NEU: Die andere Strecke durch Dänemark - mit opportunistischer Mikro-Insel

Alsternative: Von Flensburg nach Svendborg

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Samstag, 4. September 2021

Von Eckernförde nach Kiel

Impf-Countdown: Noch 10 Tage

Gestern erwähnte Frau Schlegel zufällig, dass die Kieler Woche bald beginnt.
Das hat uns überrascht.
Ich wusste nicht viel über diese Veranstaltung, nur dass es irgendwas ähnliches wie die Hansesail ist.
Tatsächlich startete die Woche genau heute. Und zwar in Eckernförde. Und zwar damit, dass ein gewaltiger Schwarm Segelschiffe von der Eckernförder Bucht in die Kieler Förde rübersegelt. Also genau dieselbe Strecke, die wir heute fahren. Was für ein irrsinnig toller Zufall ist das denn? Wir können mit einer kompletten Segelregatta (oder wie auch immer man das nennt, ich habe keine Ahnung vom Segeln) um die Wette fahren!
Natürlich verloren wir. Das machte aber nichts, denn es waren so viele Segelschiffe, dass bis weit in den Nachmittag immer neue hinterherkamen, gegen wir die dann auch noch verlieren konnten. Zum Glück für die Segler (glaube ich, aber wie gesagt, so genau weiß ich es nicht) wehte der Wind schön kräftig. Eine unübersichtliche Menge an weißen Dreiecken kreuzte über das Meer und ließ die Ostsee ganz spitz und stachelig aussehen.

Anfangs konnten wir die Segler super beobachten, solange es an der Eckernförder Bucht entlangging.

Als nächstes sind wir in einen Forst eingetaucht, der unter dem Namen Begräbniswald auch als Friedhof dient. Schon gestern hatten wir Werbung für eine Bestattung in diesem speziellen Wald gesehen.
Der Begräbniswald ist ein bisschen hügelig. Insgesamt ist die Landschaft seit der Flensburger Förde aber schon deutlich flacher geworden, kein Vergleich zu Jütland.

Je näher wir der Großstadt kamen, desto freundlicher wurde die Menschen. Das erkannte ich daran, dass sie ihr Meckern zu einem fröhlichen "Moin!" verkürzten.
Hinter dem Wald sind wir eine ganze Weile auf einem einem Straßenradweg gefahren. Ab und zu erspähten wir am Horizont die Ostsee mit ihren weißen Segelspitzen.

Aber erst in Strande konnten wir den Trubel auf dem Wasser wieder besser beobachten. Hier liegt der Eingang zur Kieler Förde, und das bedeutet, hier muss jedes Schiff durch, vom gewöhnlichen Paddelboot über Ausflugsschiffe, Hafenrundfahrten, all den städtischen Fähren, die im Zickzack von Vorort zu Vorort fahren, internationalen Ostseefähren bis hin zu Container- und Kreuzfahrtriesen - die zusätzlichen Segelschiffe der Kieler Woche sind da noch gar nicht eingerechnet. All diese großen und kleinen Pötte dringen von hier aus bis in die Innenstadt vor.
Ich hatte den Eindruck, dass bei der Kieler Woche weniger hölzerne, historische Schiffe dabei waren als auf der Hansesail in Rostock, dafür aber viel mehr gewöhnliche weiße Boote von normalen Seglern, die einfach aus Spaß an der Freude mitmachen. Ein in edlem Grau gemustertes Segel stach unter all den weißen Einheitssegeln heraus.

An Land war genau so viel Trubel wie im Wasser. Mitten im Durcheinander von Menschen, Schiffen, Kinderwagen und Musik fanden wir eine freie Bank und kochten Nudeln und wuschen ganz nebenbei und unbeabsichtigt Teile der Bank mit kochendem Wasser.
Dass hier schon immer viel gesegelt wurde, zeigt auch folgende Tatsache: Wann immer irgendwo in Deutschland Olympische Spiele stattfanden, wurden die Segelwettkämpfe nach Kiel ausgelagert (denn die Spree und die Isar reichen dafür nicht). Das ist noch heute an den ollen Bauklötzen zu erkennen, in denen einst die Athleten gewohnt haben und die heute euphemistisch Olympisches Dorf genannt werden.

Beim zweiten Mal wurde dieses Dorf natürlich nicht nochmal benutzt, es musste ein neues Haus gebaut werden, das noch heute die olympischen Ringe trägt.

Wir irrten noch eine Weile durch die Vororte, bis wir wieder ans Wasser durften. Die Radwege waren zwar in Ordnung, aber so richtig Spaß gemacht hat es trotzdem nicht. Dafür war zu viel Verkehr. An einer Stelle wollte ich den Weg abkürzen. Ich wusste, dass wir an einer Kirche wieder links abbiegen müssen, nur war diese Kirche entweder unsichtbar oder sehr klein, auf jeden Fall sind wir viel zu weit gefahren. Als wir versuchten, doch noch zurückzufinden, drehten wir eine komplizierte Schleife durch einen Park, bis wir wieder einen Ausgang fanden. Alles, was wir durch die Abkürzung an Strecke gespart hatten, war spätestens jetzt wieder futsch.

Außerdem hat uns Reichskanzler Bismarck noch ein kleines Hindernis in den Weg gebaut: Der Nord-Ostsee-Kanal zweigt von der Kieler Förde ab. Der Kanal sollte hauptsächlich bewirken, dass die Kriegsschiffe in Kiel und Wilhelmshafen im Notfall schnell vereinigt werden können. Aber nach wenigen Jahren war das auch ohne Krieg die meistbefahrene künstliche Wasserstraße der Welt.
Wie kommen wir da nur rüber?

Instinktiv hätten wir vermutlich die nächste Brücke überquert, aber die führt nur zu einer Insel. Stattdessen folgten wir der Allee am Kanalufer, bis die Insel mit der Schleuse hinter uns lag.

Dann reihten wir uns in eine Schlange für die Fähre Adler V ein. Leider tuckerte gerade ein irrsinnig großes und irrsinnig langsames Schiff vorbei. Es wurde von einem Lotsen durch den Kanal gelotst, denn anders dürfen die Pötte hier nicht durch. Deshalb konnte die Fähre nicht zu uns rüberkommen. Und bei der langen Schlange waren wir nicht mal sicher, ob wir es überhaupt auf das nächste Schiff schaffen.
Da sprach uns plötzlich eine nette Kielerin an: "Suchen Sie ein Zimmer?" Sie bot nämlich auf der Plattform Warmshowers Übernachtungen an. So ein Pech, gestern hatten wir schon ein Zimmer gebucht und bezahlt - die einzige Nacht in Deutschland, wo wir uns so richtig was gegönnt haben, und dann bekommen wir aus heiterem Himmel ein Gratisangebot. Weiterhin erfuhren wir, dass die Fähre gratis ist (erstmal das Portemonnaie wieder wegstecken) und dass wir auch die Brücke da hinten hätten nehmen können, das ist nämlich gar keine Autobahnbrücke (zu spät, jetzt kommt die Fähre schon).

