NEU: Die andere Strecke durch Dänemark - mit opportunistischer Mikro-Insel

Alsternative: Von Flensburg nach Svendborg

Posts mit dem Label Dänemark werden angezeigt. Alle Posts anzeigen
Posts mit dem Label Dänemark werden angezeigt. Alle Posts anzeigen

Sonntag, 31. Oktober 2021

Bornholm: Von Sose nach Rønne

Bornholm III: Die Südküste

4:30, Sose, Kilometer 93 Ich erwache. Warum erwache ich nur so früh, wenn ich unter freiem Himmel schlafe? In meinem Zimmer kann ich bis um 12 Uhr schlafen, aber an der frischen Luft ist spätestens um 6 Schluss. Es liegt nicht an der Helligkeit, denn unter den Bäumen ist es dunkler als in meinem Schlafzimmer. Muss also die Luft sein.
Möglichst leise mache ich mich auf die Socken.

5:00 Als ich längst wieder an der Straße fahre, klingelt mein Handywecker. Den habe ich vorsorglich gestellt. Es fährt nämlich nur eine Fähre am Tag, also sollte ich die auf jeden Fall schaffen.

Gestern, 19:56 Hier müsste irgendwo die Schutzhütte von Arnager sein. Ich fahre vorfreudig den Feldweg zum Wasser herunter, denn der Meerblick ist traumhaft. Doch aus der Hütte schauen mir bereits Reisende mit halb mitleidigem, halb zufriedenem Gesichtsausdruck entgegen und zucken mit den Achseln. Deshalb bin ich gestern die paar Kilometer bis Sose zurückgefahren.


5:05, Arnager, Kilometer 98 Neben der Straße erstreckt sich der Lufthavn von Bornholm. Um diese Zeit fliegen dort keine Flugzeuge, sondern ausschließlich Vögel. Ihre Landebahnen sind mit extragroßen Pfützen ausgestattet.

5:10 Immer noch Flughafen. So ein Lufthavn ist echt lang.


5:17 Ein Haufen Mülltonnen markiert die Stelle, an der ich die Straße verlassen soll. Hier gibts einen kürzeren und schöneren Weg ins Stadtzentrum, und zwar... wieder eine Bahntrasse? Ich bin nicht ganz sicher, aber könnte sein.
Zunächst bringt mich diese Trasse durch einen normalen Laubwald.


5:23 Und anschließend durch Kleingartenanlagen. Naja, das wars jetzt wohl endgültig mit den besonderen Landschaften.


5:30 Von wegen! Zum Schluss durchquere ich noch einen Dünenpark. Ein paar wenige Nadelbäume wurzeln hier im Sandboden einer extrabreiten Düne, die mehr oder weniger unerkannt in den normalen Erdboden übergeht. Oder steht der ganze Vorort auf dieser Düne?


5:37 Ich schiebe durch den Sand bis zu einer Bank, wo ich eine zweite Frühstückspause einlege. Hier fällt die breite Düne steil zum Wasser ab. Ich genieße den Blick auf strahlende Wolken im Morgenrot und die Mole am Hafen, welche aus aufgeschütteten Steinen besteht. (Da finde ich die Wolken doch schöner.) Dort baggert bereits ein Bagger herum. (Also, auf dem Pier, nicht in den Wolken. Fliegende Bagger gibt es auch im technisch fortschrittlichen Dänemark noch nicht.) Der Baggerfahrer und ich scheinen die einzigen Personen auf der Insel zu sein, die schon wach sind.


5:57 Ich zische an der Festung von Rønne vorbei. Bin ich wirklich schon da?

6:04, Rønne, Kilometer 107 Jap, bin ich. Viel zu früh erreiche ich den Hafen. Darum schaue ich noch eine Weile die schlafende Stadt an und flicke mein Fahrrad.

7:30 Auf meinem Ticket steht Sowohl in Sassnitz als auch in Rønne ist es selbst Check In. Trotz der fragwürdigen Formulierung erkenne ich den Sinn des Satzes und sehe mich nach einem Automaten oder etwas ähnlichem um. Fehlanzeige.

7:45 Etwas, das einem weiblichen Menschen zum Verwechseln ähnlich sieht, taucht auf und scannt die Tickets der Radfahrer. Erstaunlich, wie weit die Robotertechnologie in Dänemark schon ist!

8:00 Die Fähre legt pünktlich ab. 

11:20 11:40, Fährhafen Mukran, Sassnitz, Insel Rügen, Deutschland Die Fähre legt nicht so ganz pünktlich an - ein passendes Willkommen in Deutschland (vor allem, wenn man danach mit der Bahn weiterwill).

Freitag, 29. Oktober 2021

Bornholm: Von Rønne nach Sandvig

Bornholm I: Die Westküste

2019, eurovelo.com Ich lese folgende Nachricht: Ostseeküstenradweg Eurovelo10 wird 107 Kilometer länger! Nanu, so schnell steigt der Meeresspiegel doch nicht an, oder? Nein, stattdessen wurde der Bornholm-Rundweg in den Ostseeküstenradweg aufgenommen. So werde ich erstmals auf die Insel aufmerksam.

11:50, Fährhafen Mukran, Sassnitz, Insel Rügen, Deutschland Wenige Jahre später mache ich spontan eine Turbotour über die Insel. Am Abzweig zum Fährhafen begrüßt ein extrem dicker graubrauner Findling die Reisenden. Ich weiß es noch nicht, aber dieser Brocken stellt im Prinzip einen eindeutigen Wegweiser nach Bornholm dar.

14:30 Ich beende mein Mittagessen und betrete das Außendeck der Fähre Bornholmslinjen. Am Horizont ist schon deutlich eine Küste zu erkennen. Viel mehr aber auch nicht. Wie so oft lässt sich aus der Ferne nicht erahnen, was die Insel zu bieten hat.


