein paar Imbissbuden, Ferienhäusern, einem Netto, dem Strand (inklusive großem Parkplatz) und einem lustigen Kletterwald. Aber Fischbrötchennettokletterwald macht sich als Ortsname nicht so gut.

Zwischen den Bäumen des Kletterwalds spannen sich Leitern, Tonnen zum Durchkriechen, ein Riesenquirl, eine Kanonenkugel zum Reiten wie bei Münchhausen (außer dass sie am Seil hängt) und vor allem jede Menge Stahlseile. Jedes Mal, wenn ich dort war, konnte ich ein etwas höheres Level bezwingen. Irgendwann habe ich dann tatsächlich das höchste bewältigt. Danach taten mir die Arme weh.
Der Kletterwald hat mittlerweile ein neues System, bei dem man sich überhaupt nicht mehr umhaken muss. So geht das Klettern von Baum zu Baum noch schneller. Damit hat unser lokaler Kletterwald sogar den spektakulären Kletterwald am Rheinfall an Innovativität überholt.

Die spannendsten Stellen sind die grünen Netze. Da mussten wir uns mit einem Seil reinschwingen und aus dem Netz herausklettern. Wer es nicht schafft, sich rechtzeitig am Netz festzuhalten, baumelt erbärmlich in der Luft und muss einen Mitarbeiter um Hilfe rufen, der ihn zum Netz rüberzieht. Meinen kleinen Geschwistern ist das gelegentlich passiert. Ich konnte es stets mit folgendem Trick vermeiden: Ich habe meine Beine in die Löcher vom Netz gesteckt und mich so festgeklammert, statt nur die Arme zu nehmen.
Nachtrag: Leider kann man sich in die meisten Netze bis auf eins nicht mehr reinschwingen.

Dienstag, 14. September 2021

Von Neubukow nach Warnemünde

Impf-Countdown: Noch 1 Tag

Der letzte Tag bis Rostock - kann das wirklich wahr sein? Schaffen wir es heute zu unserem Mindestziel? Müsste eigentlich klappen, wenn nichts gewaltig schiefläuft.
Es lief nichts gewaltig schief. Stattdessen war dieser Tag ein grandioses Finale voller Steilküsten, Strände und Aussichtstürme, Umleitungen und Verfahrensfehlern, also nochmal mit allem, was diese Ostseetour geprägt hat.

An der ersten Dorfstraße entdeckten wir hinter einer blühenden Hecke einen wunderbar restauriertes Bahnhofsgebäude, sogar mit so einer Uhr, wie sie heute noch an Bahnhöfen tickt. Fehlt nur noch die dazugehörige Bahntrasse.

Im Ostseebad Rerik ist die Wismarsche Bucht zu Ende. Das Ende bildet eine schmale Hal(s)binsel, die zum Ende hin wieder dicker wird. Wir folgten der Straße immer weiter und wären fast in dieser Sackgasse gelandet, bis es mir gerade noch auffiel.
Als wir uns umdrehten, fiel unser Blick auf eine besonders hohe Düne mit einer besonders langen Holztreppe. Wenige Minuten später standen wir oben auf dem sogenannten Schmiedeberg und hatten wieder den perfekten Überblick. Die Slawen haben dieser Düne ein Upgrade zum Burgwall gegeben und eine Holzburg draufgestellt. Von der ist nichts mehr zu sehen, stattdessen steht da ein einfacher Aussichtsturm aus Holz.

Früher trug dieses Seebad den slawischen Namen Alt-Gaarz. 1938 erhielt es die Stadtrechte und zugleich einen neuen Namen, denn Slawen gehörten bekanntlich zu den zahlreichen Menschen, welche die Nazis auf den Tod nicht ausstehen konnten. Wikinger dagegen fanden sie super, weil sie sich ja selber für welche hielten. Gerade waren auf dem Schmiedeberg die Reste des Burgwalls ausgegraben worden, und die Nazis dachten, das sei der legendäre Wikinger-Handelsplatz Reric und nannten die Stadt Rerik mit K. Erst 1990 fanden Forscher heraus, dass Reric vor der Insel Poel lag. Trotz dieser fragwürdigen Namensgeschichte behielt Rerik seinen Namen, was ich irgendwie verstehen kann - Alt-Gaarz klingt halt schon ziemlich öde.
Das Ding in Rerik war nur irgendeine Slawenburg, die ungewöhnlicherweise direkt am Meer lag (weshalb auch besonders wenig von ihr übrig ist). Vielleicht spielte diese Burg zeitweise eine wichtige Rolle als politischer und kultischer Mittelpunkt, spekuliert eine Hinweistafel. Vielleicht aber auch nicht. Über den peinlichen Patzer der Nazis schweigt das Schild.