Wir standen ein bisschen unter Zeitdruck, denn der letzte Coronatest aus Kappeln war um 18:13 Uhr genau 48 Stunden her und damit nicht mehr gültig. Wir hatten keine Lust, unseren einzigen Abend in Kiel mit der Suche nach Testzentren zu verbringen. Deshalb haben wir eine Abkürzung genommen und sind auf direktem Weg ins Zentrum geeilt. Wie sich herausstellte, vollkommen unnötig, denn es war niemand im Hotel. Das Luxx-Hotel funktionierte genau so wie der Shelterplatz Millinge Klint: Per E-Mail bekamen wir eine Türcode, mit dem wir uns allein hereinlassen konnten. Damit hörten die Ähnlichkeiten mit Millinge Klint zum Glück auch schon auf. Das Zimmer war modern, gemütlich und direkt über der Fußgängerzone. Was für ein tolles Gefühl, abends faul in eine superweiche Matratze im warmen Zimmer sinken zu können! Erst durch die wilden Übernachtungen der letzten Wochen waren wir in der Lage, aus jedem Cent, den wir für diese Nacht ausgegeben haben, den maximalen Genuss herauszuholen. Wir duschten ausgiebig und schauten uns den Rest des Abends auf dem Bett einen Film an. Es war kaum zu glauben, dass wir so ein schönes, zentrales Zimmer in der Kieler Woche spontan buchen konnten - während der Rostocker Hansesail wäre das undenkbar, und schon gar nicht zu einem bezahlbaren Preis!
Das mit der Fußgängerzone ist allerdings nicht ganz so cool, wie es klingt: Aus irgendeinem Grund war da abends so gar nichts los. Das Eiscafé direkt vor dem Haus machte gerade zu, und alles andere war schon zu. Damit hatte ich nun wirklich nicht gerechnet, ich dachte, Kiel sei eine richtige Großstadt.

Das Rätsel löste sich teilweise, als wir am nächsten Tag die Kiellinie erkundeten. Das ist eine Hafenstraße am Wasser, wo die Kieler Woche hauptsächlich stattfinden sollte (und wo der Ostseeradweg eigentlich entlangführt). Es standen ein paar Fressbuden, der Stand eines Bildhauers und eine einsame kleine Bühne eines Radiosenders herum, aber insgesamt wirkte es trotzdem sehr leer.
Die Kieler haben für ihre Woche nämlich ein ganz anderes Coronakonzept: Statt wie in Rostock mehr oder weniger das übliche Programm mit Beschränkung der Besucherzahl und Einlasskontrolle zu machen, haben die Kieler ihre Woche auf ein Minimum reduziert.

Auch lagen weniger Segelschiffe am Hafen, als ich das von Rostock gewohnt war. Es ist ja ein Kernelement dieser Segelfeste, dass die Besucher so viel Eintritt wie bei einem Freizeitpark bezahlen, um auf einem der Segelschiffe mitzufahren. Als wir uns umsahen, waren die meisten Schiffe gerade zur Vormittagsfahrt ausgeflogen, mit etwa 25 Euro pro Nase ist das noch der mit Abstand günstigste Tarif.

Die Kulturstadt Kiel begeistert mit musikalischer Vielfalt: Ein Segler schmetterte ein Seemannslied, während er irgendwelche Arbeiten am Boot verrichtete. In der Fußgängerzone hingegen sang ein Musiker mit Gitarre dieses Halleluja-Lied, das einfach überall gesungen wird, wobei er das "Halleluja" in "Deine Mudder" umschrieb (den Rest habe ich nicht verstanden, er hat zu sehr genuschelt).

Wir hielten ein paar Minuten an, um die Seehunde im Becken der Seehundestation zu beobachten. Sie  leben in echtem Ostseewasser, pro Stunde werden 50 000 Liter aus der Förde ins Becken und wieder zurückgepumpt. Darin schienen sie sich wohlzufühlen, sie paddelten hin und her und auf und ab, über und unter Wasser, mal wie schnelle menschliche Schwimmer, dann wieder mehr wie große Fische. Selbst auf dem Rücken schaffen sie es irgendwie, sich elegant und zugleich entspannt durchs Wasser zu schlängeln, während ihre Flossen wie gefaltete Hände auf dem Bauch liegen.
Einmal pro Woche muss das Becken von allen Algen gereinigt werden. Die Seehunde stört es zwar nicht, wenn ihr Wasser immer grüner wird, aber die Besucher umso mehr, denn die wollen ja was sehen.

Weiter unten konnten wir nicht direkt am Wasser radeln, weil hier die großen Fähren nach Oslo, Göteborg und Klaipeda fahren. Sie legen direkt neben der Innenstadt ab: Mitten im Zentrum sind auf einmal Fahrspuren, auf denen man sich nach Oslo einordnen kann. Das fand ich erstmal ungewohnt, bisher kannte ich nur Städte, wo der Fährhafen an den Stadtrand ausgelagert wurde - außer in Svendborg, aber das waren ja auch nur regionale Fähren.
Kiel ist keine besonders schöne Stadt, aber auch keine hässliche. Kiel ist einfach nur Kiel, ein Haufen Häuser, die dem Zweck dienen, all den Schiffen auf der Förde einen Landeplatz zu bieten. Auch wenn ich Rostock lieber mag, eines muss ich Kiel lassen: Zum Schiffegucken ist es die beste Stadt, die ich kenne.

Irgendwas Tolles wollte ich in Kiel noch machen, wenn wir schon in der Stadt sind. Sobald ich diesen Gedanken fasse, steht eigentlich schon fest, wo ich am Ende lande: Auf einem hohen Aussichtsturm.
Kurzfristig habe ich uns eine Führung auf den Rathausturm gebucht. Am nächsten Vormittag stellten wir uns vor die Rathaustür zu einer Handvoll Menschen, die sich gleichmäßig aus Einheimischen, Touristen und Mitarbeitern der Stadtverwaltung, die gratis mitkommen dürfen, zusammensetzte. Über uns ragte das Rathaus auf, ein großes Rechteck, aus dem ein Turm aufragt, eigentlich relativ nüchtern, aber trotzdem eines der prächtigsten Gebäude der Stadt. Der Turm kam mir irgendwie bekannt vor. Bald erfuhr ich, wieso: Es handelt sich um eine Kopie des berühmten Glockenturms auf dem Markusplatz von Venedig. Weil die Kieler schneller bauten, war diese 113 Meter hohe Kopie sogar ein bisschen schneller fertig als das Original.
Als die goldene Turmuhr schlug, tauchte ein älterer Stadtführer auf und brachte uns zum ersten Aufzug. Wie ein freundlicher, aber strenger Lehrer gab er ein paar Fakten zum Turm preis und zeigte auf einer Karte von Kiel verschiedene Objekte. Unsere Aufgabe als Schüler bestand darin, sie nachher oben in der echten Stadt zu finden.

Dann wurden wir in zwei Gruppen aufgeteilt und stiegen in einen zweiten, uralten Aufzug. Bei dieser Konstruktion kann ich ausnahmsweise verstehen, dass man nur während einer Führung in den Fahrstuhl darf. Er hat nämlich keine Tür. Das heißt, auf den Stockwerken gab es schon Türen, aber die Kabine selbst hatte keine. Während wir fuhren, hätte man die Hand ausstrecken und über die vorbeifahrende Wand streichen können. Und wäre keine Aufsichtsperson dabei, dann wäre es nur eine Frage der Zeit, bis irgendein Horst den Aufzug mit ein bis zwei Händen weniger verlässt.
Oben angekommen pustete uns eine frische Brise um die Ohren. Wir wanderten einmal um den schmalen Balkon herum, während neben uns ein junger Fotograf im Auftrag der Stadt Bilder knipste. Schnell waren wir uns einig, dass die Seite mit der Förde die bessere Aussicht bot, denn da erstreckte sich nicht nur ein endloses eckiges Häusermeer, sondern ein auch ein richtiges Meer. Auf dieser Seite entdeckten wir auch die meisten der gesuchten Objekte. Ah, da hinten ist der blaue Kran der Werft. Er ist 179 Meter hoch. Seit es ihn gibt, ist das Rathaus nicht mehr Kiels höchstes Gebäude. Aber vermutlich ist es etwas schwieriger, auf den Kran zu kommen.
Und hier vorne sind gleich die zwei Seen, von denen er vorhin erzählt hat.

