NEU: Die andere Strecke durch Dänemark - mit opportunistischer Mikro-Insel

Alsternative: Von Flensburg nach Svendborg

Mittwoch, 8. Mai 2024

Von Suurupi nach Tallinn

Der letzte Morgen brach an und brachte Sperrungen. Es sollte noch eine allerletzte Steilküste geben, aber wie komme ich zu ihr? Denn schon an Land gibt es eine große Klippe. Mein Plan, auf diese Aussichtsplattform zu gehen und das Rad die Wendeltreppe runterzutragen, scheiterte an einem Bauzaun.


Ich befand mich inmitten von Villen, die nichts lieber taten, als mich mit ihren Sackgassen und Wendeschleifen in die Irre zu führen. Endlich fand ich einen steilen Pfad, mit dem ich sehr vorsichtig eine Etage nach unten gelangen konnte.

Na endlich! So muss das. Und da hinten die Hochhäuser, das muss mein Ziel sein. Was für ein toller Ort für ein Panoramafrühstück.

Ich konnte sogar viel länger hier oben entlangfahren, als die Karte sagte. Einschnitte schneiden in die erdige Steilküste ein, manche mit Treppen, andere nur mit Geländer. Ich kam vorbei an Rasthütten und anderen Radfahrern, die eventuell darin übernachtet hatten.

So müsste man leben, mit privatem Tor direkt zur Klippe!

Schließlich knickte die Steilküste vom Wasser ab in Richtung Straße, sodass auch mir nichts anderes übrig blieb. Vorbei an einem letzten Freilichtmuseum steuerte ich in die ersten Stadtteile hinein.

Aber dann traf ich doch wieder auf einen Uferweg. Und was sehen meine Augen dort? Da steht ja ein Lavazza-Kaffeeautomat. Mensch, ich hatte die Hoffnung schon aufgegeben, in Estland einen zu finden, und nun begrüßt mich einer auf der Ziellinie.
Gelbes Schilf, ein Aussichtsturm aus dunklem Holz, und ruhiges blaues Wasser? Bin ich etwa wieder in Pärnu gelandet? Nein, denn einen richtigen Strand habe ich nicht entdeckt. Tallinn ist traditionell eine Hafenstadt und keine Badestadt wie Pärnu. In der Sowjetzeit war hier eh alles gesperrt. Erst nach der Wende fanden die Tallinner fasziniert heraus, dass sie ja eine Stadt am Meer waren, und versuchten ganz langsam, sich auch entsprechend zu vermarkten.

So befindet sich am Ufer jetzt ein Grünes Band aus Parks. Ich umkurvte eine Baustelle, die gerade einen Teil davon umgestaltete. Dann geriet ich in ein Streetfood-Festival oder so was und fand heraus, dass das lokale Äquivalent zum Dönerkebap in Tallinn oft vor dem Zelt auf einem riesigen Outdoor-Grill mit Gemüse gebraten wird. Noch beliebter und auch besser ist aber der šašlõkk, also Schaschlikspieß. Wobei da nicht wirklich zwingend ein Spieß dabei sein muss, Hauptsache kleine Hähnchenstückchen.
Verpflichtend sind auf dieser Veranstaltung außerdem Preistafeln in der Handschrift eines Sechsjährigen.

Der Ostseeradweg kürzt eine kleine, komplett bebaute Halbinsel ab, und das nächste Stück Ostsee sieht wieder ganz anders aus. Es ist komplett grau gepflastert und voller modernisierter Hafenhäuser, eine Reihe davon auffällig bunt (links im Bild). Das muss der Teil der Stadt sein, der in der Map of every European City als Hipster Home Brickworks bezeichnet wird. Diverse Reiseführer, geschriebene wie auch lebendige, behaupten, hier gehe total die Post ab und hier tobe ja das echte authentische Leben von Tallinn und so weiter. Ich stieg die Treppe runter, aber zumindest an diesem Vormittag war der Bereich ziemlich leer, nur ein Energiemuseum und diverse moderne Kunstwerke standen herum.

Später schaute ich mir noch auf Anraten des Stadtführers die Markthalle hinter dem Bahnhof an, die auch noch mehr oder weniger zu diesem Bereich gehört. Manche Geschäfte machten zwar gegen 17, 18 Uhr schon dicht, aber ja, hier gab es tatsächlich lebende Menschen und leckere Dinge. Stände mit Mini-Pancakes scheinen in Tallinn auf jeden Fall ein Ding zu sein, aber keine Ahnung, ob das wirklich auf einem einheimischen Gericht basiert oder ob die einfach nur denken, Touristen würden darauf stehen.

Zurück zum Wasser. Kurz vor der Altstadt fiel mir etwas ins Auge. Damit es mir nicht ins Auge gefallen wäre, hätte ich eine sehr blickdichte Augenbinde benötigt. Ein grauer Koloss erhob sich am Wasser, ein Gebäude von surrealer Größe und Hässlichkeit. Wenn das nicht sozialistisch ist, fresse ich einen Betonblock!
Estnische Architekten sollten im Sozialismus die größte Mehrzweckhalle Estlands bauen, für 5000 Sportzuschauer, mehrere Cafés und eine Eissporthalle, aber bitte ohne den Blick auf die Altstadt zu blockieren oder die Bahnlinie zum Hafen zu unterbrechen. Wahrscheinlich ist das Teil deswegen so viel breiter als hoch. Und wahrscheinlich durfte es auch deswegen ungewöhnlich nah an das eigentlich verbotene Wasser ran, sonst wären die schweren Vorgaben unmöglich zu erfüllen gewesen.