Rerik ist alles andere als villenlos. Hier beginnt die erste Seebäder-Kette von Mecklenburg-Vorpommern. Die Strandbäder stehen hier an der Küste aufgereiht wie Perlen an einer Schnur. Die Leute reisen hier so gerne hin, dass zum Beispiel Flixbus diese kleinen Örtchen alle einzeln ansteuert. Zum Glück halten die Seebäder einen Sicherheitsabstand ein, sodass es nicht so anstrengend ist wie die Lübecker Erlebnisbucht.

Wir halten unterdessen Abstand zum Wasser, weil sich der sumpfige Riedensee am Meer erstreckt.

Als unsere Karte vorschlug, wir könnten eine Variante nehmen, die kurz am Meer langgeht, waren wir dafür sofort Feuer und Flamme (beziehungsweise Wasser und Welle), auch wenn dieser Weg ein kleines bisschen länger ist. Wir radelten einen Hügel hinunter und übersahen dabei vor lauter Vorfreude die Baustelle. Unten bremste uns ein Schild aus. Es verkündete, der Radweg sei unpassierbar. Als uns zwei Radfahrer entgegenkamen, fragten wir sie, inwiefern das stimmte. Sie meinten, man müsste die Räder stellenweise tragen. Darauf hatten wir gar keine Lust, also kehrten wir notgedrungen um.

Das nächste Ostseebad ist sehr, sehr lang. So lang, dass es in zwei Teile unterteilt wird. Ursprünglich entstand es sogar aus drei Seebädern, die sich zusammenschlossen.
Zuerst folgten wir eine ganze Weile einer Allee durch Kühlungsborn-West. Zwischendurch schlossen wir die Räder an und gingen etwas essen, um zu feiern, dass wir unser Mindestziel fast geschafft haben. Unsere Räder durften dagegen nicht gefüttert werden.

Ganz kurz schlängelten wir uns zwischen den Besuchern der Strandpromenade hindurch. Dort stand wie in Heiligenhafen ein Riesenrad, dazu richtig viele Strandvillen. Am besten hat mir diese hier gefallen, die sieht so prächtig-chaotisch aus und ähnelt entfernt einer Burg oder einem Schloss.

Eine andere Allee brachte uns dann nach Kühlungsborn-Ost. Weil Kühlungsborn so lang ist, bietet es zwischendurch auch Platz für Wälder. Die Grüne Stadt am Meer ist so grün, dass wir das Meer nicht sehen konnten, obwohl es ziemlich nah war. Auf der anderen Seite reihen sich die weißen und gar nicht günstigen Strandhotels aneinander.

Kühlungsborn-Ost ist das eigentliche Zentrum, wie an der Seebrücke unschwer zu erkennen ist. Aber nanu? Was ist das? Direkt daneben sieht es grau und ungemütlich aus. Spontan entdeckten wir einen Grenzturm und ein Stück Grenzzaun, an dem alte Propagandaplakate zur Schulung der Grenzsoldaten hängen.
Es handelt sich um die alte Version eines DDR-Beobachtungsturms. Diese Türme waren rund und so schmal, dass sie im Sturm gefährlich schwankten. An der Grenze im Binnenland wurden sie alle durch stabilere rechteckige Türme ersetzt, aber die Grenze an der Ostsee war offenbar nicht ganz so wichtig, deshalb blieb die alte Variante stehen. Obwohl es am Meer bekanntlich besonders stark stürmt. Das war sicher nicht schön.
Wir beobachteten, wie zwei Leute im Turm verschwanden - und nicht wieder auftauchten. Kann man da etwa hoch? Wir näherten uns, da fragte uns auch schon der Wächter des Turms: "Wollt ihr nach oben?" Definitiv. Und wir mussten dafür nur zwei Euro spenden.

Bei all meinen Tagestouren am Eisernen Vorhang habe ich nie einen Beobachtungsturm entdeckt, den ich besteigen durfte. Nun hatte ich überraschend die Möglichkeit. Und so viel sei vorweg gesagt: Es wurde sehr verstörend.
Der Aufstieg ist eine sportliche Herausforderung, die meiner Freundin einiges an Mut abverlangte (mir natürlich nicht, ähem). Wir kletterten auf Leitern durch die enge Röhre. Alle zwei Meter wechselten wir die Seite. Kleine Plattformen, die nur Platz für einen Menschen bieten, verhindern, dass wir im Falle eines Falles zu tief fallen.