Zwischen diesen Seen fällt der Blick auf einen Park und eine Fontäne direkt vor dem Rathausturm (den ich aus dieser Perspektive zuerst für einen Kirchturm gehalten habe). Das dürfte der schönste Platz der ganzen Innenstadt sein.
Die Seen waren mal Teil der Ostsee. Sie bildeten eine Halbinsel, auf der die ersten Häuser von Kiel errichtet wurden. Gegründet hat die Stadt Graf Adolf IV. von Schauenburg, weil sein Reich noch keinen Hafen hatte. Das ist natürlich ein bisschen peinlich, wenn das Reich über so viel Ostseeküste verfügt. Unserem Radführer zufolge hat dieser Graf sowieso jedes einzelne Dorf, Kloster oder öffentliche Klo in der Gegend gegründet, vorher muss hier echt gar nix gewesen sein.

Die Verbindung zum Meer ist längst zugeschüttet und überbaut, obwohl ein paar Betonbecken noch erkennen lassen, wie das damals ungefähr aussah.
So richtig kamen die Kieler aber erstmal nicht aus dem Tee, weil die reichen Handelsstädte Lübeck und Hamburg Kiel meistens ausbooteten. Das änderte sich erst mit der Industriellen Revolution, als Industriebetriebe und die Eisenbahn auftauchten, dann wurde noch die Kriegsflotte aus Danzig hierher verlegt und schließlich entstand der Kanal zur Nordsee, Hobbysegler erfanden aus Spaß die Kieler Woche und die Stadt begann so richtig zu boomen.

Überrascht hat mich, dass auch das Freilichtmuseum Molfsee unter den Kieler Sehenswürdigkeiten gelistet war. Als ich es vor Jahren besucht habe, schienen seine weitläufigen Wiesen so ungefähr gar nichts mit jeder Art von Großstadt zu tun zu haben. Mit magersüchtigen Mühlen, bäuerlichen Schaufensterpuppen und historischem Spielzeug zeigt es den einstigen Alltag auf dem Land. Motto: Ausprobieren erwünscht.
 

Freitag, 3. September 2021

Von Steinberghaff nach Schönhagen

Impf-Countdown: Noch 12 Tage

Der erste Radweg des Tages sah aus, als hätte jemand einfach lustlos einen Eimer Teer über die großen Steine gekippt. Etwas me(e)rkwürdig, aber immerhin mit Meerblick.

Nun hat die Zeit des Vogelzugs begonnen. Boah, an dem Strand sitzen ja richtig viele! Und das Verrückte: Der Strand war kein Naturschutzgebiet oder so. Wir hätten zwischen denen einfach so baden gehen können.

Aber kurz darauf gibt es eine ganze Menge Naturschutzgebiet. Dieses Gebiet heißt Geltinger Birk. Die Karte führt da nicht durch, was mir völlig unverständlich ist, und die Schilder weisen es nur als Variante des Ostseeradwegs aus. Nur dank eines Buches mit dem Titel Eskapaden, das Ausflugstipps enthält, bin ich auf diese Halbinsel aufmerksam geworden. Letztes Weihnachten blätterte ich begeistert darin herum und mir war klar: Da radeln wir im Sommer durch.
Haben wir auch gemacht. Es wäre allerdings schlauer gewesen, wenn ich das Buch mitgenommen oder wenigstens die Karte darin abfotografiert hätte. Stattdessen sind wir quasi blind in die Geltinger Birk reingefahren. Den Eingang markiert ein Parkplatz mit kleinem Geschäft, es folgt die Schöpfmühle Charlotte, die nach einer Adligen benannt wurde. (Ich nehme nicht an, dass die hochwohlgeborene Charlotte jemals in der Mühle gearbeitet hat, aber trotzdem war sie halt viel wichtiger als irgendeine zur Namensgebung ungeeignete Müllerin.)
Ich wusste noch so viel: In der Geltinger Birk dürfen Fahrräder nur außenrum am Meer fahren, die Wege innendrin sind Wanderern vorbehalten. Was mir auch völlig ausreicht. Den Wanderern hingegen reichten die inneren Wege nicht aus, sie drängelten sich auch auf der Außenseite.

Das kann ich gut verstehen, denn hier befindet sich ein besonders schöner Teil der Ostseeküste. Auf der Ostseite hat das Meer einen kleinen Sandstrand angespült. Streng genommen ist es ein Sand-Algen-Stein-Strand. Ein grüner und ein brauner Algenstreifen reichen bis zum Horizont, und die Steine verzieren den ganzen Strand mit dekorativen Punkten. So sieht ein Strand aus, den man wirklich der Natur überlässt. Nur ein kleiner Bereich darf überhaupt betreten werden, der Rest ist mit Stöcken abgesperrt. Die vertrauen den Besuchern so sehr, dass sie keinen richtigen Zaun hinbauen. Naja, oder das Geld hat nicht gereicht.
Die Geltinger Birk entstand, als die Ostsee vor 1000 Jahren Sand von der dänischen Steilküste auf der anderen Seite nach Deutschland schmuggelte - gegen diesen dreisten Raub am dänischen Staatsgebiet waren selbst die Gendarmen vom Gendarmenpfad machtlos. Aber es sollte noch mehr als 800 Jahre dauern, bis die angespülte Sandinsel auch mit dem deutschen Festland verbunden war. So lange wollten die Deutschen nicht warten: Sie bauten schon vorher Deiche und Windmühlen, um ihr neues Staatsgebiet zu entwässern und landwirtschaftlich zu nutzen. Bereits im 19. Jahrhundert erkannten sie aber, dass die Natur hier schützenswert ist, und daraus entstand diese bezaubernde Kombi aus Tierweide und Naturschutzgebiet.

Der Rest der Küste besteht aus erstaunlich hellgrünen Wiesen, auf denen ein paar Heidepflanzen in voller Blüte standen. Offenbar hatten wir die perfekte Jahreszeit für die Geltinger Birk erwischt!
Oben an der Halbinsel endet die Flensburger Förde. Wehmütig warfen wir einen letzten Blick auf Dänemark, das sich am Horizont ins blaue Nichts auflöste.
Aber die eigentliche Besonderheit der Halbinsel sind die wilden Weiden. Wilde Weiden – das sind wilde, wunderbar wanderbare Wege durch pure Natur, so ähnlich hatte es das Buch beschrieben. Darauf leben wilde Tiere. Das wäre nicht weiter bemerkenswert, wenn es wilde Schnecken oder Ameisen wären, aber es handelt sich um Pferde. Wildpferde in Deutschland - ist das wirklich wahr? Keine Ahnung, denn wir haben sie nicht gefunden. Wir sahen wilde Ziegen, wilde Schafe, immer wieder wilde Galloway-Rinder und mindestens vier verschiedene wilde Vogelarten, wir sahen so ziemlich jede Tierart außer Pferden.

Die Rinder entspannten sich gern am Seeufer mitten im Vogelschwarm.
All diese Tiere pflegen die Landschaft, indem sie manche Pflanzen abfuttern und anderen dadurch Lebensraum schaffen. Der Thymian verdankt zum Beispiel den Schafen seine großen Flächen.
Aber sind die Tiere wirklich richtig wild? So einigermaßen, zumindest an 355 Tagen im Jahr. Irgendwelche Leute kümmern sich um das Naturschutzgebiet und schauen auch bei den Tieren nach dem Rechten. Einmal im Jahr fangen sie zum Beispiel die Pferde zur Kontrolle ein.
Fest steht: Wenn ich ein Rind oder Pferd sein müsste, würde ich gern hier leben.