15:10, Rønne, Kilometer 0 Die Fähre legt pünktlich an, und die Radfahrer dürfen sogar zuerst runterfahren. Überraschenderweise fragt kein Mensch nach irgendeinem Coronatest oder Impfnachweis.
Hier kommen Fähren aus Sassnitz-Mukran auf Rügen, Køge bei Kopenhagen und Ystad in Schweden. Das Seltsame ist: Die dänische Fähre hat den längsten Weg, den kürzesten hat die schwedische. Polen, Schweden und Deutschland liegen alle näher an der Insel als das restliche Dänemark. Selbst die Dänen fahren lieber via Schweden auf ihre Ultra-Urlaubsinsel.
Über der Bucht ragt der weiße Kirchturm der Hafenstadt Rønne auf. Das ist die Westspitze der Insel.

15:15 Zwischen Alleen und Arkarden suche ich nach dem Stadtzentrum.

15:21 Ach nee, offenbar war das das Stadtzentrum. Ich glaube, hier kommt keine Fußgängerzone mehr.


15:29 Ach doch, da ist eine. Der dazugehörige Brunnen wird von Nacktschnecken umschleimt, ein recht ungewöhnliches Motiv für eine Skulptur.


1683 Dänemarks König Christian V. baut die Festung von Rønne. 10 Kanonen und ein Turm als Munitionslager sollen die Stadt sichern. Er will die ganze Stadt zur Festung ausbauen lassen, aber die friedfertigen Bewohner arbeiten an diesem Plan ungefähr so engagiert wie ein Student an seiner Hausarbeit. Eine komplette Stadtmauer oder so was kommt nie zustande, weil wieder Frieden mit Schweden herrscht.

7.5.1945 Deutsche Soldaten benutzen den Turm als Radiosender. Sie bekommen die Nachricht, dass sie sich ergeben sollen - allerdings nur den Briten. Als unerwartet zuerst die Rote Armee auftaucht, wollen sie nicht kapitulieren, und die sowjetischen Piloten zerstören 90 Prozent von Rønne. Anschließend behalten sie die Insel, schließlich liegt sie ja östlich der Ost-West-Grenze auf dem Festland und wäre ein super Ort für eine Militärbasis. Die Westmächte ignorieren das erstmal.

5.4.1946 Stalin gibt die Insel frei, nachdem die Westmächte seinen Schiffen freie Fahrt in der Ostsee gestattet haben.


15:31 Das sollte als Stadtbesichtigung genügen. Wie komme ich denn jetzt zurück zum Wasser?

15:37 Ich muss da links, oder?

15:42 Ah, da ist die große Straße. Dann ist da hinten das Wasser oder?

15:44 Wow! Ich werde von der Aussicht und vom Wind gleichzeitig umgeworfen.
Der Wind klatscht das Ostseewasser volle Kanne gegen die Westküste. So wild habe ich mein Heimatmeer noch nie gesehen. Kein Wunder, ich war schließlich auch noch nie so weit draußen auf der Ostsee. Hier kann sie mit der Nordsee mithalten.


15:50 Was für ein wunderbarer Waldweg! Wer braucht schon Asphalt? Dieser Weg ist glatt, flach und leer, was will man mehr?
In Zukunft sollen hier Schilder mit einer blauen 10 aufgestellt werden, damit klar ist, dass Bornholm zum europäischen Ostseeradweg gehört. Bis dahin ist die Orientierung aber auch kein Problem, denn hier steht bereits überall eine rote 10. Der dänische Bornholm-Radweg ist die kürzeste Nationalroute des Landes und hat zufällig dieselbe Nummer.

1820 Die Bürger pflanzen den Hasle Lystskov, damit das gnadenlose Meer ausgebremst wird und ihnen nicht so schnell den Sand unter ihren Feldern wegspült. Deshalb ähnelt der Wald einem Park. Es werden exakt so viele Bäume gefällt, dass der Wald weiterbesteht, aber schön hell aussieht.


Bis 1950, Mai-August, 03:00, Hasle, Kilometer 11 Die Bornholmer verdienen ihren Lebensunterhalt noch nicht mit Touristen, sondern mit Heringen. Sie segeln jeden Morgen tierisch früh mit drei Leuten pro Boot raus zu ihren Treibnetzen, in die sich über Nacht Nacht ein paar Heringe verirrt haben. Am Strand warten schon die Frauen und Kinder, um die Fische aus den Netzen zu pulen. Das dauert ewig, aber Heringe sind nun mal das Grundnahrungsmittel schlechthin auf Bornholm. Sie heißen auf Dänisch sild und werden in solchen Öfen geräuchert.


16:27 Ich sehe die ersten Schornsteine von Bornholm. Vergessen Sie Windräder, Klippen oder Leuchttürme - Bornholms Skyline besteht aus eigentümlichen weißen Türmchen, die untenrum an eine Pyramide erinnern. Jeder Ort hat mindestens eine Fischräucherei mit solch einem Schornstein. Die in Hasle liegt besonders eindrucksvoll direkt auf der Steilküste.


16:28 Das dazugehörige Blumenfahrrad sieht zwar schön aus, doch authentischer wäre es, wenn es Heringe hintendrin hätte.

16:35 Dänisches Gelb, wohin man auch schaut, hier kombiniert mit schönen Kletterpflanzen.


16:40 Juhu, ich darf wieder ans Wasser! Dafür wird es immer hügeliger.


16:47, Teglkås, Kilometer 15 Es geht steil bergab und ich darf auf der Straße am Meer fahren. So richtig froh macht mich das aber nicht, denn aus der Karte geht eindeutig hervor, dass es bald noch steiler wieder hochgeht.


17:02 Jep, geht es auch. Uff.


17:04 Ich bin auf einem wilden Pfad gelandet, der verzweifelt versucht, die Steilküste zu bezwingen, bevor sie sich endgültig in eine senkrechte Klippe verwandelt. Seltsamerweise erinnert mich diese Passage an einen Teil des Schweriner-See-Radwegs. In beiden Fällen handelt es sich um den mit gewaltigem Abstand anstrengendsten Teil der Radroute.
Hier sollte doch irgendwo die Jons Kapel sein, eine besondere Landschaftsformation. Aber wo? Ich gehe noch mal ein Stück runter, suche dort, nichts.