Inzwischen verfällt die Halle, was aus ihr werden soll, wird noch diskutiert. Aber: Ich durfte auf ihr Dach steigen. Breite Treppen nach oben sind ja mehr als genug vorhanden. Und ich war nicht der einzige, der diesen Aussichtspunkt aufsuchte, wie einige leere Bierflaschen bewiesen.
Und da ist sie auch schon: Die Altstadt von Tallinn. Auf einem ovalförmigen Hügel ragt sie mit ihren spitzen Türmen auf wie eine Festung, was sie auch irgendwie ist.

Auf jeden Fall hat sie eine Stadtmauer und Stadttore außenrum, und gleich am Eingang einen richtig fetten Turm! Diese Mauer gibt der Stadt einen ganz anderen Charakter als Riga, eigentlich als alle anderen Städte der Reise.
Viel Widersprüchliches habe ich über diese Altstadt gehört. Die einen lieben ihren mittelalterlichen Charme, die anderen mögen sie nicht so, weil sie wie ein künstliches Disneyland wirkt. Welcher Ansicht werde ich mich wohl anschließen?
Der ersten, eindeutig. Diese grauen Mauern sehen für mich nicht nach Freizeitpark aus, sondern wirken authentischer als die bunt bemalten Barockwände in den bisherigen Großstädten. Sind sie auch: 90 Prozent der Altstadt hat die Weltkriege überlebt. Wenn ich mir das Great Costal Gate so ansehe, fällt es mir echt schwer zu glauben, dass das barocke Stadttor in Pärnu das einige originale des Landes sein soll.

Was übrigens nicht heißt, dass Tallinn nicht auch barockt.
Auch Tallinn hat ein Schwarzhäupterhaus (hinten rechts). Von der Fassade guckt eine Statue von Martin Luther runter. All die Botschaften, Institutionen und Restaurants lassen ihre Flaggen in die Straße hinunterflattern. Russland übertreibt dabei am meisten und lässt eine Fahne von der Größe eines Bettlakens am Balkon seiner Botschaft aufhängen. Träge und unbehaglich flattert sie über den dahinströmenden Touristen und Esten dahin. Denn gleich unter ihr ist der Protest in vollem Gange. An einem Zaun vor der Botschaft hängt ein Zaun voller Plakate und Blumen. Getreu dem Motto Fordern kann man erstmal alles fordern sie Truppenabzüge, Freilassung politischer Gefangener und vieles mehr. Allein als ich kurz zum Lesen stehenblieb, wollten gleich drei Leute ihre Unterschrift auf die Liste setzen, hatten jedoch keinen Stift dabei. Und so wurde der wasserfeste Folienstift, mit dem ich sonst Notizen in meine Bikelines schreibe, zum Instrument des Protests.

Eine Erklärung für die vielen Unterschriften findet sich ein paar Straßen weiter in einem repräsentativen grauen Gebäude, das eine Geschichte voller Macht in sich trägt. Im repräsentativen Bürgerhaus trafen sich die erste provisorische Regierung des unabhängigen Estlands 1918, später das Kriegsministerium und nach der Wende kurzzeitig die Polizei. Und dazwischen? Dazwischen wird's finster. Unten rechts öffnet sich eine unauffällige Tür direkt in den Keller, und das Schild verrät, dass sich hier die KGB Prison Cells verbergen.

Auch Tallinn hat ein Okkupationsmuseum, doch darauf verzichtete ich diesmal. Aber zumindest in dieses Mini-Museum habe ich mal reingeschaut (obwohl 10 Euro kein Mini-Preis ist). Im Grunde besteht es aus diesem langen Gang. Ein Zeitstrahl erzählt die Geschichte des Hauses, und hinter den grünlichen Türen wurden Zellen oder Verhörräume nachgebaut.
In einer Akte befindet sich ein Ratgeber für Inhaftierte, den Oppositionelle geschrieben haben: Nichts sagen, nicht kooperieren und nicht glauben, wenn der KGB sagt, er wüsste eh schon alles - warum sollte er sonst den Aufwand einer langen Befragung betreiben? Also im Prinzip einfach demütig den Mund halten - außer wenn es um juristische Angelegenheiten geht. Auf seine Rechte soll man bestehen und die dazugehörigen Paragraphen nennen, die man hoffentlich kennt. Ist man selbstbewusst genug, kriegt man sie vielleicht sogar aus Versehen gewährt.

Die Sowjetunion hatte zwar die Grenzen der ersten estnischen Republik "für alle Zeiten" anerkannt, erklärte den ganzen Staat aber quasi auch rückwirkend für nichtexistent, wodurch all ihre Minister und Beamten automatisch separatistische zu separatistischen Aufführern wurden.
Wer irgendeine wichtige Position in der Republik hatte, hatte automatisch eine Straftat begangen und kam in diese Zellen.

Oder sogar in diesen Schrank hier. Und sogar der ist noch vergleichsweise angenehm, immerhin kann darin aufrecht stehen und sich an die Wand lehnen. Es gab noch viel engere Einzelzellen und Käfige, die wurden aber nicht nachgebaut. Dafür können sich die Besucher in einer komischen Dunkelzelle einschließen, die eine seltsam gebogene Wand aufweist, als würde sie an einen großen Tank oder so grenzen. Diese Mauern dünsten Bosheit aus, und zwar nicht nur durch die Einschusslöcher. Im letzten Raum sollten die Menschen ihre Erinnerungen zum Thema Freiheit an die Wand schreiben. Hauptsächlich hingen dort Zettel von Russen oder Belarussen im Exil, und ihre Geschichten waren nur allzu frisch.