Wir radelten immer weiter und weiter am Meer entlang, das Naturschutzgebiet wollte einfach kein Ende nehmen. Immer den Weg ganz außen nehmen klingt einfach, ist es auch, deshalb war die Navigation ohne das Buch kein Problem. Trotzdem hätte ich es wirklich mitnehmen sollen: Zum einen hätte ich dann gewusst, wo genau wir nach den Wildpferden gucken sollen, und zum anderen hätte ich dann nicht so massiv unterschätzt, wie lang die Strecke ist. Als wir die Geltinger Birk verließen, war der Tag weit vorangeschritten. Eigentlich wollten wir heute 70 Kilometer schaffen, doch nun stand fest: Das wird nix mehr. Somit war der einzige Puffer-Tag, der uns bis zum Impftermin blieb, an Tag 2 aufgebraucht. Bisschen früh.

Deutschland kennen wir ja schon von Geburt an. Eigentlich. Deshalb dachte ich, wir lernen auf dieser Reise vorwiegend Dänemark kennen. In Wahrheit haben wir, nachdem wir uns erst einmal auf die dänische Glücklichkeit eingestellt hatten, Deutschland ganz neu kennengelernt.  Hier wurden wir schon angeschnauzt, wenn wir für 0,2 Sekunden auf dem Radweg angehalten haben, um ein ganz kleines verbogenes Teil zu richten, auch wenn links und rechts Zäune waren und noch Platz zum Überholen blieb. Hier wird mit zweierlei Maß gemessen: Wenn ein Rentner mit E-Bike auf dem Weg anhält, um mit einem Dauercamper zu plaudern, obwohl er sich auch auf den Wiesenstreifen neben dem Weg platzieren könnte, ist das völlig okay und er bekommt keinerlei Ärger. Auf den Radwegen Schleswig-Holsteins sind junge und nicht elektrisierte Radfahrer eine Minderheit; an diesen Radlern zweiter Klasse darf jedermann seinen Frust auslassen. Warum auch nicht? Wir leben doch sowieso in einer Rentokratie, in der die Interessen der Älteren im Zweifel vorgehen (solange sie Geld haben). Wieso sollte sich diese Hierarchie nicht auch auf den Radwegen der Bundesrepublik spiegeln?

Hinter der Geltiger Birk durften wir noch eine Weile am Meer bleiben, bis wir bei Pottloch ins Hinterland abbiegen mussten. Eigentlich war das jeden Tag in Schleswig-Holstein so: Den halben Tag fuhren wir am Wasser, die andere Hälfte auf Straßen im Hinterland. Ich will mich nicht beschweren, im Gegenteil - 50 Prozent ist ganz schön viel, deutlich besser als der Großteil Dänemarks.

Am Campingplatz von Pottloch fiel meiner Freundin plötzlich ein: Wir haben auf der ganzen Reise noch kein Eis gegessen! Sofort setzten wir uns ins Café, um das nachzuholen. Als ich die Toilette aufsuchen wollte, meinte der Kellner, ich solle den Schlüssel vom Haken nehmen, im Haus gegenüber eine Kabine auf der linken Seite aufsuchen und unbedingt wieder abschließen. Offenbar teilen sich der Campingplatz und das Café ein Toilettengebäude - drei Kabinen für die Camper, die offen zugänglich sind, und drei sorgfältig beschriftete und abgeschlossene Kabinen für die Cafégäste. Wohlgemerkt, im selben Haus, direkt nebeneinander. Diese sinnlose Büklokratie verrät auch viel über Deuschland.

Auf einem Biohof wollten wir uns Eier besorgen, die waren allerdings ausverkauft, weil die Hühner gerade in der Mauser waren und nicht viel legten. Also mussten wir stattdessen Rewe aufsuchen.
Meine Tante hatte uns den Barfußpfad in Schwackendorf empfohlen. Wir warfen einen Blick auf die Preistafel und entschieden dann: Acht Euro sind uns ein bisschen viel, nur um zu rätseln, wo wir gerade drüberlatschen. (Hmm, eindeutig Reißzwecken...)

Im Naturschutzgebiet Maasholm zweigt die Schlei von der Ostsee ab. Da geht es nicht weiter, deshalb macht der Radweg einen großen Bogen. Erst kurz vor Kappeln haben wir die Schlei gesehen. Kappeln ist bloß ein funktionaler Ort, weder schön noch hässlich. Jemand hat sich gedacht Hier muss jetzt noch ne Hafenstadt hin und ein paar Ziegelsteine aufgestapelt, fertig. Interessant ist vielleicht, dass in der Schlei Heringszäune aus dem 15. Jahrhundert stehen. Diese Reusen sind immer noch intakt und können Fische fangen.
Die Schlei ist ein Meeresarm, aber ein total langer und dünner, der eher einem Fluss ähnelt, ganz anders als die Fjorde der großen Städte, die wie dicke Dreiecke ins Land ragen. Dass dieses Wasser zur Ostsee gehört, konnten wir aber daran erkennen, dass darauf ebenso viele Segelboote und Schiffe unterwegs sind.

Wir haben denen erstmal Vorfahrt gewährt und gewartet, bis die Kappelner Klappbrücke abwärts klappt (ein echter Zungenbrecher). Was blieb uns auch anderes übrig? Wir haben schon einige Berge mit dem Rad bezwungen, aber diese senkrechte Straße war uns doch zu anspruchsvoll (und wenn wir es geschafft hätten, wären die Probleme erst richtig losgegangen).

Zehn Minuten später konnten wir dann endlich die Schlei überqueren, zusammen mit einer langen Autokolonne von Leuten, die abends noch an den Strand fahren wollten.
Auf der anderen Seite geht Kappeln noch weiter. Was dort besonders heraussticht, ist der spitze Kirchturm.

Dann war der große Schlei-Umweg geschafft und wir durften die letzten Kilometer noch am Meer verbringen. Eine dichte Hecke mit roten Hagebutten wächst auf der Düne. (Ohne die Hagebutten wäre das Ding nicht mal hoch genug, dass man es ernsthaft als Düne bezeichnen könnte). Ein paar Kaninchen hoppelten über den Weg und versteckten sich im Gebüsch. In Schleswig-Holstein verging kaum ein Tag ohne Kaninchen.
Die Sonne wählte diesen Augenblick, um ganz langsam den Horizont zu berühren und diese perfekte Strecke in ein äußerst fotogenes, orangefarbenes Licht zu tauchen.

Drei Nächte haben wir in Schleswig-Holstein in der Wildnis verbracht, und jede Nacht war der Campingspot ein bisschen ungemütlicher. Der Waldstreifen bei Schönberg war noch ganz in Ordnung und sogar etwas heller, was ich beim Aufbauen recht hilfreich fand. Er befand sich aber auch näher an der Zivilisation, dementsprechend lag ein bisschen Müll herum.
"AAAAAAAAAH!", kreischte meine Freundin.
Als ich nach einem mittelschweren Herzinfarkt wieder zu mir kam, erfuhr ich sogar den Grund dafür: Kleine Spinnen mit dicken bleichen Hinterteilen krabbelten herum. Jedes Mal, wenn wir die Tür öffneten, krabbelte eine ins Zelt und ich musste sie wieder vor die Tür setzen. Die Biester waren vermutlich vom Dreh eines Horrorfilms übriggeblieben. Dessen Filmcrew hatte auch den Müll hinterlassen.
Man könnte uns jetzt vorwerfen, dass wir das Müllproblem mit unserer Übernachtung nur noch verschlimmern. Wir suchen den Waldboden am nächsten Morgen zwar immer ab, trotzdem kann ich nicht ausschließen, dass wir auch schon versehentlich etwas Müll verloren haben. Deshalb entsorge ich ab und zu Müll, den ich im Grünen finde - nicht um die Natur zu entlasten, sondern bloß um meinen eigenen Müllabdruck wieder auszugleichen. Fürs gute Gewissen also. Total egoistisch.