In der Beobachtungskanzel ist etwas mehr Platz, aber gerade das machte diese Türme ja so instabil -  dass dieser dünne Strohhalm so ein großes Zimmer trägt.
Hier hingen keinerlei Informationen. Die gab es unten am Grenzzaun oder im dazugehörigen Grenzmuseum. Die Einrichtung beschränkte sich auf echte Ferngläser und Gewehre. Im Grunde fehlte nur noch die Munition zur Originalausstattung. Wir durften also die Touristen beobachten und auf sie zielen. Allerdings beschränkten wir uns dann doch aufs Beobachten. Das war schon seltsam genug. Wir konnten genau erkennen, welche Farbe die Mütze des Typen da draußen auf dem Segelboot hatte (rotbraun) oder wie viele Leute sich im Pool eines Hotels entspannten. Zum Glück ist das hier kein FKK-Strand.
Die gesamte Küste von MV konnte Honecker nicht absperren, dafür waren die Strände viel zu beliebt. Also mussten er sie umso genauer beobachten lassen. Ich stelle es mir alles andere als erholsam vor, wenn ich mich im Urlaub fragen muss, wie weit ich rausschwimmen darf und ob schon eine Waffe auf mich gerichtet ist.

Der Turm konnte Peter Döbler nicht davon abhalten, genau hier die DDR hinter sich zu lassen. Der Arzt trainierte dermaßen hart, dass sein Körper 10 Stunden schwimmen im Winter nicht mehr als außergewöhnliche Belastung wahrnahm. Er entschied sich für die Strecke von Kühlungsborn nach Fehmarn, weil die nicht ganz so streng bewacht schien.
Eines Abends stieg er ins Wasser, tauchte vor den Suchscheinwerfern ab und schwamm einfach mal 45 Kilometer in 24 Stunden, bis nach Fehmarn. Was ein Typ! Er verzichtete sogar darauf, ein westdeutsches Schiff auf sich aufmerksam zu machen (die sehen mich eh nicht) oder auf einer Boje zu pausieren (brauch ich nicht).
Im Buch Über die Ostsee in die Freiheit habe ich von vielen weiteren Fluchtversuchen gelesen und überrascht folgendes festgestellt: Erfolg hatten tendenziell eher diejenigen, die halb vorbereitet, halb planlos mit kleinen Surfbrettern oder Faltbooten im Zickzack auf unerwartet indirektem Kurs abgehauen sind. Erwischt wurden tendenziell alle, die am Strand erstmal ein aufwändiges selbstgebautes U-Boot zusammensetzen mussten oder sich einen superkomplizierten Plan überlegten, wie sie eine Segelerlaubnis bekommen und dann im richtigen Moment nach Osten von der vorgeschriebenen Route abweichen. Richtige Schiffe konnten nämlich per Radar aufgespürt werden und wurden dann in internationalen Gewässern festgenommen. Außer der Bundesgrenzschutz war da, dann kam es zu richtigen Kalten Seeschlachten mit Kriegsschiffen und Helikoptern, die sich gegenseitig blendeten und ihre Waffen luden. Wer mit der größeren Feuerkraft drohen konnte, bekam die Flüchtlinge.

In Kühlungsborn dampft eine Dampflok durch die Gegend und weiter nach Bad Doberan. Sie heißt Molli, wie die kleine Lok bei Jim Knopf, und ist damit ein begehrtes Ausflugsziel für alle Kinder, die diese Bücher lieben.
Im Bahnhof Kühlungsborn Ost befindet sich das Molli-Restaurant Gleis 2, wo die Gäste in Nischen sitzen, die wie Zugabteile aussehen. Bei der Gestaltung haben die sich die Betreiber mehr Mühe gegeben als beim Essen.

Im Grunde geht es ab jetzt fast nur noch schnurgeradeaus am Wasser bis nach Warnemünde, und zwar fast durchgängig mit Steilküste. Das dürfte einer der schönsten Abschnitte des Ostseeradwegs überhaupt sein. Und das wissen natürlich nicht nur wir. Gestern hatten wir den Radweg für uns, doch als sich das Wetter und die Strecke heute so rasant besserten, wurden wir überschwemmt von Elektro-Rentnern. Das waren immer Gruppen, und aus irgendeinem Grund kamen uns die meisten vormittags entgegen - wollen die etwa doch auf die weniger interessante Strecke nach Wismar? Am frühen Nachmittag waren dann die meisten E-Kolonnen vorübergezogen.
Die erste Steilküste ist noch nicht so hoch und durch die dichten Büsche war nicht allzu viel zu sehen, nicht mal auf einer kleinen Aussichtsplattform.

In einer dunklen und stürmischen Nacht vor langer, langer Zeit ist hier mal eine Sturmflut so richtig eskaliert. Die Bewohner der Küste besannen sich daher auf den besten Hochwasserschutz, der ihnen damals zur Verfügung stand: Beten. Blitze zuckten und auf einmal, däm, stand da ein kostenloser, betriebsbereiter und mutmaßlich heiliger Damm. So heißt es zumindest in der Sage, die erklären soll, wieso das nächste Ostseebad Heiligendamm heißt. Gelegentlich wird es auch Weiße Stadt am Meer genannt, wegen seiner klassizistischen Villen.