So, jetzt sollte ich aber erstmal mein Gepäck loswerden. Ich hatte schon seit gestern ein Hostel im Auge. Diesmal hatte ich sorgfältig alle Bewertungen studiert, und zwar mit klaren Prioritäten: Frühstück egal, Hauptsache sauber und angenehm. Mit Erfolg - das Imaginary Hostel war die beste Unterkunft mit Gruppenschlafsälen ever. Ich schlief zwei Nächte in einer hölzernen Kabine, die Lampen, Steckdosen und viel Privatsphäre bot. Eine große Küche war auch dabei, und zur Krönung befand sich unten im Haus eine Fahrradwerkstatt.

Dieses Hostel sollte quasi meinen ganzen Aufenthalt in Tallinn beeinflussen. Auf dem Flur entdeckte ich nämlich Zeiten für Free Walking Tours. War ich eigentlich je während einer Radtour auf einer Stadtführung? Also einfach nur oberirdisch durch die Straßen, nicht durch eine Burg oder ein Kellerlabyrinth? Nee? Wird mal Zeit.
Also marschierte ich zur Touristinfo und stellte fest, dass a) die falschen Zeiten im Hostel aushingen und b) die Führungen inzwischen Walkative heißen, weil sie c) nicht wirklich free sind, sondern jeder bezahlt, was er will. Zwei Stunden später wartete also ein Brite, der nach Estland eingeheiratet hatte, auf die Touristenschar. Und er machte das so wunderbar, dass ich jetzt auch in anderen europäischen Großstädten nach diesen Touren Ausschau halten werde.
In seiner Hand hielt er ein Klappbuch mit Bildern (etwa der baltischen Menschenkette, die genau hier begann) und einem Zeitstrahl, in dem die verschiedenen Eroberer farblich markiert waren, damit man die Geschichten ein bisschen historisch einordnen kann (Deutschland gelb, Schweden blau, Russland natürlich rot). Mit estnischer Mischung aus Ernst und Heiterkeit nahm er aufs Korn, wie ironisch es doch alles sei - das estnische Parlament ist ein Palast aus der Zeit des Zaren, und gleich gegenüber thront eine orthodoxe Kirche, die aussieht wie das russische Gebäude schlechthin. Aber letztlich ist jedes Land ein kulturelles Kaleidoskop aller Nationen, die es erobert hat oder von denen es erobert wurde. Auch alle anderen Kolonisatoren hatten im Schloss Toompea ihren Sitz, nur sah es damals halt anders aus und hieß wahrscheinlich auch anders.
Keiner der Eroberer hätte sich wohl vorstellen können, dass die Eingeborenen von da aus irgendwann das Land selbst verwalten, und zwar ohne Papier. Das papierlose Parlament wird sogar online gewählt, obwohl es an das Land mit den berüchtigtsten Hackern grenzt, die nächste Ironie.

Ein paar Straßen weiter residiert die Premierministerin, der man ab und zu in der Stadt begegnen kann. Warum wohnt sie gerade hier?

Deswegen. Die meisten Regierungschefs strebten das Amt wahrscheinlich nur wegen der Aussicht vom Balkon an.
Aber auch wir wurden an die besten Aussichtspunkte geführt, und an jedem einzelnen befand sich ein mobiler Stand mit maßlos überteuerten gebrannten Mandeln.
Der Turm der Olaikirche war im 16. Jahrhundert der höchste der Welt, aber die Stadtbrände haben ihn von 160 Metern auf 145 runtergekürzt. Aber was soll der Name, Olai - haben die das Nik von Nikolai vergessen? Nein, damit ist Olav II., König von Norwegen und Schutzpatron der Disney-Merchandiseprodukte Seefahrer, gemeint. Die Ironie besteht nun darin, dass Norwegen gerade nicht zu den vielen Eroberern Estlands gehört, aber die allererste Kirche in Estland gebaut und die erste Kirchgemeinde des Landes gegründet hat.

Während der restlichen anderthalb Tage versuchte ich, einige Empfehlungen des Stadtführers in die Tat umzusetzen. Da ist zum Beispiel das Museum der Stadtbefestigungsanlagen, in dem ich nach Herzenslust weit hinauf und weit hinunter, über die Wehrgänge und durch die vielen Türme stromern konnte.

Vor langer Zeit standen an diesem Ort die Dänen kurz vor einer Schlacht gegen die Eingeborenen und brauchten Motivation von Gott. Gott rief seine kreativsten Designer-Engel zusammen und ließ vom Himmel ein weißes Kreuz auf rotem Stoff auf die Dänen fallen (auch auf dem Gemälde hinten dargestellt).