Donnerstag, 2. September 2021

Von Flensburg nach Steinberghaff

Im Sommer 2021 geschah das, was kaum noch jemand der Bundesregierung zugetraut hätte: Plötzlich konnte sich jeder gegen Corona impfen lassen. Wirklich jeder? Nein! Ein paar tapfere niedersächsische Bürokraten taten alles, um meiner Freundin vollen Impfschutz zu verwehren. Mithilfe nicht funktionierender Websites, gezielter Fehlinformation und gegenseitigen Schuldzuweisungen hatten sie bewirkt, dass sie eine Erstimpfung, aber keinen Termin für die zweite hatte. Warum ich das erzähle? Weil das den Rest unserer Reise maßgeblich bestimmen sollte.
Morgens an der Flensburger Hafenspitze unternahmen wir einen weiteren Versuch und riefen ungefähr 4673 verschiedene Telefonnummern an. Schließlich tat sich ein Loch im Bürokratiedschungel auf: Am 15. September war in Rostock etwas frei. Das bedeutet: Ab jetzt wird nicht getrödelt, denn bis Rostock ist es noch ein ganzes Stück. (Spoiler: Es wurde trotzdem getrödelt.)

Impf-Countdown: Noch 13 Tage

Die Nähe zu Dänemark ist nicht nur kulturell, sondern auch geographisch zu spüren. Die deutsche Seite der Förde ist genauso hügelig wie die dänische. Auf so viele Steigungen hatten wir keine Lust. Den ersten Hügel versuchte ich zu umgehen, indem ich einfach direkt an der Förde blieb. Wir gerieten in ein abgewracktes Industriegebiet. Ab und zu steckten wir zwischen Bäumen und Bauzäunen in einer Sackgasse, aber insgesamt funktionierte es - der Weg blieb flach.

Super, dann können wir das beim zweiten Hügel ja auch so machen! Aber da machte uns die Bundeswehr einen Strich durch die Rechnung.

Am Ufer der Ostsee erhebt sich nämlich die Marineschule Mürwik. Hierher flüchtete Großadmiral Dönitz, der zweite und letzte Kanzler des Nazireichs, und unterzeichnete die bedingungslose Kapitulation. Im sogenannten Roten Schloss am Meer werden alle deutschen Marineoffiziere ausgebildet.

Sie lernen wahrscheinlich, was sie mit diesem grauen Kriegsschiff anstellen sollen, falls Putin angreift.

Dabei dürfen sie auf keinen Fall gestört werden. Deshalb schlängelt sich der Weg kurz vor der Marineschule den Berg hinauf. Unten dürfen wir nicht weiter. Der ganze Weg ist von Zäunen und Warnschildern umgeben, damit sich auch ja alle Zivilisten verpissen. Okay, okay, dann fahren wir halt über den Berg, bitte erschießt uns nicht, danke.

Oben entdeckten wir zufällig das berühmteste Gebäude Flensburgs: Das Kraftfahrt-Bundesamt merkt sich die schlimmsten Sünden, die deutsche Autofahrer im Straßenverkehr begangen haben. Es sieht ungefähr so aus, wie man sich ein Gebäude mit diesem Namen vorstellt. Jetzt haben wir mal gesehen, in was für einem altbackenen Speicher diese Daten landen. Bisher war dieses Gebäude für uns auch nur ein Name auf einer Karte - oder anders ausgedrückt, irgendein Punkt in Flensburg.

Unter dem wachsamen Auge dieses Bundesamts hielten wir uns besonders brav an die Verkehrsregeln. Deshalb schoben die Räder ordnungsgemäß auf dem Bürgersteig, als wenig später Bauarbeiten die Straße blockierten. Die Stadt Glücksburg beglückte uns mit diesen Baustellen-Bergen, vermutlich aus Rache, weil wir keine Lust auf einen Umweg hatten und ihr berühmtes Wasserschloss verschmähten.

Hier hat irgendjemand einen handgeschriebenen Wegweiser ergänzt. Dabei ist das Fahrradschild doch eigentlich eindeutig.

Der Wegweiser wäre an der nächsten Kreuzung im Wald, nur wenige Meter entfernt, besser aufgehoben gewesen. Hier musste ich mich erst eine Weile orientierungslos umschauen, bis ich weiter hinten an der übernächsten Kreuzung das nächste Schild erspähte. Während wir uns Essen kochten, beobachteten wir viele Radfahrer, die erstmal orientierungslos ein paar Meter in die falsche Richtung irrten. Während wir aßen, wurden unsere Hände und unser Besteck vorübergehend zum Wegweiser, wann immer jemand vorbeikam.

Menschen, die per Anhalter durch Schleswig-Holstein fahren, werden von diesem Bundesland besonders unterstützt. Immer wieder sind uns die Mitfahrbänke aufgefallen. Die Anhalter können nicht nur darauf sitzen, sondern auch ein Schild anhängen, in welche Stadt sie wollen. Allerdings haben wir nie jemanden gesehen, der darauf saß. Ich haben gewisse Zweifel, ob im Zeitalter von Online-Mitfahrdiensten noch ein Bedarf an solchen Dingern besteht. Sie sehen aber ganz hübsch aus und verschönern damit auch die Straßen.

Der Radweg ging noch eine ganze Weile an der Straße entlang, bevor wir wieder an den Strand durften.
Weil hier früher die Angeln gelebt haben, heißt diese Landschaft, ähm, Angeln. Irgendwann segelten die Angeln von hier los, um sich zusammen mit den Sachsen und Jüten Gebiete in Großbritannien zu angeln. Später kamen Germanen auf dem Ostseeradweg von Jütland nach Angeln und brachten einen Haufen dänische Dorfnamen mit. Wir sind ja quasi auch Germanen (zumindest teilweise) und kommen aus derselben Richtung, haben aber bloß eine fast leere Packung Skyr und eine Tüte Karamellbonbons im Gepäck, die inzwischen zu einem einzigen Karamellbonbon zusammengeschmolzen sind.
Andauernd entdeckten wir Dorfnamen, die uns (in leicht veränderter Schreibweise) aus Dänemark bekannt vorkommen. Viele enden auf -up oder -by, darunter mindestens sechshundert Niebys. (In Dänemark gibt es sogar ein Ny Nyby, also eine Neue Neustadt, aber so ein Name war den Deutschen dann doch zu neu.) Auch das dänische Dorf Gejl hat hierzulande einen geilen Namensvetter.

Viele andere Dinge verändern sich jedoch in Deutschland, insbesondere die Trinkwasserversorgung und die Übernachtungsmöglichkeiten.
Wir können wir uns nicht mehr darauf verlassen, dass uns die Kirchen regelmäßig Trinkwasser verschaffen. Solange wir in der Nähe touristischer Strände bleiben, ist das nicht so schlimm. Hier gibts in regelmäßigen Abständen kostenlose Strandklos, damit die Badegäste nicht in die Ostsee pinkeln müssen. Sie befinden sich in kleinen eckigen Häuschen, die praktischerweise aufgrund ihrer bemerkenswerten Hässlichkeit sofort herausstechen. Dieses hier steht in Steinberghaff, dem Ostseebad der drei Lügen: Kein Stein, kein Berg und kein Haff.