Im Jahre 1793 nahm hier alles seinen Anfang, was die Mecklenburger Ostsee so entscheidend geprägt hat. Ein Großherzog bekam von seinem persönlichen Arzt den Tipp, dass so ein Seebad eventuell gesund sein könnte. Daraufhin gründete er das allererste Ostseebad. Finanziert wurde es unter anderem durch den Verkauf von 1000 Mecklenburger Soldaten. Das Bad wurde ein voller Erfolg, wenn auch nicht so wie geplant: Die Leute schliefen lieber direkt in Heiligendamm, statt sich in Bad Doberan ein Zimmer zu nehmen und mit der Bahn rüberzufahren. Und sie verbachten die meiste Zeit gar nicht im Wasser, sondern in Casinos. Ersteres kann ich verstehen, letzteres weniger. Als 1867 das Glücksspiel verboten wurde, ging der Nachfahre des Herzogs quasi sofort pleite und musste das Seebad verkaufen.
Die Molli verlässt in Heiligendamm die Küste, denn nun wird es ein bisschen unwegsamer.

Hinter dem heiligen Damm ragt ein weiterer Grenzturm aus den Dünen, diesmal aber ein ziemlich schrottreifer. Hier sind wir kurz an der Straße gefahren und freuten uns schon auf den nächsten Radweg, als ein unheilverkündendes Schild verkündete, wir sollten einen riesigen Umweg machen. Der Weg sei infolge des Starkregens kaputt. Oh nein. Wir sollen das schönste Stück des Tages weglassen?
Wie beim letzten Mal benutzten wir entgegenkommende Radler als Orakel. Davon gab es echt viele, und keiner hatte das enttäuschte Gesicht eines Menschen, der sinnlos in eine Sackgasse gefahren ist. Ein gutes Zeichen. Noch während wir darüber diskutierten, mischte sich plötzlich ein Mann ein, der direkt neben uns am Tisch eines Restaurants speiste. "Das ist kein Problem", meinte er. Also setzten wir die Fahrt fort. Auch wenn ich nicht ganz sicher war, ob der das womöglich nur gesagt hatte, damit unsere Diskussion seine Mahlzeit nicht länger störte.

Nein, er hatte Recht. Mehr oder weniger. Auf dem breiten Kiesweg war so viel Platz, dass der Typ gleichzeitig Recht und Unrecht haben konnte. Ganz rechts am Feld konnten wir gefahrlos weiterfahren. Ganz links hingegen hätten wir das eine oder andere Problem und unsere Route eine steile Wendung abwärts bekommen.
Diese Steilküste ragt direkt aus der Ostsee und fällt dementsprechend im Falle eines Falles auch dort hinein. Zum ersten Mal sahen wir eine Klippe, die untenrum keinen schmalen Strand hat. Die Wellen haben in der letzten Zeit ziemlich stark am hellen Sand herumgekratzt, wodurch Teile des Radwegs abgekratzt sind. Aber selbst ich mit meiner nicht immer optimalen Aufmerksamkeit lief nie auch nur entfernt Gefahr, da runterzufallen. Ich sah die Abbruchstellen schon von Weitem. Wie auch nicht? Es sieht aus, als hätte ein verdammtes Seeungeheuer ein Stück Ostseeküstenradweg abgebissen!

Am Horizont tauchte eine dunkelgrüne Masse auf. Die Blätter verwehrten jeden Blick hinein. Wir schlüpften durch das einzige Loch ins geheimnisvolle Dunkel, das gar nicht mal so dunkel war, sobald wir drin waren. Das ist der Gespensterwald. Offiziell heißt er Nienhagener Holz, aber wirklich niemand nennt den Wald so.
Wir umrundeten jede Menge dürrer Bäume, die wie Gespenster aussehen sollen. In der Dämmerung ist das vermutlich gruseliger. Tagsüber hat dieser Wald gar nichts Unheimliches, er ist einfach nur Faszinierend.

Der Abgrund ist vom Radweg nicht zu sehen, doch mittendrin steht nur wenige Meter entfernt eine Aussichtsplattform für Fußgänger. (Plattform ist vielleicht das falsche Wort, eigentlich sind da nur hölzerne Zäune und geringfügig weniger Bäume.)

Auf einmal hat die Steilküste wieder einen Strand, und der ist gar nicht mal so klein und darf ganz legal über einen Aufgang betreten werden. Von unten ist die Sandklippe noch besser zu sehen. Die sieht richtig edel aus. Sie hat einen marzipanfarbenen Teint und trägt oben eine kurze, dichte Frisur aus Gras und Bäumen, die den Anschein erweckt, ein Friseur hätte sie gleichmäßig zurückgegeelt. Das ist keine Steilküste, sondern eine Styleküste!
Regelmäßige Rillen durchziehen die Klippe. Höchstwahrscheinlich stammen sie von Regenwasser, jedoch sieht das Muster aus, aus würde jemand die Steilküste regelmäßig mit einer Harke verzieren wie einen Vorgarten.