17:08 Oben folge ich erstmal dem Wegweiser, der mich weg vom Meer schickt. Dort ist die Kapel bestimmt auch nicht. Verwirrt kehre ich nochmal um.

17:12 Ahaa! In blassem Weiß hat jemand Jons Kapel und einen Pfeil auf einen Stein gepinselt. Während der Radweg super beschildert ist, sind die spektakulären Landschaften, für die meist ein kleiner Ausflug zu Fuß erforderlich ist, nicht ganz so leicht zu finden.

17:15 Verdammt nochmal, zum Glück habe ich diesen Stein gefunden!

Vor langer Zeit (angeblich) wollte der christliche Missionar Jon die Bornholmer von der Bibel überzeugen. Statt Gewalt und Zwang nutzte der clevere und durchaus sympathische Eremit lieber die grundlegenden menschlichen Instinkte aus. Das war nicht nur schneller, ethischer und effizienter, er musste sich dafür auch kaum vom Fleck bewegen.
An der 41 Meter hohen Steilküste machte er es sich in den Höhlen gemütlich, die deswegen Jons Speisekammer, Jons Esszimmer, Jons Schlafzimmer und Jons Sakristei genannt werden. Dort predigte er den Möwen und den Wellen. Auf der Insel sprach sich schnell herum, dass da so ein schräger Typ lebte.


Schon bald kamen dermaßen viele neugierige Insulaner, dass der Platz in der Höhle nicht mehr ausreichte. Jon erklärte ihnen das Christentum von einem 22 Meter hohen Felsen aus, der wie ein Kirchturm aussehen soll (was ich nicht erkannt hätte). Das ist Jons Kapel.


17:18 Ich steige eine steile Doppeltreppe runter (die wurde in weiser Voraussicht schon vor Jahren coronakonform mit einem Hin- und Rückweg gebaut) und bewundere das Panorama. Die mächtigen Felsen werden von Schlingpflanzen überwuchert und bieten eine Kulisse wie in einem Abenteuerfilm. Wieso wurde die Geschichte von Jon eigentlich nicht verfilmt? Zu wenig Action wahrscheinlich. Damals bot allein die Szenerie genug Action, um eine ganze Insel zu bekehren, aber für ein heutiges Publicum. müsste man die Handlung noch etwas aufpeppen.
Zum ersten Mal fallen mir die nicht vorhandenen dänischen Sicherheitsvorkehrungen auf. Am Fuß der Treppe verbietet niemand den Besuchern, einfach den steinigen Strand zu betreten und baden zu gehen, obwohl die Wellen echt brutal gegen die Felsen klatschen. Das ginge in Deutschland definitiv nicht.
Wenn ich den Strand als steinig bezeichne, dann meine ich übrigens nicht irgendwelche Kieselsteinchen, sondern richtig große glatte Brocken, die ich nur mit Mühe hochheben könnte. Das ist mal was ganz anderes als die üblichen Sandkörner am Meer, die ich nur mit Mühe vom Körper entfernen kann.
Im Nachhinein betrachtet ist Jons Kapel tatsächlich die schönste Stelle auf Bornholm. Aber halt, stopp, nicht aufhören zu lesen! Denn es gibt richtig viele Landschaften, die ganz nah herankommen.


17:46 Ich folge jetzt kleinen Straßen durch die Felder. Nicht so spannend, aber mein Bedürfnis an tollen Landschaften ist auch erstmal vollkommen zufriedengestellt.

17:53 Ich seh ein Reh an der See.


17:57, Vang, Kilometer 20 Graubraune Felsbrocken aus Granit sind das landschaftliche Grundelement der Insel. Die Bornholmer haben so viel von den Dingern, dass sie ruhig ein paar entbehren und im Steinbruch Vang Granidbrud abbauen können.


18:08 Für richtige Flüsse ist Bornholm nicht groß genug, aber ab und zu plätschern Bäche ins Meer. Rein theoretisch. Im Sommer sind die alle restlos ausgetrocknet. Daher dreht sich diese süße kleine Wassermühle auch nicht.


18:17 Graubraunen Fels mit Schlingpflanzen hatten wir schon. Im Ravnedalen folgt nun graubrauner Fels mit Heide. Dass ich die Insel Anfang August bereise, entpuppt sich als Vorteil: Die Heide steht sogar in voller Blüte, hier blüht sie anscheinend etwas früher als in Deutschland.


18:26 Ich suche einen Wasserfall. Den will ich hauptsächlich wegen seines Namens sehen, denn er heißt Pissebækken. Besonders gut ist er zwischen den dicht bewachsenen Felsen nicht zu sehen, doch ich erkenne, dass ich hier nichts läuft. Schade. Dass ich die Insel Anfang August bereise, entpuppt sich als Nachteil - oder? Eine kurze Recherche auf Google Maps zeigt, dass hier ohnehin fast nie Wasser fällt. Der Pissebækken scheint inkontinent zu sein.


18:50 Zur landschaftlichen Palette Bornholms gehören auch Sümpfe - ohne graubraune Felsen? Die sind wahrscheinlich im Sumpf versunken.


18:56 Ich strample eine steile Straße bergauf, da erhebt sich auf einmal in Richtung Meer die Ruine der Festung Hammershus auf einem Hügel. Genau so erhebt sie sich auch auf der Website von Bornholm. In der Realität sieht sie wirklich exakt so eindrucksvoll aus wie auf dem Foto. Da die Sonne schon tief am Himmel steht, kann ich sie nicht so gut erkennen. Also steige ich hinauf.

1260 Die Burgruine wird gebaut. Also, damals war es natürlich keine Ruine, sondern eine Baustelle. Vielleicht sah sie damals ganz ähnlich aus, nur mit Baugerüsten und Bauarbeitern obendrauf. Vielleicht aber auch nicht. Die Burg gehörte meistens dem Erzbischof von Lund (in Schweden), auch wenn der dänische König sie ab und zu eroberte.