Auch mit dem Übernachten ist es etwas... naja, einerseits leichter, aber am Ende doch schwieriger. In Deutschland ist Wildcampen verboten - behaupten viele Leute. Dabei stimmt das gar nicht. Manche Bundesländer, darunter auch die Ostseeländer Schleswig-Holstein und MV, machen eine Ausnahme -  für nicht motorisierte Reisende (sind wir), eine Nacht (das reicht uns), nicht im Naturschutzgebiet (schwieriger, als es klingt) und wenn es privatrechtlich erlaubt ist. (Äh, naja, ach, da steht kein Verbotsschild und kein Zaun, also ist es hoffentlich erlaubt - woher sollen wir denn wissen, wem das gehört und wen wir fragen sollen? Zumindest bei einem Staatsforst sollte es ja wohl gehen, denn der Staat hat uns seine Regeln ja gerade schon verraten.) Wenn wir in der Wildnis schlafen wollten, haben wir uns eine versteckte Stelle im Wald gesucht. Zum einen, weil die meisten anderen Flächen sowieso landwirtschaftlich genutzt werden, zum anderen, damit uns niemand stört, der die entsprechende Vorschrift nicht kennt oder anders interpretiert.

Dass der Wald kein Naturschutzgebiet sein darf, ist kein Problem, dachte ich, denn die sind ja alle in der Karte eingezeichnet. Bis beim Mittagessen im Wald (wo die vielen Radler falsch gefahren sind) ein Schild überraschend verkündete, dieser Wald sei ebenfalls Naturschutzgebiet. Na so was, die Karte ist gar nicht mehr aktuell. Wir suchten im Internet eine Karte mit Naturschutzgebieten in Schleswig-Holstein heraus und, oh nein, auch in dem Bereich, wo wir heute eigentlich schlafen wollten, war alles geschützt. Das bedeutet, wir mussten schon 8,5 Kilometer früher in einem anderen Wald schlafen gehen. Die heutige Strecke war dadurch etwas entspannter, aber morgen wird der Weg richtig lang.
Der Wald hinter Steinberghaff war hatte eine wunderbare versteckte Ecke, nebenan waren wieder einmal Kühe. Ich musste nur die großen Äste zur Seite räumen, dann war der Boden ideal.

Ich pumpte die Luftmatratze auf. Kurz darauf war sie schon wieder halb leer. Ich brauchte nicht lang zu Suchen: An der Oberseite klaffte ein richtig großes Loch, als hätte jemand mit einem Messer hineingestochen. Wie ist das denn passiert? Wir hatten zwei Arten von Flicken für Matratzen dabei, aber keiner der beiden konnte sich dem pfeifenden Luftstrom widersetzen. Erst beide Flickenarten übereinander fanden genug Halt.
Erleichtert ließen wir uns auf die Matte fallen, die prompt ein anderes Geräusch von sich gab. Eine Art dumpfes Surren. Entweicht etwa immer noch Luft? Ich lauschte an den beiden Flicken, aber dort war alles in Ordnung. Das Geräusch klang auch ganz anders... und es schien sich irgendwie zu bewegen.
Wir waren so müde, dass es viel zu lange dauert, bis der Groschen fiel. Ein Insekt war in der Matte gefangen, vermutlich eine Fliege! Wie zur Hölle war es da reingekommen, und seit wann? Die letzten zwei Nächte hatten wir die Matte ja gar nicht benutzt.
Zu Hause ist es schon schwer genug, einer Fliege begreiflich zu machen, dass sie einfach nur durch das sperrangelweit geöffnete Fenster fliegen muss. Unsere Chancen, dieser Fliege mitten in dunkler Nacht den Weg durch ein kleines Ventil zu weisen, standen vermutlich schlecht. Und das Insekt war offenbar auch müde, es summte nur, wenn wir uns wirklich viel bewegten. So ließen wir die Fliege fliegen und verbrachten in Anbetracht der Umstände eine überraschend ruhige Nacht
Als ich am nächsten Morgen die Luft herausließ, erschraken wir dennoch, als eine total fette Hummel aus dem Loch dem Licht entgegenflog. In dieser Nacht hatten wir wortwörtlich Hummeln unterm Hintern!

Samstag, 31. Juli 2021

Von Genner nach Flensburg

Unser letzter Dänemark-Tag begann mit einer hübschen gelben Wassermühle. Sie versteckte sich zwischen zwei steilen Hügeln im Wald.


Einen etwas befremdlichen Eindruck hinterließ bei uns der Ort Løjt Kirkeby. Hier vollführte gerade irgendein Kindergartenclown ein rätselhaftes Ritual auf dem Schulhof. Er hängte Fahrräder an eine eigenartige Skulptur oder ein Klettergerüst oder was auch immer, tanzte drumherum, hantierte an den Rädern herum und betätigte ab und zu eine Fahrradklingel.
Nebenan wurde die Straße neu geteert. Es standen ein paar Warnschilder herum, aber so richtig abgesperrt war die Fahrbahn nicht, obwohl der frische Asphalt noch dampfte. Wir schoben unsere Räder lieber auf dem Bürgersteig. Schon dort war die Hitze kaum erträglich: Von oben brannte die Sonne und von unten der Boden. (Wären wir doch nur an einem kalten Tag an dieser Straße vorbeigekommen, dann hätte uns die Baustelle schön durchgewärmt.) Auf einmal überholte uns ein elektrischer Rollstuhl. Sein Fahrer entstammte offenbar dem Hause Targaryen oder hatte eine hitzeresistente metallische Haut (die so schwer ist, dass er im Rollstuhl sitzen muss - das ergibt Sinn). Ohne zu zögern steuerte er mitten durch die flammendheiße Hölle, zwischen den Dampfschwaden des frischen Asphalts hindurch.

Auf den nächsten Abschnitt freute ich mich besonders, denn es handelt sich um einen Bahnradweg namens Knapstien. Hier fuhr einst die... äh... Æ Kleinbahn nach Abenraa. Der größte Teil des Knapstien ist ein Wanderweg, erst auf den letzten Kilometern stößt der Ostseeradweg dazu. Zuerst sind wir unten durchgefahren, ein altes Viadukt aus Feldsteinen macht's möglich. Es liegt im Dorf mit dem passenden Namen Ste(i)ntofte.

Bald darauf verließen wir die Straße und schoben die Räder einen steilen Pfad aus Gras hinauf. Puh, jetzt kann der Spaß beginnen!
Diese Bahntrasse ist etwas schmaler als auf die auf Lolland, schließlich fuhr hier nur eine Kleinbahn. Der Kiesweg ist überaus grün, schattig und abwechslungsreich. Wir sahen weite Wälder, Kuhweiden, einmal kurz das Meer und zum Schluss die ersten Einfamilienhäuser von Abenraa. Ich sollte allerdings erwähnen, dass wir das alles nur durch die Bäume hindurch sahen. Das bedeutet, wir konnten es nur so halb erkennen und die Kamera gar nicht. Die Fotos vom Knapstien sehen dementsprechend alle gleich aus.

Einzige Ausnahme ist dieser Betonrastplatz am Ortseingang (hinter der Hecke verbirgt sich das erste Haus der Stadt).


Der Knapstien brachte uns direkt in die Großstadt Abenraa (unnötige Eindeutschung: Apenrade). Das war mal eine bedeutende Handelsstadt, was man zum Beispiel am Zollamt erkennt. Es wurde mit extravielen Schutzdächern gebaut, damit die Leute möglichst gut vor der heißen karibischen Sonne geschützt werden. Nun liegt, wie der eine oder andere vielleicht weiß, Dänemark gar nicht in der Karibik (obwohl es genauso viele Inseln hat). Der Bauplan war eigentlich für ein Zollamt auf den Jungferninseln gedacht, aber irgendwer hat die Pläne durcheinandergebracht, keiner der dänischen Bauarbeiter hat etwas gemerkt und jetzt gibt es dieses Gebäude halt zweimal. Bei der heutigen Hitze haben sich die Mitarbeiter bestimmt über den Fehler gefreut - der angesichts der globalen Erwärmung langfristig gesehen gar kein Fehler war.