Vom Himmel fallende Flaggen mag man nun nicht gerade für glaubwürdig halten, aber Fakt ist, dass die dänische Flagge wirklich irgendwo hier zum ersten Mal aufgetaucht ist. Atheisten können ja sagen, sie war die Schöpfung eines kreativen Designer-Generals, und gemäßigt Gläubige, dass besagter General von Gott kreative Unterstützung bekam.
Im Austausch für die Staatsflagge gaben die Dänen den Esten den Namen für ihre Hauptstadt, also quasi. Die meiste Zeit über wurde die Stadt Reval genannt. Nur die Ureinwohner nannten sie die dänische Stadt, in ihrer Sprache also: Taani-linna. Die Ironie besteht nun darin, dass obwohl die beiden Staaten ihre kulturellen Kaleidoskope so stark beeinflusst haben, die Dänen eigentlich von allen Eroberern am kürzesten hier waren. Bald hatten sie die Nase voll von der aufmüpfigen Kolonie, verschacherten das Festland für 19 000 Mark (Verdammte Inflation!) an den Deutschen Orden und trieben sich nur noch ein bisschen auf den Inseln herum.

Der Dänische Garten, wo die Flagge runterfiel, ist ein verstecktes Plätzchen, das man nur durch einen gut getarnten Durchgang in der Stadtmauer erreicht. Ohne die Führung hätte ich ihn nie gefunden. Alle paar Meter hat die Stadtmauer einen Turm, und in jedem spielen gleich mehrere Geistergeschichten. Nur der dicke plattdeutsche Turm Kiek in de Kök (ganz hinten) war leider wegen Renovierung geschlossen. Er heißt so, weil man dort von hinten in die Häuser und Küchen spannen kann.
Abends gehen die Lichter in den Mauerbögen an, und auch drei unheimliche Statuen leuchten von innen heraus (vorne rechts). Sie stellen einen der vielen Geister dar, und dieser hatte eine eigentümliche Karriere hinter sich: Vom städtischen Henker zum Mönch und zum (weil er die Arbeit mit der Axt dann doch irgendwie vermisste) geheimen Auftragsmörder. Sein LinkedIn-Profil sieht sicher seltsam aus, aber allein sein Profilbild dürfte genügen, um sich erfolgreich als Wächter von Askaban zu bewerben.

Eine Zeitlang haben Künstler in der Stadtmauer gelebt, und ihre Ateliers wurden rekonstruiert.

Weiter oben ist ein Café aus den 80ern original erhalten. Es wird aber nichts mehr ausgeschenkt, nein, man kann einfach bewundern, wie stylisch doch das tiefschwarze Holz ist... Und dieses Café hat das Museum zum Aufhänger genommen, um eine Ausstellung über die unterschiedlichen Cafés der Hauptstadt zu machen, von der piekfeinen Kaffeebude bis zum Fastfood bei Hesburgers. Ein Tallinner Kaffeefan erzählt dazu seine persönlichen Erinnerungen. Nun ja, um das so richtig spannend zu finden, muss man wohl Tallinner sein.

Aber das Museum deckt so viele Themen ab, da wird jeder irgendwas Spannendes finden; der Kombipreis für die kompletten Wehranlagen lohnt sich auf jeden Fall.
Komplett heißt: Es geht nicht nur hoch, sondern auch tief runter. Auf der anderen Seite der Stadtmauer ist in einem grünen Hügel ein zweiter Eingang in den unterirdischen Teil des Museums versteckt. Diese Hügel sind komplett künstlich und ein Überbleibsel aus der Zeit der Schweden. Sie wollten die Stadt mit elf solchen Verteidigungshügeln umspannen. Am Ende reichte das Geld nur für drei, aber die haben es wortwörtlich in sich! Ein dunkles Netz an kühlen Tunneln verbirgt sich darin. Ich stieg eine Treppe hinunter, dann noch eine, der Gang bog hierhin und dorthin, und die modernen grauen Kunststoffwände verzogen sich und gaben den Blick auf das echte Mauerwerk frei. Damit begann eine Wanderung durch den vielleicht längsten Gang, durch den ich je gelaufen bin (sogar länger als die Warteschlange zum Schwur des Kärnan).
Der Kopf hinter diesem Bauwerk ist Erik Jönsson Dahlberg (rechts im Bild), der größte schwedische Ingenieur seiner Zeit. Der schwedische König Carl XI. damals war der Meinung, Dänemark sei die größte Bedrohung, aber Dahlberg machte sich 1674 mehr Sorgen um den "guten Appetit" des Zarenreichs und wollte die Festungen im Osten ausbauen. Er behielt Recht: 1710 war Russland tatsächlich im Großen Nordischen Krieg bis Tallinn vorgerückt. Und zugleich hatte er Unrecht: Als die Pest in die Stadt einzog und die Russen die Wasserkanäle zustopften, brachten die Tunnel herzlich wenig. Bald wurde verboten, die Totenglocke zu läuten, sonst hätte niemand mehr schlafen können bei dem permanenten Gebimmel. Schließlich kapitulierte die Stadt.

In ihrer verrückten Geschichte wurden die Tunnel zu allen möglichen Zwecken benutzt. Zarin Katharina kerkerte hier zum Beispiel einen bärtigen Priester namens Vater Arseni (links) ein. Er war einer der führenden Kleriker der orthodoxen Kirche, bis er zu harsch kritisierte, dass sich die Zarin in die Kirche einmischte und ihr Land wegnahm und überhaupt einen ganz, ganz lasterhaftes Leben führte (also an den Strand ging und estnische Schweden zwangsumsiedelte, wie ich auf dieser Reise gelernt habe). Der Siebzigjährige verbrachte seine letzten vier Lebensjahre in dieser feuchten Finsternis.

Mit Figuren wurde die Nutzung der Tunnel nachgestellt, und in manchen Räumen ertönen auf Knopfdruck passende Geräusche. Was beklemmend wird in den Räumen, in denen ein Luftschutzbunker aus dem Zweiten Weltkrieg dargestellt wird.