Auf den Gespensterwald folgt das Seebad Nienhagen. Es besteht aus weiteren weißen Villen und begegnet der Gefahr von Klippenabstürzen mit dramatischen Schildern.

Anbei ein Geheimtipp: Wenn Sie in Nienhagen kurz vor Silvester spazieren gehen, können Sie beobachten, wie jemand erstmals einen Paragliding-Schirm ausprobiert, den er zu Weihnachten bekommen hat. Dazu gleitet er auf dieser Wiese immer wieder hin und her, über den Wald traut er sich nicht und auf das Meer nur ein bisschen. Anfangs fliegt er langsam und vorsichtig, dann immer mutiger. Ein tolles Unterhaltungsprogramm, mit dem Sie sogar ihre Kinder von der Idee eines Spaziergangs bei Eiseskälte überzeugen können. Zumindest für zwei Minuten.

Hinter Nienhagen sieht der Wald deutlich normaler und die Steilküste etwas grobschlächtiger aus. Ein Abwasserrohr ergießt sich auf den Strand.
Der spektakulärste Teil liegt hinter uns, doch es ist immer noch ziemlich toll. In regelmäßigen Abständen lädt eine Treppe zum Erkunden des Meeres ein, und meine Freundin war fest entschlossen, viele dieser Einladungen anzunehmen. Aber nicht alle. Sonst wären wir erst um 1 Uhr nachts in Rostock angekommen, das wollte sie dann doch nicht.

Die traumhafte Strecke neigt sich dann am Haus Stolteraa so langsam ihrem Ende entgegen. Das Haus ist ein beliebtes Ausflugslokal mit sehr vielen Wellensittichen, welche die Geräuschkulisse maßgeblich beeinflussen.

Natürlich können die Gäste auch über die Klippe blicken, die ist inzwischen aber wieder total zugewachsen. Der Strand ist durch Bäume und Büsche noch zu erkennen, die eigentliche Steilküste dazwischen nicht. Ich hätte nicht gedacht, dass sie ausgerechnet hier mit 18 Metern ihren höchsten Punkt erreicht. So hoch sieht das gar nicht aus.
In der Ferne ist zu erahnen, wie der Wald immer niedriger wird und sich die Abbruchküste in den möglicherweise bekanntesten Strand der Ostsee verwandelt.

Das durften wir aber nicht so genau sehen, denn ab Haus Stolteraa werden die Ostseeradler in die zweite Reihe verbannt. Sie fahren zwischen dem Wald und Kleingärten und kommen dann beim großen Strandmassenparkplatz unter der weißen Kugel eines Meteorologischen Beobachtungsturms heraus. Viele Rostocker Kinder dürften diesen Parkplatz kennen. Es ist der Ort, an dem ihr Vater an so manchem Sonntagnachmittag bei zunehmender Affenhitze irgendeinen Parkplatz gesucht hat.
Von da aus folgt der Ostseeradweg ohne Ostseeblick einfach nur geradeaus der Straße, quer durch den Ort bis zum Bahnhof und zur Fähre. Normalerweise hätte ich mich über eine solche Streckenführung ein bisschen geärgert, aber da ich Warnemünde eh kenne und wir jetzt endlich ans Ziel wollten, war mir das ganz recht.

Dennoch wäre dieser Blog unvollständig ohne ein Bild vom Warnemünder Strand. Die Dünen, Verwehungen und Sandflächen sind dermaßen breit, dass sie sich einst unter Mitwirkung meiner kindlichen Fantasie in eine Wüste verwandelten.
Diese Breite ist auch nötig, denn dieser Strand ist nicht nur der breiteste, sondern auch der vollste der deutschen oder sogar der kompletten Ostsee. Im Sommer ist die Sandwüste übersät mit Strandkörben, Hüpfburgen, Lautsprecherboxen, Bühnen und Menschen, Menschen, Menschen. Dann gehört der Strand voll und ganz den Touristen.
Dahinter speist der kleine Fluss Warnow die Ostsee. Wer seinem Lauf etwa 15 Kilometer landeinwärts folgt oder 25 Minuten S-Bahn fährt, erreicht das Zentrum von Rostock. Von all den kleinen Ostseebädern ist Warnemünde das einzige, das Teil einer Großstadt ist (auch wenn es lange unabhängig war und heute noch ganz anders aussieht).

In Rostock verbrachen wir drei Impf- und Ruhetage bei der Familie. Dabei probierte ich auf einem Streedfoodfestival geröstete Insekten. Sie schmeckten nach Nichts mit Soße.