Abenraa ist ein bisschen hügelig. Deshalb beschlossen wir, die Räder am Rand der Altstadt anzuschließen und einen Spaziergang zu Fuß zu unternehmen. Die Stadt besteht ähnlich wie Svendborg und Haderslev aus bunten Häusern mit einem bunten gastronomischen Angebot, das unsere Pläne sehr schnell von Lass uns kurz in eine Café setzen zu Lass uns richtig was essen änderte. Wo sonst kann man in einem dänischen Restaurant großartiges indisches Essen mit belgischen Waffeln zu Nachtisch verspeisen? Das nenne ich mal internationale Küche.

Völlig vollgestopft erhoben wir uns wieder und kehrten zu unseren Rädern zurück. Verdammt, wo sind die denn? Diese Straße hier kommt mir überhaupt nicht bekannt vor. Lass uns nochmal zurück zum Marktplatz gehen.
Erst beim dritten Versuch entdeckten wir die richtige Gasse.

In Abenraa stand auch noch ein anderer wichtiger Punkt an: Meine Freundin brauchte einen Coronatest für die Einreise nach Deutschland. In einem niedrigen grauen Glaskasten im Gewerbegebiet befand sich das Testzentrum von Abenraa. Zum Glück ist Dänemark eines der drei europäischen Länder, wo auch Ausländer sich kostenlos und (fast immer) ohne Termin testen lassen können. Die dänische Regierung veröffentlicht im Internet eine Karte, wo alle Testzentren mit Öffnungszeiten zu finden sind. (Deutschland hat zwar mehrere solcher Karten, aber die sind so unvollständig, dass es ein ausgesprochen seltenes Phänomen darstellt, wenn zwei davon dasselbe Testzentrum anzeigen.) Dänemark ist halt super. Das beweist auch das folgende historische Ereignis:
Vor langer Zeit erließ der dänische König ein Gesetz, dass im ganzen Land in regelmäßigen Abständen ein Kro (Krug), also ein Gasthaus für Reisende, errichtet werden muss. Während dies auf der Insel Møn offenbar bis heute nicht umgesetzt wurde, sind auf dem Festland immer wieder Hotels zu sehen, die sich noch als Kro bezeichnen. Einer davon steht direkt am Aabenraa Fjord neben der Müllverbrennungsanlage.

Da ist dieser weiße Kro doch wesentlich schöner gelegen!
Weil die Zeit langsam knapp wurde, haben wir die Wegführung der Karte (die eh nicht am Meer langgeht) ignoriert und sind der großen Straße gen Süden gefolgt. Der Radweg war zwar nicht immer so super, aber zumindest kamen wir schnell voran. Am Wegesrand sahen wir einige Süßwasserseen und eine Eisenbahnstrecke ohne Schwellen. Jedes Mal, wenn wir in den Schatten der Bäume eintauchen konnten, atmeten wir erleichtert auf.

Kurz vor Kruså (Krusau) wurde der Radweg an der Hauptstraße wieder schöner. Den durften wir sogar doppelt fahren, weil wir einen Fahrradhelm auf dem Rastplatz liegen ließen.

Über eine Straße und einen schmalen Bahnradweg gelangt man hier zwischen die unauffälligen Spießerhäuser von Padborg. Der Ort liegt schon ziemlich weitab der Ostsee, aber es ist halt die letzte Stadt Dänemarks, Grenzbahnhof und offizieller Start des dänischen Ostseeradwegs, deshalb erwähne ich ihn trotzdem kurz.
Bei so viel Ruhe würde man nicht vermuten, dass der Ort vor allem für Militärisches bekannt ist: Ein Nazi-Lager für dänische Widerstandskämpfer und die Schlacht von Bov, bei der die Dänen 1848 die Deutschen im Kampf um Schleswig zurückschlugen. So, das reicht dann aber auch zu Padborg.

In Kruså kamen wir also am Grenzübergang heraus. Seit 1920 verläuft die Grenze hier. Anfangs arbeiteten die dänischen Zöllner in einem Kro und die Deutschen in einer Bretterbruchbude, bevor beide Länder richtige Gebäude errichteten. Da drüben beginnt schon Deutschland. Aber wären wir hier schon rübergewechselt, dann wären wir auf einer Autobahn gelandet.

Wir sind doch Ostseeradler, und deshalb überqueren wir die Grenze an der Ostsee!
Das war aber gar nicht so leicht, denn immer wieder wären wir um Haaresbreite zu früh in Deutschland gelandet. Einmal wunderte ich mich, wieso direkt vor unserer Nase schon ein deutsches Fahrradschild aufragte. Dann begriff ich, dass die Viehsperre zu meinen Füßen, ein kleines unauffälliges Gitter, offenbar die Grenze darstellte.
Dahinter ist der Kruså alias die Krusau, ein deutsch-dänischer Bach, die Grenze. In einem Bett aus schwarzem Schlamm wälzt sie sich durch einen hellen Wald. Dieser Wald gehörte bis 2006 der Stadt Flensburg, die ihn aus Geldmangel an einen dänischen Privatmann verkaufte. Heute gehört er dem dänischen Naturfonds. Viele Arten gibt es in Dänemark ausschließlich in diesem Wald, weiter nördlich ist es schon zu kalt für sie. Einige Meter vom Bach entfernt holperten wir über Stock und Stein auf und ab. Dieser Weg heißt Gendarmenpfad, denn hier patrouillierten bis 1958 Gesetzeshüter auf der Suche nach Schmugglern. Sie lebten in einfachen Häusern direkt an ihrem Grenzabschnitt, den sie so gut wie ihren eigenen Garten kannten, weil es ja quasi ihr eigener Garten war. Angeblich war es für sie Ehrensache, ihre Waffe nicht zu ziehen, ein echter Gendarm verhaftete jeden Schmuggler einfach mit Autorität und Charme.
Die EU hat die Gendarmen überflüssig gemacht, doch das Coronavirus hat sie zurück auf ihren Pfad gebracht. Noch vor dem Wald saßen, halb im Gebüsch verborgen, zwei Gendarmen in einem dänischen Polizeiauto. Sie winkten uns freundlich durch. Vermutlich waren sie mehr an Reisenden interessiert, die in die andere Richtung unterwegs waren. Später versperrte uns ein seltsamer Zaun den Weg, den wir erst umständlich öffnen mussten. Er verlief nicht entlang der Grenze, also sollte er wahrscheinlich das Wild im Wald schützen.

Endlich kamen wir an der Ostsee heraus, genauer gesagt an der Flensburger Förde. Langsam hatten wir das Gefühl, der Gendarmenpfad nimmt gar kein Ende. Tatsächlich geht er noch weiter auf der anderen Ostsee-Route durch Dänemark. Wir wären am liebsten auch noch weiter durch Dänemark gefahren, so toll fanden wir das Land. Irgendwann fahren wir vielleicht auch mal die andere Variante. Aber jetzt hatten wir schon die längere Tour durch Deutschland geplant.

Und die begann jetzt gleich am Grenzübergang Schusterkate, dem kleinsten Grenzübergang Europas. Er besteht aus einer Holzbrücke über die Krusau, die einzige Brücke, die Deutschland und Dänemark verbindet (und weil sich die Dänen umentschieden haben, dass sie lieber einen Tunnel und keine Brücke nach Fehmarn bauen wollen, wird das auch so bleiben und das kleine Brücklein bekommt doch keine gigantische Konkurrenz). Am Geländer hing gerade eine kleine Ausstellung mit deutschen Karikaturen.
Die Schusterkate selbst ist ein rotes gemütliches Holzhäuschen mit Bootsanlegesteg. Sie steht auf der dänischen Seite, aber der darin lebende Schuster scheint deutsch zu sein. Privatgrundstück! Rasten verboten! schrie uns ein Schild entgegen, als wir gerade überlegten, ob wir nicht direkt an der Grenze eine Essenpause einlegen sollten.