1526-1576 Die Lübecker bekommen die komplette Insel als Pfand.

1600 Die Burg gehört nochmal kurz dem König von Schweden. Dann wird sie aufgegeben, nachdem ganz Nordeuropa abwechselnd Nordeuropas größte Ruine benutzen durfte.

19:07 Ich durchquere eine Schafweide. Die Ruine rückt nur langsam näher.

1400 Eine klassische Zugbrücke aus Holz überspannt die sechs Meter tiefe Schlucht. Die vergammelt natürlich irgendwann.

19:09 Ich überquere die zweite, steinerne Brücke und passiere die Reste vom Eingangstor. Auf der gegenüberliegenden Seite der Schlucht versteckt sich ein modernes Infozentrum in den Hügeln wie der verborgene Stützpunkt einer Geheimorganisation. Es ist schon geschlossen. Die Festung aber ist rund um die Uhr gratis zugänglich, und dort stehen auch einige Informationen. Die deutschen und englischen Texte sind irgendwie viel kürzer als die dänischen.


19:11 So richtig drin bin ich irgendwie immer noch nicht. Doch immerhin komme ich an ein paar ersten Häusern vorbei, darunter den Überresten vom ältesten Gebäude der Burg.

1500 Das Gerichtsgebäude von Hammershus ist für die komplette Nordhälfte von Bornholm zuständig.


1500 Wer dort angeklagt wurde, verbrachte die Nacht davor in der Regel im besterhaltenen Gebäude der Burg, dem Blommetårnet (Blumenturm). Wenn er Pech hatte, auch die Nacht danach. Dieser Multifunktionsturm war Teil der Ringmauer und gleichzeitig Verlies. Was das mit Blumen zu tun hat, weiß ich auch nicht.
Wenn er viel Pech hatte, baumelte er hinterher womöglich vor der Burg an einem von zwei Galgen oder verlor schwertbedingt den Kopf.


19:14 Noch ein Tor. Beginnt hier endlich die eigentliche Festung?
Auf einem Schild entdecke ich die Geschichte vom schlimmsten Verräter der dänischen Geschichte und seiner feministischen Frau. Beziehungsweise drei Sätze, die einen winzigen Ausschnitt davon verraten. Den Rest lese ich im Internet nach. Ich wundere mich ein bisschen, dass das nicht verfilmt wurde.

1651 Der Minister und Graf Corfitz von Ulfeldt fühlt sich in Kopenhagen nicht mehr sicher. Das einfache Volk mag ihn, aber die Adligen halten ihn und seine Frau für arrogant und verschwenderisch, zumal er als Diplomat nicht so erfolgreich war. Seine Konkurrenten werfen ihm vor, er hätte Geld veruntreut, eine fremde Frau geschwängert und wollte den König vergiften. Das stimmt zwar (wahrscheinlich) nicht, aber die beiden sehen trotzdem Gefahr für ihr Leben und hauen ab.
Die schwedische Königin verpachtet ihm erstmal ein Grundstück in Barth (hey, da waren wir doch diesen Sommer). Weil er bei den Dänen zu unbeliebt geworden ist, läuft Corvitz zu Schweden über: Er leiht dem schwedischen König Geld für einen Krieg gegen Dänemark und überzeugt den Statthalter von Nakskov auf Lolland (hey, da waren wir doch auch diesen Sommer), sich Schweden anzuschließen. 

1660 Als der Krieg nicht wie geplant läuft, werfen die Schweden Corfitz vor, er hätte sie wiederum an die Dänen verraten, und die beiden müssen zurück nach Dänemark fliehen.
Dort werden sie prompt in den Mantelturm der Festung Hammershus gesteckt. Seine Frau, die hochintelligente Königstochter Leonora Christine wird später mit einem sowohl humorvollen als auch religiösen Bericht über die erniedrigenden Haftbedingungen als Schriftstellerin berühmt. Angeblich haben die sich wirklich geliebt. Beide werden des Hochverrats verdächtigt. Leonora weicht im Verhör mit cleveren Antworten aus und sagt, sie hätte nichts gewusst.

1661 Eines nachts binden sie Bretter und Laken zusammen und seilen sich ab. Ein Diener hilft ihnen, stürzt aber in die Schlucht ab. Leonora trägt ihren geschwächten Ehemann aus dem Graben. Durch diese Verzögerungen wird es wieder hell und die beiden werden geschnappt.
Später werden sie gegen einen Treueschwur freigelassen. Ihr Mann nimmt den aber nicht so ernst, fällt sofort in alte Verhaltensmuster zurück und bietet dem Kurfürsten von Brandenburg an, in Dänemark eine Revolte anzuzetteln, damit der Kurfürst König werden kann. Der Fürst verpetzt ihn an die Dänen, Corfitz wird zum Tode verurteilt und stirbt auf der Flucht an einer Krankheit. Dank ihm muss seine Frau in Kopenhagen noch lange im Gefängnis sitzen, bis sie 63 ist. Den Rest ihres Lebens verbringt sie im Kloster Maribo (hey, da waren wir auch diesen Sommer) und stellt ihr Buch fertig.


19:17 Jetzt bin ich richtig drin!
Aus der Nähe sieht die Festung noch abgewrackter aus, als hätte jemand versucht, die Ziegelmauern ungeschickt mit Beton zu flicken. Dabei wurden die von Anfang an als wilder Mischmasch aus Ziegeln und Feldsteinen zusammenmauert.

19:24 Die Aussicht vom Hammershus ist der Hammer. Ich kann im Süden bis zu den Klippen von Jons Kapel schauen und im Norden bis zur Nordspitze der Insel.
Eigentlich ist das keine Spitze, sondern mehr eine Art rundliche Beule. In der Mitte blinkt der Leuchtturm Hammeren Fyr, umgeben von Seen, Wäldern und (Sie ahnen es) graubraunen Granitfelsen. Diese Landschaft heißt Hammaren, und weil sie so einen hammerguten Namen hat, haben auch die meisten anderen Objekte in der Gegend einen Namen, der das Wort Hammer enthält. Zum Beispiel der Hammerhavn, den ich schon deutlich erkennen kann. Dort werde ich möglicherweise übernachten.