Vor dem Kröpeliner-Tor-Center (KTC), dem größten Einkaufszentrum der Rostocker Innenstadt, steht eine bemerkenswerte Statue. Der Bildhauer Reinhard Dietrich schuf 1970 das Werk namens Sieben stolze Schwestern küsst das eine Meer. Die sieben Schwestern stellen die sieben Anrainerstaaten der Ostsee dar: Dänemark, BRD, DDR, Polen, Sowjetunion, Finnland und Schweden. Die sollen doch bitte friedlich zusammenleben. (Und wenn nicht, sind eindeutig nicht die kommunistischen Schwestern schuld. Die sind ja friedlich, was diese Plastik beweist.)
Diese Liste ist mittlerweile natürlich nicht mehr ganz aktuell. BRD und DDR sind vereint, während aus der Sowjetunion Russland, Litauen, Lettland und Estland wurden (und andere, die nicht an der Ostsee liegen), sodass wir nun auf insgesamt neun Staaten kommen. 2008 erhielt der Brunnen daher ein nachträgliches Update in Form von neun kleinen Fontänen (rechts im Bild außer Betrieb) zu Füßen der nunmehr vom Kapitalismus umgebenen Schwestern.

Zufällig ergibt die ursprüngliche Statue nur für uns wieder Sinn.
Zwei der Ostseeschwestern kennen wir nun sehr genau.
Bleiben noch sieben.

Sonntag, 12. September 2021

Von Hohen Wischendorf nach Neubukow

Impf-Countdown: Noch 2 Tage

Während der letzten Wochen hatten wir manchmal das Gefühl, als Radfahrer ohne Elektromotor einer aussterbenden Spezies anzugehören. Aber stimmt das wirklich? Heute haben wir einfach mal Räder gezählt. Schon bald stellte sich heraus: Nur haargenau ein Drittel ist elektrisch. Es bleibt die Frage, ob diese Zählung repräsentativ für den deutschen Ostseeradweg ist. Denn ausgerechnet heute war das Wetter trübe, die Strecke vergleichsweise unattraktiv und deutlich weniger Radfahrer unterwegs, darunter überdurchschnittlich viele Alltagsradler aus der Stadt.

E-Bikes: 42
Normale Fahrräder: 84

Die Wismarsche Bucht ist erstaunlich groß. Gestern haben wir mit der Umrundung angefangen, heute machen wir den größten Teil und erst morgen Vormittag werden wir am anderen Ende ankommen.
In dieser Bucht besteht für Radfahrer eine derart hohe Hochwassergefahr, dass dafür extra ein neues Schild entworfen wurde. Allzu hoch sah das Wasser heute aber nicht aus, wir konnten problemlos am Wasser fahren.


Bald darauf fuhren wir sowieso die nächste Steilküste hoch, wo uns das Hochwasser ohnehin nicht so schnell erreichen kann.

An zwei Stellen bietet sich ein Blick über die Klippe, wir haben diesmal aber nur kurz den kleineren Aussichtspunkt angeschaut. Am größeren Aussichtspunkt stand eine Frau mit einem schlafenden Baby, das wir vermutlich in Nullkommanix aufgeweckt hätten.

Nächste Hansestadt: Wismar.
Dort zwangen uns Bauarbeiten zu einem nervigen Umweg durch triste Rentnerviertel. Erst an der Werft kehrten wir in die Nähe des Wassers zurück.

Als zweites zeigte Wismar eine nettere Seite, nämlich einen Park. Zwischen den Ästen der Weiden befinden sich Ententeiche, der Zoo und der Grund, warum alle Kinder in MV gern nach Wismar fahren.

Für sie ist Wismar vor allem eines: Ort des Badevernügens. Hier steht das Wonnemar, das beliebteste Schwimmbad des Bundeslandes. Von dicken Freunden, die in der Rutsche steckenbleiben, bis hin zum plötzlichen Ausfall der Pumpen, der die Rutschen doppelt so schnell macht - ein Mecklenburger Kind kann so manche Anekdote aus diesem Bad erzählen.

Auf dem Marktplatz steht ein rundes Häuschen, welches Wasserkunst genannt wird. Für diese historische Hütte war früher der Kunstmeister zuständig. Bei dem Wort Wasserkunst hätte ich so was wie kunstvolle Fontänen und Wasserspiele erwartet, tatsächlich ist Wasserkunst aber nur ein fancy Name für einen städtischen Wasserspeicher. Aus dem, zugegeben recht kunstvoll gestalteten, Pavillon gelangte das Wasser durch Holzrohre zu öffentlichen Brunnen und privaten Anschlüssen für die Reichen.
Rundherum stehen blassbunte Giebelhäuser. Meine Freundin fand Wismar nicht so schön, ein kleineres und langweiligeres Rostock. Das hinderte sie aber nicht daran, auf dem Marktplatz einen Kaffee trinken zu gehen und dem Kläffkonzert dreier Hunde zu lauschen. Die blassbunten Giebelhäuser erinnern wirklich sehr an den Rostocker Neuen Markt.

In der Altstadt stehen drei Kirchen, die ich mit komplett unterschiedlichen Erinnerungen verbinde.