Und eher witzig in dem Raum, in dem die Punks lebten und auf einmal entsprechende Musik erklang. Anfangs behielten die Kommunisten die Räume als Schutzbunker. Aber irgendwann dachten sie, ach, der Atomkrieg kommt eh nicht, und lagerten dort nur noch rote Flaggen und Transparente für ihre Aufmärsche. In anderen Räumen zogen Obdachlose ein. Auch Gespenstergeschichten für Kinder wurden hier drin gefilmt. Auf einem Fernseher läuft der schwarzweiße Stummfilm dreier Kinder, die hier unten ihre Katze suchen und einer paranormalen Geistergestalt begegnen. Wessen Geist das nun genau war oder was dahintersteckte, blieb offen.

Und das ist immer noch nicht alles. Ganz hinten ist der Gang plötzlich voll mit vollgemeißelten Kalksteinen. Die Tallinner meißelten gern Tiere, Pflanzen, Familienwappen und Bibelszenen in ihre Kämme oder Hauseingänge. Das Carved Stone Museum gehört offenbar auch noch zum Kombipreis. Moment, was? Von dem hatte ich doch heute Vormittag das Schild gesehen, und das war komplett woanders.

War es auch. Nach vielen gravierten Steinplatten öffnete ich eine Stahltür, entstieg dem Gang und blinzelte verwirrt ins Licht der Sonne. Ich befand mich auf dem Freiheitsplatz.

Auch die Esten wollten nach der Wende so ein Freiheitsdenkmal wie in Riga haben und investierten Millionen Euro in ein Denkmal für den Estnischen Freiheitskrieg. Leider wurde daraus keine ikonische Säule wie in Riga, sondern eher ein Fall für Extra3 - Der reale Irrsinn.
Der hohe Preis ergab sich hauptsächlich dadurch, dass der hochwertigste Marmor verwendet wurde. Frage: Wie viel Marmor sehen Sie auf dem Foto? Gar keinen. Denn er wurde in Glas eingehüllt. Glas ist zwar für gewöhnlich durchsichtig, aber nicht im estnischen Winter. Gleich der erste Winter brachte minus 20 Grad und ließ alle Panzerglasscheiben zerspringen. Millionen für eine Säule aus hässlichen Milchglassplittern? Tagsüber ja, aber nachts leuchtet das Glas von innen, und dann ist es doch beeindruckend.

Ja, mit den Wintern hier ist nicht zu spaßen. Sogar beim Schlendern über den berühmten Weihnachtsmarkt kann es lebensgefährlich werden. Wenn es nämlich von den Wasserspeiern am Rathaus tropft, bilden sich meterlange Eiszapfen, die beim Abbrechen locker einen Menschen töten können. Aber die historischen Drachenköpfe abbrechen ist ja auch keine Lösung, also wird jedes Jahr die potentielle Eiszapfenzone abgesperrt.
Gegenüber liegt die älteste Apotheke Europas.

Dänen, Schweden, Norweger, Ordensritter und Nazis, Zaristen und Kommunisten... alles schön und gut, aber was ist eigentlich mit den Esten? Sie waren einfach leibeigene Bauern, die nichts zu melden hatten und den aktuellen Machthabern Nahrung anbauten. Meistens jedenfalls. Aber eine Sage erzählt, wie einer von ihnen mehr sein wollte. Ein globaler Marktführer in der IT-Branche zu werden, war damals aus technischen Gründen noch nicht möglich, also wählte er wortwörtlich ein anderes Ziel.
Eines Tages veranstalteten die deutschen Adligen einen Wettkampf im Bogenschießen. Da trat plötzlich ein einfacher Bauer aus der Menge, hob den selbstgeschnitzten Bogen und übertraf (wortwörtlich) die ganze Elite an Präzision. Der Bürgermeister stand vor einer kniffligen Entscheidung: Ihn gewinnen zu lassen wäre ein No-Go, aber verhaften wollte er ihn auch nicht. Kompromiss: Er ernannte Thomas zum Hauptmann der Stadtwache. Die Figur des Alten Thomas steht quasi als Wetterhahn auf der Spitze des Rathauses.
Er ist der erste Este, dessen Name noch heute bekannt ist.

Es dauerte dann noch ein paar Jahrhunderte, bis sich die Bauern mehr zutrauten als Bogenschießen. Die Ironie besteht nun darin, dass ausgerechnet die Russen diesen Prozess ausgelöst haben. Denn wie in vielen Staaten wurde im 19. Jahrhundert die Leibeigenschaft langsam aufgeweicht und Bildung auch für die Bauern ein bisschen zugänglich gemacht. Nicht viel, aber genug, dass die Esten aus ihrem Winterschlaf erwachten und sich fragten, was sie alles werden könnten. Ihr Staat basiert nicht auf Unser heiliges Imperium existiert seit Anbeginn der Zeit, sondern eher auf Hey, ein eigener Staat, warum eigentlich nicht? Und das ist eigentlich auch kein schlechterer Grund als alles andere.