19:45 Oder auch nicht. Hier sollte ein dänisches Shelter stehen. Ich erkenne es ganz hinten auf der anderen Seite des Hafenbeckens. Der einzige Weg dorthin ist jedoch ein total unwegsamer Pfad, über den ich mein Rad auf keinen Fall schieben kann. Wenn ich die Augen zusammenkneife, erkenne ich, dass ein paar Wanderer die Schutzhütte schon besetzt haben - oder? Ich habe sowieso wenig Lust, mein Gepäck so weit zu schleppen.


19:47 Ich würde jetzt gern den Hammaren umrunden, doch das ist Radfahrern nicht erlaubt. Daher muss ich unten vorbeifahren und einen anderen Weg nehmen.

19:52 Dieser Weg ist auch nicht schlecht, denn er bringt mich vorbei an zwei Seen. Der Opalsø ist die Art See, von dem ich nur schwer glauben kann, dass so etwas jenseits irgendwelcher Kunstwerke und animierter Filmkulissen überhaupt existieren kann. Felswände! Überall Felswände! Das kreisrunde Wasserloch ist ganz und gar in Granit eingemauert.
Auch hier stehen zwei Shelter, doch eine Pfadfindergruppe hat sie längst in Beschlag genommen. Dass ich die Insel Anfang August bereise, entpuppt sich als Nachteil: Während die Hütten im restlichen Dänemark oft leerstehen, sind auf Bornholm deutlich mehr Menschen bereit, in so was zu schlafen. Das leuchtet ein: Andere Übernachtungen sind hier deutlich teurer und die Aussicht deutlich traumhafter.
Eine Menge Leute campen auf der Wiese in der Nähe. Das ist verboten, doch bei der traumhaften Lage kann ich es verstehen. Ich merke mir diesen Ort für den Notfall vor, will aber zunächst nach einer legalen Übernachtung suchen.


19:53 Der Hammersø ist nicht ganz so der Hammer, der hat statt Felsen nur eine weiße Villa und einen Steg.


20:20, Sandvig, Kilometer 25 Ich strample weitere Straßen auf und ab, bis die Ostküste erreiche. Am Hafen von Sandvig befindet sich ein Campingplatz, den ich mir ebenfalls vormerke.

20:24 In Sandvig dürfen auch Radfahrer auf den Hammeren, zumindest ein Stück weit. Damit sie nicht versehentlich einen der Felsen plattfahren, ist der Wegesrand mit weißen Streifen markiert, die in der Dämmerung beinahe zu leuchten scheinen. Da es immer dunkler wird, sind die tatsächlich ganz nützlich.
Auch am Hammeren ist die Küste felsig, aber anders. Das sind keine steilen Klippen, sondern mehr sanft ansteigende Rundungen, zwischen denen sich der Weg durchschlängelt. Hat auch was.


20:30 Dieser Radweg endet am Leuchtturm Hammerodde Fyr. Ab hier gibts wieder nur einen Wanderweg, was an dem Pfosten mit dem rot durchgestrichenen Fahrrad eindeutig zu erkennen ist. Wars das für heute?



20:34 Nö, ich will noch nicht schlafen gehen, also lasse ich das Rad stehen und laufe noch ein bisschen weiter. An der seltsamen Küste entdecke ich mystische Steinkreise und tausende Steintürmchen, die andere Wanderer aufgestellt haben. So viele von den Dingern habe ich noch nie gesehen! Wer kann schon daran vorbeigehen, ohne einen Stein oben draufzulegen? Ich jedenfalls nicht.


20:43 Unerwartet stoße ich sogar noch auf eine weitere Kapelle namens Salomons Kapel.
Diesmal handelt es sich tatsächlich um ein Gebäude, oder vielmehr um das, was davon übrig blieb. Ein paar gemischte Grundmauern, ganz ähnlich wie vorhin auf der Festung. Hinzu kommt die Ruine einer Holzkiste.


20:45 Hier könnte man sicher einen ganzen Tag herumwandern, aber ich will ja auch nicht in kompletter Finsternis einen Schlafplatz suchen.

21:30 Ich fahre ein Stück auf der Straße zurück und mache es mir auf einem Naturlagerplatz auf dem Langebjerg bequem. Nun ist es fast dunkel, in der Ferne blinkt der Leuchtturm der Nacht entgegen, die dunklen Wälder des Hammeren rauschen. Ich mag nicht dieselbe traumhafte Aussicht wie die Pfadfinder am Opalsø haben, aber auch hier oben ist es echt schön. Wer im Norden Bornholms einen Schlafplatz ohne besonderen Blick haben will, der muss lange suchen. Aber warum sollte man das wollen?

Samstag, 31. Juli 2021

Von Genner nach Flensburg

Unser letzter Dänemark-Tag begann mit einer hübschen gelben Wassermühle. Sie versteckte sich zwischen zwei steilen Hügeln im Wald.


Einen etwas befremdlichen Eindruck hinterließ bei uns der Ort Løjt Kirkeby. Hier vollführte gerade irgendein Kindergartenclown ein rätselhaftes Ritual auf dem Schulhof. Er hängte Fahrräder an eine eigenartige Skulptur oder ein Klettergerüst oder was auch immer, tanzte drumherum, hantierte an den Rädern herum und betätigte ab und zu eine Fahrradklingel.
Nebenan wurde die Straße neu geteert. Es standen ein paar Warnschilder herum, aber so richtig abgesperrt war die Fahrbahn nicht, obwohl der frische Asphalt noch dampfte. Wir schoben unsere Räder lieber auf dem Bürgersteig. Schon dort war die Hitze kaum erträglich: Von oben brannte die Sonne und von unten der Boden. (Wären wir doch nur an einem kalten Tag an dieser Straße vorbeigekommen, dann hätte uns die Baustelle schön durchgewärmt.) Auf einmal überholte uns ein elektrischer Rollstuhl. Sein Fahrer entstammte offenbar dem Hause Targaryen oder hatte eine hitzeresistente metallische Haut (die so schwer ist, dass er im Rollstuhl sitzen muss - das ergibt Sinn). Ohne zu zögern steuerte er mitten durch die flammendheiße Hölle, zwischen den Dampfschwaden des frischen Asphalts hindurch.