Kirche Nr. 1 (Nikolai) hat das vierthöchste Kirchenschiff Deutschlands, aber eine Kindheitserlebnis hat sie mir ziemlich vermiest. Sie hängt damit zusammen, dass ich dringend auf Toilette musste, aber vor den strengen Augen der Klofrau die benötigten 50 Cent nicht mehr aus meinem Kinderportemonnaie zusammenkratzen konnte.

Kirche Nr. 2 (Georgenkirche) ist hoch, nüchtern, eindrucksvoll und die beste. Zum einen fährt hier ein Fahrstuhl zu einer 35 Meter hohen Aussichtsplattform (was allein schon genügen würde, um sie zu meiner Wismar-Lieblingskirche zu machen), zum anderen finden innendrin die Jedermann-Festspiele statt. Jedermann ist ein Theaterstück von Hugo von Hoffmannsthal, in dem ein Reicher unerwarteten Besuch vom Tod bekommt und versucht, seine Freundin, sein Geld (personifiziert durch einen fetten Glatzkopf im goldenen Anzug) und alles mögliche mitzunehmen. Spoiler: Es klappt nicht. Nur seine Werke (personifiziert durch eine sträflich vernachlässigte, schwächliche alte Frau) will ihn begleiten. Die Kirche passt gut zum Theaterstück. Im Hintergrund dreht sich das große Rad des Lebens, bis es sich irgendwann nicht mehr dreht.
2014 war ich dabei, als das zum ersten Mal aufgeführt wurde. Damit trug ich dazu bei, dass wegen der hohen Besucherzahlen eine jährliche Veranstaltung daraus wurde.

Von Kirche Nr. 3, der Marienkirche, steht seit dem Zweiten Weltkrieg bloß noch der Turm. Die restlichen Mauern sind bloß noch einen Meter hoch und bilden ein seltsames Backsteinlabyrinth. Diese Backsteine können übrigens sprechen. Und sie haben Arme. Ja, im Ernst.
Im Turm habe ich mal einen 3D-Animationsfilm gesehen, in dem die Kirche aufgebaut wurde. Dieser Bauprozess wurde erklärt und moderiert von einem der Ziegelsteine. Der zwischendurch auch eingebaut wurde und sich dann wieder aus der Lücke herauswinden musste (eine neue Variation von Jenga). Zum Glück können das nicht alle Steine, sonst wäre die Kirche nach fünf Minuten wieder eingestürzt.

Hinter diesem Turm steht ein Hamsterrad, in dem Kinder sehr gern und freiwillig arbeiten.

Ein Graben aus Feldsteinen und finsterem Wasser umschließt Wismar. Die Enten stehen dem Wasser skeptisch gegenüber,...


...weil es bei Schweinen bereits fatale Wirkung gezeigt hat.

Der Ostseeradweg geht am Hafen weiter. Diese Route kenne ich nur allzu gut, denn das ist die kürzeste Verbindung vom Bahnhof zum Wonnemar-Spaßbad. Als Wismar eine Hansestadt war, wurde hier vor allem Bier und Hering verschifft.
Nachdem die Hanse längst auseinandergebrochen war, die Pest und der Dreißigjährige Krieg Wismar heimgesucht hatten, wurde die Stadt zusammen mit der Insel Poel den Schweden übergeben. Die bauten sie zur größten Festung Europas aus. Irgendwann fiel ihnen aber auf, dass so ein kleines Stück Land auf der anderen Seite des Meeres nicht viel bringt, und sie verpfändeten es an den Herzog von Mecklenburg. (Ganz schön demütigend, der musste über eine Million Taler bezahlen, um das Land zu nutzen, auf dem früher sein eigener Hauptsitz stand.) Als der Vertrag nach 100 Jahren auslief, verzichtete Schweden auf die Rückgabe, und deshalb waren wir heute nicht im Ausland.

Im Hafenbecken liegt die Wissemara. Als in der Nähe der Insel Poel ein Wrack gefunden wurde, haben experimentelle Archäologen das uralte Segelschiff nachgebaut. Sie mussten allerdings einen Hilfsmotor einbauen, denn das ist gesetzlich vorgeschrieben, experimentelle Archäologie hin oder her. Ab und zu probieren sie aus, wie es war, damals zu segeln, ansonsten können Touristen darauf herumklettern.
Was für ein Schiff hier eigentlich nachgebaut wurde, ist immer noch nicht so ganz klar. Wissenschaftler untersuchten das verwitterte Holz und fanden heraus, dass es aus Danzig kommt, ach nee, falsch, aus Finnland, und dass es sich um eine spezielle Art der Hansekogge handelt, ach Quatsch, das Ding ist doch erst 100 Jahre nach dem Niedergang der Hanse entstanden.

Am Bahnhof von Wismar ließen wir den Zug vorbeifahren und zwängten uns an einer besonders großen Baustelle vorbei. Anscheinend wollten die Wismarer noch schnell ihre halbe Stadt umbauen, damit meine Freundin doch noch ihr Urteil über Wismar ändert.