Natürlich hat Tallinn auch einen evangelischen Dom. Aber als der Stadtführer uns fragte, was denn die Religion Estlands sei, da antwortete jemand: "Paganism." Heidentum.
Der Stadtführer war überrascht, dass seine Fangfrage richtig beantwortet wurde. "I wouldn't say you're wrong.", musste er eingestehen.
Als die Esten nach der Wende in ihrem kulturellen Kaleidoskop nach etwas original Estnischen suchten, da erlebten die Naturmythen der Ureinwohner ein Comeback. Auch wenn die Esten in der Regel nicht glauben, dass in den Tieren und Pflanzen Geister drinstecken, können sie sich doch irgendwie mit diesen Geschichten identifizieren und wohlfühlen. (Wer das widersprüchlich findet, könnte sich fragen: Bei wie vielen Katholiken und Protestanten verhält es sich nicht im Grunde ähnlich?)
Wenn die Tallinner sonntags raus aufs Land in ihre Wochenendhäuser fahren und wandern gehen, dann sei das estnischer als jeder Gottesdienst. Ich hielt mich gehorsam an diesen Rat und betrat in meiner ganzen Zeit in Tallinn keine Kirche. Auch, weil ich die Öffnungszeiten vom Dom jedes Mal verpasste.

Und noch einer Empfehlung kam ich nach: Jeden Morgen wird auf dem Turm des Parlaments die Fahne gehisst, während die Nationalhymne bimmelt. Abends wird sie eingeholt, während ein Volkslied spielt, das im Sozialismus quasi die Ersatzhymne war, weil die echte verboten wurde. Beide sind in ihren patriotischen Liebeserklärungen und fluffiger Marschmusik kaum zu unterschieden. Der Text der echten Hymne kommt aus Schweden, die Melodie aus Finnland und ist inzwischen auch die der finnischen Nationalhymne. Das Kaleidoskop hat wieder zugeschlagen.
Abends lief ich also zur Ecke der Wallanlagen, guckte durch die Äste und prüfte nach, ob auch wirklich alles so abläuft wie versprochen. Überrascht stellte ich fest, dass ich als einziger Tourist gekommen war. Und da bimmelte es auch endlich, während der Flaggentyp rasch seinem überschaubaren Job nachging. Zumindest heute war es nicht umsonst, er hatte ein Publikum.

Wie komme ich wieder nach Hause? Früher konnte man über Minsk Bahn fahren (mit 15 Stunden Umstiegszeit), aber das ist natürlich nicht mehr möglich. Und wenn ich warte, bis die neue Ersatz-Bahnlinie über Polen fertig ist, bin ich bis dahin so voll integriert wie mein ehemals britischer Stadtführer. Auf meiner Reise kamen mir hin und wieder Flixbusse entgegen, aber die nehmen auf dieser Strecke keine Fahrräder (mehr) mit. Und fliegen mit Fahrrad möchte ich ungern, da muss man das erstmal kompliziert in 30 Schichten Plastik einpacken oder so.
Lange dachte ich, diese Reise sei also in der Form gar nicht möglich. Doch dann entdeckte ich die Website eines baltischen Busunternehmens namens Luxx Express. Was ich da las, klang zu schön, um wahr zu sein. Am letzten Tag bog ich zum Busbahnhof ein (zum allerletzten Lavazza-Automaten) und stellte fest: War es aber.
Der Bus fuhr direkt bis Warschau, wo ich die Stadt besichtigen und dann in den Nachtzug umsteigen konnte. Das Fahrrad konnte ich im Bauch des Busses verstauen, wo es vor dem Wetter und vergesslichen Fahrern wie bei Flixbus, die den Fahrradträger zu Hause lassen, geschützt war. Da war zwar nur Platz für zwei Räder und ich musste erst einen Besen und Eimer zur Seite schieben, aber so was kann man von einem Radfahrer, der solche Strecken zurücklegt, schon erwarten. Für jedes Gepäckstück wurden vorgedruckte Aufkleber mit dem Nachnamen verteilt, damit nichts verlorenging. Vor jedem Platz gab es ein Tablet mit Musik, Serien, Filmen und Internetbrowser. Wer keine Kopfhörer dabeihatte, konnte für einen Euro welche beim Busfahrer kaufen. WLAN, Steckdosen und saubere Klos muss wohl nicht mehr extra erwähnen. Und das Beste: An der hinteren Tür stand ein Heißgetränkeautomat bereit, an dem wir uns gratis unbegrenzt bedienen konnten.
Diesen ganzen Spaß gab es für 30 Euro. (Das war zwar Frühbucherrabatt, aber gerade mal zwei Monate früher.)
Diese Busse fahren übrigens auch in die mittelgroßen Städte wie Haapsalu oder Kuressaare. Die baltischen Staaten mögen zwar armselige Bahnländer sein, aber das hier ist ein angemessener Ersatz!

Ich kaufte mir also Kopfhörer, freute mich schon auf Warschau und schaltete die Musik ein. Das war eine gute Idee, denn die finsteren Straßen der Suwalki-Lücke nachts um drei polterten ganz schön laut.

Dienstag, 7. Mai 2024

Von Peraküla nach Suurupi

Am nächsten Morgen hatte der miese Waldweg zumindest einen nicht ganz so miesen Seitenstreifen.


Dann lag dieses ungewöhnliche Naturschutzgebiet endlich hinter mir. Mein Ziel für heute: All die kleinen Highlights sehen, die noch auf dem Weg zur Hauptstadt liegen, damit ich morgen direkt nach Tallinn reinzischen kann.

An der Straße hatte ich wieder mal meinen eigenen Weg und meine eigene Brücke. Die Autobrücke ist ein Mysterium von 1924, aber vielleicht auch noch viel älter und ursprünglich aus Holz oder doch aus Stein, weiß man alles nicht. Aber eigentlich müsste hier schon echt lange eine stehen, schließlich ist der Fluss echt nicht breit und direkt dahinter steht ein Kloster.