Auf den nächsten Abschnitt freute ich mich besonders, denn es handelt sich um einen Bahnradweg namens Knapstien. Hier fuhr einst die... äh... Æ Kleinbahn nach Abenraa. Der größte Teil des Knapstien ist ein Wanderweg, erst auf den letzten Kilometern stößt der Ostseeradweg dazu. Zuerst sind wir unten durchgefahren, ein altes Viadukt aus Feldsteinen macht's möglich. Es liegt im Dorf mit dem passenden Namen Ste(i)ntofte.

Bald darauf verließen wir die Straße und schoben die Räder einen steilen Pfad aus Gras hinauf. Puh, jetzt kann der Spaß beginnen!
Diese Bahntrasse ist etwas schmaler als auf die auf Lolland, schließlich fuhr hier nur eine Kleinbahn. Der Kiesweg ist überaus grün, schattig und abwechslungsreich. Wir sahen weite Wälder, Kuhweiden, einmal kurz das Meer und zum Schluss die ersten Einfamilienhäuser von Abenraa. Ich sollte allerdings erwähnen, dass wir das alles nur durch die Bäume hindurch sahen. Das bedeutet, wir konnten es nur so halb erkennen und die Kamera gar nicht. Die Fotos vom Knapstien sehen dementsprechend alle gleich aus.

Einzige Ausnahme ist dieser Betonrastplatz am Ortseingang (hinter der Hecke verbirgt sich das erste Haus der Stadt).


Der Knapstien brachte uns direkt in die Großstadt Abenraa (unnötige Eindeutschung: Apenrade). Das war mal eine bedeutende Handelsstadt, was man zum Beispiel am Zollamt erkennt. Es wurde mit extravielen Schutzdächern gebaut, damit die Leute möglichst gut vor der heißen karibischen Sonne geschützt werden. Nun liegt, wie der eine oder andere vielleicht weiß, Dänemark gar nicht in der Karibik (obwohl es genauso viele Inseln hat). Der Bauplan war eigentlich für ein Zollamt auf den Jungferninseln gedacht, aber irgendwer hat die Pläne durcheinandergebracht, keiner der dänischen Bauarbeiter hat etwas gemerkt und jetzt gibt es dieses Gebäude halt zweimal. Bei der heutigen Hitze haben sich die Mitarbeiter bestimmt über den Fehler gefreut - der angesichts der globalen Erwärmung langfristig gesehen gar kein Fehler war.

Abenraa ist ein bisschen hügelig. Deshalb beschlossen wir, die Räder am Rand der Altstadt anzuschließen und einen Spaziergang zu Fuß zu unternehmen. Die Stadt besteht ähnlich wie Svendborg und Haderslev aus bunten Häusern mit einem bunten gastronomischen Angebot, das unsere Pläne sehr schnell von Lass uns kurz in eine Café setzen zu Lass uns richtig was essen änderte. Wo sonst kann man in einem dänischen Restaurant großartiges indisches Essen mit belgischen Waffeln zu Nachtisch verspeisen? Das nenne ich mal internationale Küche.

Völlig vollgestopft erhoben wir uns wieder und kehrten zu unseren Rädern zurück. Verdammt, wo sind die denn? Diese Straße hier kommt mir überhaupt nicht bekannt vor. Lass uns nochmal zurück zum Marktplatz gehen.
Erst beim dritten Versuch entdeckten wir die richtige Gasse.

In Abenraa stand auch noch ein anderer wichtiger Punkt an: Meine Freundin brauchte einen Coronatest für die Einreise nach Deutschland. In einem niedrigen grauen Glaskasten im Gewerbegebiet befand sich das Testzentrum von Abenraa. Zum Glück ist Dänemark eines der drei europäischen Länder, wo auch Ausländer sich kostenlos und (fast immer) ohne Termin testen lassen können. Die dänische Regierung veröffentlicht im Internet eine Karte, wo alle Testzentren mit Öffnungszeiten zu finden sind. (Deutschland hat zwar mehrere solcher Karten, aber die sind so unvollständig, dass es ein ausgesprochen seltenes Phänomen darstellt, wenn zwei davon dasselbe Testzentrum anzeigen.) Dänemark ist halt super. Das beweist auch das folgende historische Ereignis:
Vor langer Zeit erließ der dänische König ein Gesetz, dass im ganzen Land in regelmäßigen Abständen ein Kro (Krug), also ein Gasthaus für Reisende, errichtet werden muss. Während dies auf der Insel Møn offenbar bis heute nicht umgesetzt wurde, sind auf dem Festland immer wieder Hotels zu sehen, die sich noch als Kro bezeichnen. Einer davon steht direkt am Aabenraa Fjord neben der Müllverbrennungsanlage.

Da ist dieser weiße Kro doch wesentlich schöner gelegen!
Weil die Zeit langsam knapp wurde, haben wir die Wegführung der Karte (die eh nicht am Meer langgeht) ignoriert und sind der großen Straße gen Süden gefolgt. Der Radweg war zwar nicht immer so super, aber zumindest kamen wir schnell voran. Am Wegesrand sahen wir einige Süßwasserseen und eine Eisenbahnstrecke ohne Schwellen. Jedes Mal, wenn wir in den Schatten der Bäume eintauchen konnten, atmeten wir erleichtert auf.

Kurz vor Kruså (Krusau) wurde der Radweg an der Hauptstraße wieder schöner. Den durften wir sogar doppelt fahren, weil wir einen Fahrradhelm auf dem Rastplatz liegen ließen.