Auf der anderen Seite ging der Schilderwald weiter: Schutt abladen verboten! Ein Schild, auf dem Deutschland stand, gab es nicht (nur einen steinernen Grenzpfosten mit einen D drauf). Wozu auch? Die Begrüßung war unmissverständlich.
Die deutsch-dänische Grenze verläuft ab hier auf dem Meer. Diese Stelle ist übrigens der westlichste Punkt der Ostsee und liegt damit quasi gegenüber von St. Petersburg.

Kupfermühle, das erste deutsche Örtchen, besteht komplett aus süßen Statuen und der besagten Kupfermühle in Kupferrot intensivdänischem Gelb. Sie nutzte die Kraft des Bachs, um aus Messing und Kupfer Rohre für die dänische Marine zusammenzuhämmern.

Kaum zu glauben: In ganz Dänemark haben wir nur einen einzigen Massenstrand gesehen (in Marielyst). In Deutschland dagegen kam schon nach wenigen Metern der Badestrand von Wassersleben. Ob man in dieser Hinsicht Deutschland oder Dänemark besser findet, ist wohl Ansichtssache. Breitere Sandstrände sind schön, auf dem Radweg immer wieder Badegästen auszuweichen, ist nicht schön.
Ich erinnere mich vage, dass ich als Kind mal hier war. Als man mir erklärte, dass da drüben schon Dänemark sei, fand ich es unglaublich cool, auf dem "letzten Spielplatz von Deutschland" zu spielen. Auch diesmal statten wir dem Spielplatz einen Besuch ab, aber nur, um auf der Bank Nudeln zu kochen. Grenzüberquerungen machen außergewöhnlich hungrig.

Privatgrundstück! Ein Bootsclub hinderte uns daran, dem Wasser weiter zu folgen. Wir irrten durch einen Park und durchquerten ein Industriegebiet.

Dann durften zurück ans Meer. Ein paar historische Segelschiffe liegen still in der Flensburger Förde.
Förde ist das deutsche Word für Fjord. Streng genommen ist das nicht richtig, wie ich auf dieser Tour gelernt habe: Ein Fjord entsteht durch Gletscher, die sich in Richtung Meer schieben, bei einer Förde wandern sie in Richtung Land. Aber diese Unterscheidung benutzen bloß Geographen. Die Leute, die die ganze Landschaft benannt haben, haben sich danach gerichtet, auf welcher Seite der Grenze das Wasser liegt. Die Flensburger Förde ist die Grenze, also hat sie zwei Namen: Die Dänen nennen sie Flensborg Fjord.

Die Förde wird immer schmaler und endet schließlich mit ein paar Holzbänken an der Hafenspitze. Die Ostsee hat sich richtig tief ins Stadtzentrum gegraben, und das nur, um ein paar Studenten den idealen Platz zu geben, sich mit Freunden auf eine Flasche Bier zu treffen. Oder?
Nein, ursprünglich diente diese Stelle als geschützter Naturhafen. Anfangs war die Hafenspitze sogar 500 Meter tiefer. Es war nicht so schlau von den Flensburgern, ihren Schutt da reinzukippen, denn irgendwann war das Wasser nicht mehr tief genug für die Schiffe und schließlich verschwand es ganz.
Wenn ein Schiff von hier aus nach Westen wollte, musste es einen komplizierten, teuren (wegen der Zölle) und gefährlichen (wegen der Sandbänke) Umweg durch die dänischen Sunde fahren und eventuell sinken. Dagegen war unsere Radtour durch die dänischen Sunde harmlos. Eine britische Eisenbahngesellschaft baute 1854 eine Bahnlinie quer durch Schleswig-Holstein, um die Dänen zu umgehen. Drei Jahre später schafften die Dänen den Sundzoll ab. Ein Zufall? Wohl kaum. Eine Weile teilten sich die Dänen und Briten die Einnahmen der Flensburger Schiffe, nach 13 Jahren wurde die altersschwache Bahn wieder abgebaut.

Parallel zur Förde verläuft die Fußgängerzone mit dem alten Rathaus. Das eine oder andere alte Gebäude ragt hier krumm und schief in die Straße hinein.

Flensburg liebt dich, wie du bist! verkündet ein Plakat. Das ist doch eine weitaus nettere Begrüßung. (Aber wenn du mich wirklich liebst, Flensburg, warum hast du mir dann diese entsetzliche öffentliche Toilette angetan? WARUM?)
Die Nähe zu Dänemark ist noch deutlich zu spüren - eine Buslinie fährt bis Kruså, viele Schilder sind zweisprachig, in der Fußgängerzone steht dänische Bibliothek und selbst am Bahnhof steht auf dem blauen Schild Flensburg Flensborg - nur für den Fall, dass die Dänen den Namen wegen des einen unterschiedlichen Buchstabens nicht verstehen sollten.
Jung und studentisch, hip und historisch - Flensburg scheint eine passende Stadt für unsereins zu sein. Dazu passt, dass in Flensburg schon immer viel Rum gehandelt und gemixt wurde - und dass unser Reiseführer zu Flensburg eine komplette Spalte nur über Beate Uhse schreibt, die hier den ersten Sexshop der Welt gegründet hat.
Über der Straße hängen Schuhe, die, vermute ich mal, auf ein politisches Anliegen aufmerksam machen sollen.

Und die Fahrräder sind bereits warm eingepackt, damit sie auch im Winter fahren können.

Jetzt durchqueren wir Schleswig-Holstein. Das Gute daran ist: In diesem Bundesland kenne ich mehrere herzensgute Menschen, die nach einem Anruf ohne zu Zögern bereit waren, uns kurzfristig eine überaus komfortable Übernachtung zu gewähren. Ohne sie wäre diese Tour längst nicht so schön geworden. Nur: Die wohnen nicht direkt am Meer. Um unsere lange Strecke nicht noch weiter zu verlängern, griffen wir auf öffentliche Verkehrsmittel zurück.
Am Bahnhof Flensburg Flensborg sind wir eine Station mit dem Zug gefahren und dann noch eine Weile in das Dorf geradelt, wo herzensguter Mensch Nr. 1 lebt, meine Tante. Sie begrüßte uns selbstverständlich mit: "Na, ihr Weltreisenden?" (Wenn sie den Spruch nicht gebracht hätte, wäre ich auch enttäuscht gewesen.) Den Rest des Abends verbrachten wir damit, fast alles aufzufuttern, was im Haus an Lebensmitteln vorrätig war. Grenzüberquerungen machen wirklich, wirklich hungrig.
Wir schliefen zwei Nächte in einem Wohnmobil namens Klaus-Peter, das sogar wasserdicht war - wenn auch nur, weil eine Plane darauf lag. Nach unserem Zelt war es trotzdem der reinste Luxus. Einen Ruhetag verbrachten wir damit, Wäsche zu waschen, noch mehr zu essen und auf der Terrasse die Sonne zu genießen. Außerdem ließ ich mich im Dorffreibad, wo wirklich jeder jeden kannte, anstarren. Ich war vermutlich der erste auswärtige Besucher seit mindestens 140 Jahren.

Die andere Route durch Dänemark (gefahren 2024) finden Sie hier.
Die große Ostseereise von 2021 geht hier weiter durch Deutschland.