Glasscheiben zeigen, wie das Gebäude mal aussah, als sich 1370 Zisterziensermönche in Padise ansiedelten. Die Scheiben sind eine gute Idee, denn das massige, aber eben nur halbe Bauwerk überlässt doch einiges der Fantasie.
Das Kloster begann als Ableger des Klosters Dünamünde bei Riga. Viele Klöster haben eine Mauer außenrum, aber dieses hier war voll und ganz als Festung ausgebaut. Es ist das einzige Festungskloster in Nordeuropa. Vielleicht wurde dieses Design zur selbsterfüllenden Prophezeiung, auf jeden Fall kämpften Schweden und Russen im Livländischen Krieg erbittert darum.

Die Schweden gewannen, das Kloster eher nicht. Es wurde: Militärlager, Ruine, Gutshaus, nochmal halbe Ruine - die Mönche waren sicher nicht begeistert.
Ebenso wenig begeistert wären sie von den Flüchen gewesen, die ich vor ihren Toren ausstieß, als ich glaubte, mein Portemonnaie verloren zu haben. War aber falscher Alarm.

Im nächsten Dorf erwartete mich ganz unerwartet eine Premiere: Die erste Felswand außerhalb einer Steilküste. Sie duckt sich unter eine Kirche, als wäre so etwas ein ganz normaler Anblick im Ortsbild. Ein eindeutiges Zeichen, dass Skandinavien näherkommt!
Über der Kirchenmauer hingen unzählige karierte Strickdecken zum Trocknen - auf den ersten Blick hielt ich sie für Flaggen.

Auch auf dem Festland wollte ich zumindest noch einen Finger komplett bis zur Spitze umrunden. Die Schilder sagen dazu Nee, lass ma, aber der Bikeline schickt mich komplett auf den Finger namens Pakri, auf dem sogar eine Stadt liegt.
Paldiski ist die zweitkleinste Stadt Estlands (immerhin größer als Kärdla), genießt aber das Privileg, per Bahn direkt an die Hauptstadt angebunden zu sein. Letztlich wirkt Paldiski damit wie ein outgesourctes Wohn- und Industriegebiet von Tallinn. Die Sowjetunion installierte hier Atom-U-Boote und einen Reaktor, und so sieht Paldiski auch aus.

1912 hieß der Ort noch Baltischport, als sich der deutsche Kaiser und russische Zar hier zum Plaudern trafen. Frankreich befürchtete direkt ein Bündnis der beiden und überschätzte damit massiv die Schläue seines Feindes.
Gleise, Fabriken und schließlich Wohnblocks zogen vorbei, ohne dass mein Blick irgendwo hängenblieb.

Langweilig! Ich folgte der Straße aus der Stadt hinaus, an den streng gesicherten Mauern eines Recyclinghofs oder Gefängnisses (keine Ahnung) vorbei bis an die Spitze.

Das ging ja fix.
Eine weiße Statue mit dem Titel Last Sign of a Ship begrüßte mich am Ende der Halbinsel. Das letzte Zeichen eines Schiffs besteht offenbar aus einer nackten Frau, die aufs Meer guckt.
Ein bisschen erinnerte mich die Stelle ans Kap Arkona. Ein hoher Leuchtturm, ein Restaurant und eine weite Grasfläche, hinter der das Land plötzlich steil abfällt. Wie genau es abfällt, konnte ich vom Radweg nicht erkennen.

Aber es gab auch Trampelpfade über das Gras, also mal sehen, wie es da... oha. Das ist ja fast schon ein zweites Panga Pank!
Braune Steinplatten splittern nach und nach ab in die Tiefe, von unten ist der Fels schon ganz ausgehöhlt. Da würde ich mich lieber nicht an die Spitze stellen. Auf den Klippen von Pakri Pank stehen die Grundmauern irgendwelcher Häuschen. Die Ruinen lassen sich farblich kaum von den Felsen unterscheiden und stürzen aus Loyalität gemeinsam mit ihnen ab.

Ich sah Menschen unten im Leuchtturm verschwinden, doch niemand kam oben auf der Plattform heraus. Komisch, aber ich beschloss, es trotzdem mal zu versuchen. Im Kassenhäuschen gab es direkt die Antwort: Der Balkon außenrum ist wegen Bauarbeiten geschlossen, aber man kann in den verglasten Raum mit der Lampe hineinsteigen.
Die endlose Spiraltreppe hatte auch etwas Baustellenhaftes - und Beklemmendes. Ein Netz umspannt die Treppen, weil man dem Geländer anscheinend nicht genug vertraut. In der Mitte fährt ein Lastenaufzug in die Unendlichkeit.

Wer einen Leuchtturm-Scheinwerfer mal ganz aus der Nähe sehen will, für den dürfte sich der Aufstieg mehr als lohnen. Wer weit über die Küste von Pakri blicken will, für den auch.

Wer aber Fotos von dieser Aussicht ohne Gitterstäbe knipsen will, für den nicht.

Kurz hinter dem Leuchtturm endet die Straße. Der Rückweg auf der anderen Seite des Fingers dauerte mindestens dreimal so lange.
Die Küste bleibt felsig. Und was wird eine so stark industrialisierte Halbinsel wohl daraus machen? Steinbrüche! Irgendwo zwischen Meer, künstlichen Kratern, Fabriken und Windrädern winden sich holprige Pfade hindurch, die auch noch mit riesigen Pfützen bedeckt sind. Was insbesondere dann kritisch wird, wenn das schmale Stück zwischen tiefer Pfütze und noch tieferem Abgrund nur ein paar Zentimeter breit ist.