Über eine Straße und einen schmalen Bahnradweg gelangt man hier zwischen die unauffälligen Spießerhäuser von Padborg. Der Ort liegt schon ziemlich weitab der Ostsee, aber es ist halt die letzte Stadt Dänemarks, Grenzbahnhof und offizieller Start des dänischen Ostseeradwegs, deshalb erwähne ich ihn trotzdem kurz.
Bei so viel Ruhe würde man nicht vermuten, dass der Ort vor allem für Militärisches bekannt ist: Ein Nazi-Lager für dänische Widerstandskämpfer und die Schlacht von Bov, bei der die Dänen 1848 die Deutschen im Kampf um Schleswig zurückschlugen. So, das reicht dann aber auch zu Padborg.

In Kruså kamen wir also am Grenzübergang heraus. Seit 1920 verläuft die Grenze hier. Anfangs arbeiteten die dänischen Zöllner in einem Kro und die Deutschen in einer Bretterbruchbude, bevor beide Länder richtige Gebäude errichteten. Da drüben beginnt schon Deutschland. Aber wären wir hier schon rübergewechselt, dann wären wir auf einer Autobahn gelandet.

Wir sind doch Ostseeradler, und deshalb überqueren wir die Grenze an der Ostsee!
Das war aber gar nicht so leicht, denn immer wieder wären wir um Haaresbreite zu früh in Deutschland gelandet. Einmal wunderte ich mich, wieso direkt vor unserer Nase schon ein deutsches Fahrradschild aufragte. Dann begriff ich, dass die Viehsperre zu meinen Füßen, ein kleines unauffälliges Gitter, offenbar die Grenze darstellte.
Dahinter ist der Kruså alias die Krusau, ein deutsch-dänischer Bach, die Grenze. In einem Bett aus schwarzem Schlamm wälzt sie sich durch einen hellen Wald. Dieser Wald gehörte bis 2006 der Stadt Flensburg, die ihn aus Geldmangel an einen dänischen Privatmann verkaufte. Heute gehört er dem dänischen Naturfonds. Viele Arten gibt es in Dänemark ausschließlich in diesem Wald, weiter nördlich ist es schon zu kalt für sie. Einige Meter vom Bach entfernt holperten wir über Stock und Stein auf und ab. Dieser Weg heißt Gendarmenpfad, denn hier patrouillierten bis 1958 Gesetzeshüter auf der Suche nach Schmugglern. Sie lebten in einfachen Häusern direkt an ihrem Grenzabschnitt, den sie so gut wie ihren eigenen Garten kannten, weil es ja quasi ihr eigener Garten war. Angeblich war es für sie Ehrensache, ihre Waffe nicht zu ziehen, ein echter Gendarm verhaftete jeden Schmuggler einfach mit Autorität und Charme.
Die EU hat die Gendarmen überflüssig gemacht, doch das Coronavirus hat sie zurück auf ihren Pfad gebracht. Noch vor dem Wald saßen, halb im Gebüsch verborgen, zwei Gendarmen in einem dänischen Polizeiauto. Sie winkten uns freundlich durch. Vermutlich waren sie mehr an Reisenden interessiert, die in die andere Richtung unterwegs waren. Später versperrte uns ein seltsamer Zaun den Weg, den wir erst umständlich öffnen mussten. Er verlief nicht entlang der Grenze, also sollte er wahrscheinlich das Wild im Wald schützen.

Endlich kamen wir an der Ostsee heraus, genauer gesagt an der Flensburger Förde. Langsam hatten wir das Gefühl, der Gendarmenpfad nimmt gar kein Ende. Tatsächlich geht er noch weiter auf der anderen Ostsee-Route durch Dänemark. Wir wären am liebsten auch noch weiter durch Dänemark gefahren, so toll fanden wir das Land. Irgendwann fahren wir vielleicht auch mal die andere Variante. Aber jetzt hatten wir schon die längere Tour durch Deutschland geplant.

Und die begann jetzt gleich am Grenzübergang Schusterkate, dem kleinsten Grenzübergang Europas. Er besteht aus einer Holzbrücke über die Krusau, die einzige Brücke, die Deutschland und Dänemark verbindet (und weil sich die Dänen umentschieden haben, dass sie lieber einen Tunnel und keine Brücke nach Fehmarn bauen wollen, wird das auch so bleiben und das kleine Brücklein bekommt doch keine gigantische Konkurrenz). Am Geländer hing gerade eine kleine Ausstellung mit deutschen Karikaturen.
Die Schusterkate selbst ist ein rotes gemütliches Holzhäuschen mit Bootsanlegesteg. Sie steht auf der dänischen Seite, aber der darin lebende Schuster scheint deutsch zu sein. Privatgrundstück! Rasten verboten! schrie uns ein Schild entgegen, als wir gerade überlegten, ob wir nicht direkt an der Grenze eine Essenpause einlegen sollten.

Auf der anderen Seite ging der Schilderwald weiter: Schutt abladen verboten! Ein Schild, auf dem Deutschland stand, gab es nicht (nur einen steinernen Grenzpfosten mit einen D drauf). Wozu auch? Die Begrüßung war unmissverständlich.
Die deutsch-dänische Grenze verläuft ab hier auf dem Meer. Diese Stelle ist übrigens der westlichste Punkt der Ostsee und liegt damit quasi gegenüber von St. Petersburg.

Kupfermühle, das erste deutsche Örtchen, besteht komplett aus süßen Statuen und der besagten Kupfermühle in Kupferrot intensivdänischem Gelb. Sie nutzte die Kraft des Bachs, um aus Messing und Kupfer Rohre für die dänische Marine zusammenzuhämmern.

Kaum zu glauben: In ganz Dänemark haben wir nur einen einzigen Massenstrand gesehen (in Marielyst). In Deutschland dagegen kam schon nach wenigen Metern der Badestrand von Wassersleben. Ob man in dieser Hinsicht Deutschland oder Dänemark besser findet, ist wohl Ansichtssache. Breitere Sandstrände sind schön, auf dem Radweg immer wieder Badegästen auszuweichen, ist nicht schön.
Ich erinnere mich vage, dass ich als Kind mal hier war. Als man mir erklärte, dass da drüben schon Dänemark sei, fand ich es unglaublich cool, auf dem "letzten Spielplatz von Deutschland" zu spielen. Auch diesmal statten wir dem Spielplatz einen Besuch ab, aber nur, um auf der Bank Nudeln zu kochen. Grenzüberquerungen machen außergewöhnlich hungrig.