Als nächstes fuhren wir eine Weile durchs Industriegebiet, wo es seltsamerweise deutlich ruhiger zuging und intensiv nach Holz roch.

Auf einmal bogen wir ab und wechselten schlagartig vom Grau ins Grün (nur der Himmel blieb grau). Ein großer Erdwall schirmte die Industrie von unseren Augen ab. Wir radelten daneben durch eine sumpfige Landschaft, vorbei am Faulen See. Diese Gegend ist voll kleinen Gewässern, die keine Lust auf Arbeit haben - der Name Fauler See findet sich immer wieder auf der Landkarte.

Dieser Sumpfschlenker ist aber nur eine Ausnahme, die restliche Route geht immer an der Straße entlang. Die Strecke ist super ausgebaut, aber (anders als gestern) eher eine funktionale Verbindung als ein landschaftlich spektakulärer Genussradweg.
Um diese Jahreszeit sind vor allem Tagesausflügler auf dem Ostseeradweg unterwegs, die sich eher die schöneren Tage und Strecken herauspicken. Hinzu kommt, dass die Straße (nicht aber der Radweg) wegen Bauarbeiten gesperrt war. Deshalb waren wir die meiste Zeit ganz allein unterwegs.
Ein paar Hügel mit Rasthütten und Meerblick verschönern die Route und bieten gleichzeitig eine Möglichkeit, kreuzenden Traktoren auszuweichen und dabei die Insel Poel am Horizont zu betrachten. In Groß Strömkendorf zweigt der Damm nach Poel ab.

Frisches Mühlenbrot, versprach ein Schild. Das machte mich neugierig. Die Windmühle machte auf mich einen etwas kopflosen Eindruck und sah nicht aus, als könnte sie irgendwas mahlen. Ihre Kappe lag einige Meter entfernt im Gras. Wir liefen nach oben, doch der Mann in der Mühle schickte uns zum Dorfmuseum 500 Meter weiter. Das Schild war ein bisschen irreführend.

Im Dorfmuseum Stove steht eine Scheune voll mit landwirtschaftlichem Zeug. Daneben duckt sich das kleine Backhaus. An mehreren Tag in der Woche entsteht hier leckeres Gebäck, und wir hatten das Glück, dass heute einer dieser Backtage war. Ich habe ganz vergessen zu fragen, ob das Mehl wirklich von der kaputten Mühle stammt. (Ich meine, warum sollte man es sonst Mühlenbrot nennen? Eine andere Mühle habe ich nicht gesehen.)
Zielsicher wählten wir aus, was am leckersten klingt und aussieht - das Zwiebelbrot und die Sesambrötchen. Damit hatten wir instinktiv die Bestseller ausgewählt, verriet uns die Bäckerin. Diese beiden Sorten gehen immer weg wie warme Semmeln.

Wieder haben wir eine neue Übernachtungsform kennengelernt, die Pilgerherberge. An der Mecklenburger Ostsee verläuft nämlich auch die Via Baltica, einer der vielen Jakobswege. Die Herberge im Pfarrhaus ist sehr komfortabel für etwas, in dem das Wort Pilger vorkommt, sogar eine Küche konnten wir nutzen. Anders als in einem Hotel sollen die Gäste ein bisschen selber mit anpacken, zum Beispiel die Dusche reinigen oder die Bettwäsche in die Waschmaschine stecken. Wie das gemacht wird, verrät ein Buch voller heiliger Gebote. (Und der Herr sprach: Ihr sollt die Duschwand erst heiß abspülen, dann kalt und dann wieder heiß, auf dass sie lange durchsichtig bleibe.) Um hier zu schlafen, zeigt man seinen Pilgerausweis vor und spendet fünf Euro. Das Gästebuch verrät, dass sich viele Pilger, die hier ankamen, diesen Luxus wirklich so richtig verdient haben, eine Frau ist zum Beispiel von Bergen auf Rügen hierher gewandert und hat alle vorherigen Nächte bei miesem Nieselwetter unter freiem Himmel verbracht. Respekt, da können wir nicht mithalten.
 

Vor der Dorfkirche von Neubukow praktizierten ein paar Jungs ein besonderes Gebetsritual, das darin bestand, immer wieder mit dem Skateboard über den Friedhof um die Kirche zu sausen.
Wir schlossen die hübsche Dorfkirche mit einem uralten, rostigen und sehr lockeren Schlüssel auf. Sie ist mit einer üppigen Bücherecke ausgestattet und erinnert an die Bernitter (von innen) und die Bützower (der Turm aus der Ferne) Kirche. Der Turm ist 52 Meter hoch. Deshalb war er in den Seefahrerkarten als Wegzeichen eingetragen, obwohl er mehr als fünf Kilometer vom Meer entfernt steht.