Privatgrundstück! Ein Bootsclub hinderte uns daran, dem Wasser weiter zu folgen. Wir irrten durch einen Park und durchquerten ein Industriegebiet.

Dann durften zurück ans Meer. Ein paar historische Segelschiffe liegen still in der Flensburger Förde.
Förde ist das deutsche Word für Fjord. Streng genommen ist das nicht richtig, wie ich auf dieser Tour gelernt habe: Ein Fjord entsteht durch Gletscher, die sich in Richtung Meer schieben, bei einer Förde wandern sie in Richtung Land. Aber diese Unterscheidung benutzen bloß Geographen. Die Leute, die die ganze Landschaft benannt haben, haben sich danach gerichtet, auf welcher Seite der Grenze das Wasser liegt. Die Flensburger Förde ist die Grenze, also hat sie zwei Namen: Die Dänen nennen sie Flensborg Fjord.

Die Förde wird immer schmaler und endet schließlich mit ein paar Holzbänken an der Hafenspitze. Die Ostsee hat sich richtig tief ins Stadtzentrum gegraben, und das nur, um ein paar Studenten den idealen Platz zu geben, sich mit Freunden auf eine Flasche Bier zu treffen. Oder?
Nein, ursprünglich diente diese Stelle als geschützter Naturhafen. Anfangs war die Hafenspitze sogar 500 Meter tiefer. Es war nicht so schlau von den Flensburgern, ihren Schutt da reinzukippen, denn irgendwann war das Wasser nicht mehr tief genug für die Schiffe und schließlich verschwand es ganz.
Wenn ein Schiff von hier aus nach Westen wollte, musste es einen komplizierten, teuren (wegen der Zölle) und gefährlichen (wegen der Sandbänke) Umweg durch die dänischen Sunde fahren und eventuell sinken. Dagegen war unsere Radtour durch die dänischen Sunde harmlos. Eine britische Eisenbahngesellschaft baute 1854 eine Bahnlinie quer durch Schleswig-Holstein, um die Dänen zu umgehen. Drei Jahre später schafften die Dänen den Sundzoll ab. Ein Zufall? Wohl kaum. Eine Weile teilten sich die Dänen und Briten die Einnahmen der Flensburger Schiffe, nach 13 Jahren wurde die altersschwache Bahn wieder abgebaut.

Parallel zur Förde verläuft die Fußgängerzone mit dem alten Rathaus. Das eine oder andere alte Gebäude ragt hier krumm und schief in die Straße hinein.

Flensburg liebt dich, wie du bist! verkündet ein Plakat. Das ist doch eine weitaus nettere Begrüßung. (Aber wenn du mich wirklich liebst, Flensburg, warum hast du mir dann diese entsetzliche öffentliche Toilette angetan? WARUM?)
Die Nähe zu Dänemark ist noch deutlich zu spüren - eine Buslinie fährt bis Kruså, viele Schilder sind zweisprachig, in der Fußgängerzone steht dänische Bibliothek und selbst am Bahnhof steht auf dem blauen Schild Flensburg Flensborg - nur für den Fall, dass die Dänen den Namen wegen des einen unterschiedlichen Buchstabens nicht verstehen sollten.
Jung und studentisch, hip und historisch - Flensburg scheint eine passende Stadt für unsereins zu sein. Dazu passt, dass in Flensburg schon immer viel Rum gehandelt und gemixt wurde - und dass unser Reiseführer zu Flensburg eine komplette Spalte nur über Beate Uhse schreibt, die hier den ersten Sexshop der Welt gegründet hat.
Über der Straße hängen Schuhe, die, vermute ich mal, auf ein politisches Anliegen aufmerksam machen sollen.

Und die Fahrräder sind bereits warm eingepackt, damit sie auch im Winter fahren können.

Jetzt durchqueren wir Schleswig-Holstein. Das Gute daran ist: In diesem Bundesland kenne ich mehrere herzensgute Menschen, die nach einem Anruf ohne zu Zögern bereit waren, uns kurzfristig eine überaus komfortable Übernachtung zu gewähren. Ohne sie wäre diese Tour längst nicht so schön geworden. Nur: Die wohnen nicht direkt am Meer. Um unsere lange Strecke nicht noch weiter zu verlängern, griffen wir auf öffentliche Verkehrsmittel zurück.
Am Bahnhof Flensburg Flensborg sind wir eine Station mit dem Zug gefahren und dann noch eine Weile in das Dorf geradelt, wo herzensguter Mensch Nr. 1 lebt, meine Tante. Sie begrüßte uns selbstverständlich mit: "Na, ihr Weltreisenden?" (Wenn sie den Spruch nicht gebracht hätte, wäre ich auch enttäuscht gewesen.) Den Rest des Abends verbrachten wir damit, fast alles aufzufuttern, was im Haus an Lebensmitteln vorrätig war. Grenzüberquerungen machen wirklich, wirklich hungrig.
Wir schliefen zwei Nächte in einem Wohnmobil namens Klaus-Peter, das sogar wasserdicht war - wenn auch nur, weil eine Plane darauf lag. Nach unserem Zelt war es trotzdem der reinste Luxus. Einen Ruhetag verbrachten wir damit, Wäsche zu waschen, noch mehr zu essen und auf der Terrasse die Sonne zu genießen. Außerdem ließ ich mich im Dorffreibad, wo wirklich jeder jeden kannte, anstarren. Ich war vermutlich der erste auswärtige Besucher seit mindestens 140 Jahren.

Die andere Route durch Dänemark (gefahren 2024) finden Sie hier.
Die große Ostseereise von 2021 geht hier weiter durch Deutschland.