Ich kenne und schätze meine Kartenapp mapy.cz dafür, dass sie selbst die allerkleinsten Wasserfälle penibel einzeichnet. Und auf Pakri gibt es ganze fünf davon. Bisher dachte ich: Das einzige, für das ich genau zur richtigen Jahreszeit hergereist bin, sind Frühlingsblumen. Von denen ist auf Pakri aber auch noch nichts zu sehen, kahle Büsche und fahles Moos, so weit das Auge reicht. Aber Moment mal, die Wasserfälle müssten jetzt doch auch am stärksten sprudeln! (Naja, sagen wir einfach, sie sprudelten. Im Sommer sind diese Rinnsale wahrscheinlich ausgetrocknet.) Also fasste ich den Entschluss, jeden einzelnen zu entdecken. Fünfmal ließ ich das Rad am Wegesrand stehen und kraxelte durchs graue Gehölz. Ohne die App hätte ich definitiv keinen der versteckten Fälle entdeckt.

Wasserfall Nr. 1 ist vielleicht der beste, er rauscht zielstrebig über eine steile Felskante in Richtung Meer.

Wasserfall Nr. 2 ist vielleicht der lahmste, er tröpfelt träge durch das Moos weit abseits vom Meer.

Wasserfall Nr. 3 sprudelt eifrig durchs Unterholz und muss dann noch ein kurzes Stückchen zum Meer zurücklegen.

Ähnlich sieht es bei Wasserfall Nr. 4 aus, der vielleicht am meisten Wasser führte und von jungen, schlanken Bäumen umgeben war.

Wasserfall Nr. 5 dagegen ist mit Steinplatten dekoriert und plätschert über mehrere Felsstufen auf den Sandstrand.

Zu guter Letzt war noch einer weitere Steilküste in der App verzeichnet, aber die war ein schlechter Scherz. Damit war meine Umrundung von Pakri abgeschlossen.

Der nächste Zwischenstopp ist ein tragischer. In Klooga beginnt ein verwinkelter Weg durch den Wald bis zum Bahnhof. Dreieckige Mauern zoomen in mehreren Schritten in das Thema hinein: Der Holocaust im Allgemeinen, der Holocaust in Estland, der Holocaust in Klooga. Bei der Einweihung der Gedenkstätte 2005 gab der Ministerpräsident Ansip erstmals zu, dass estnische Polizisten dabei mitgewirkt hatten, die Juden Estlands aufzuspüren. Aber auch Gefangene aus Theresienstadt in Tschechien, Frankfurt oder Berlin wurden hierher verschoben. Im Konzentrationslager von Klooga mussten sie Häuser bauen, auf den Feldern ernten und Beton herstellen (deswegen besteht ein Gedenkstein aus Beton). Viele hofften, nach Klooga verlegt zu werden, denn die Bedingungen galten hier als geringfügig besser, zum Beispiel gab es Häuser aus Ziegelsteinen mit fließendem Wasser. In der Zementfabrik oder Sägemühle arbeiteten sie neben normalen estnischen Lohnarbeitern, die ihnen heimlich Essen zusteckten.
Als die Front immer näher rückte, half das alles aber auch nicht. Am 19. September 1944 erzählte die SS den Häftlingen, sie würden nach Deutschland verschifft und müssten jetzt bei den Aufräumarbeiten helfen. Als zu diesen Aufräumarbeiten die Errichtung eines Scheiterhaufens gehörte, wurden einige misstrauisch und versuchten zu fliehen, nur sehr selten mit Erfolg. Auch dabei waren ein paar estnische Polizisten beteiligt.

Solch ein großer Scheiterhaufen ließ sich nur schlecht verstecken. Als die Sowjetarmee einmarschierte, entdeckte sie die hastig kaschierten, halbverbrannten Überreste des Massakers. Es war einer der ersten Beweise für den Holocaust, von dem die Alliierten bis dahin nur vom Hörensagen mitbekommen hatten. Wie reagierte Stalins Regime darauf?
Gut: Internationale Journalisten wurden eingeladen, um ihnen alles transparent zu zeigen.
Irgendwie fair: Deutsche Kriegsgefangene wurden verpflichtet, einen Friedhof für die Toten auszuheben, der hier heute noch liegt.
Weniger gut: In der eigenen Propaganda wurden aus den Mordopfern bald durchgehend "Bürger der Sowjetunion", obwohl nur die wenigsten Juden diese Staatsbürgerschaft hatten.

Die restliche Strecke bestand aus straßenbegleitenden Radwegen, hier und da blinkte das Meer durch den Wald.

In Kloogaranna folgte überraschend Wasserfall Nr. 6. Direkt neben dem Radweg hüpfte der Fluss die eine oder andere Stufe herunter. Für einen genaueren Blick folgt auch ein Pfad seinem Ufer. Heute ist offenbar Wasserfall-Tag.

Eine Nummer größer ist Wasserfall Nr. 7, eine Staustufe in Keila-Joa.

Aber die ist nichts gegen Wasserfall Nr. 8 - der Rheinfall Estlands! Menschen drängten sich durch den Park und über die Felsen, um vor diesem Naturwunder zu posieren. Denn obwohl er im künstlichen Landschaftspark von Keila-Joa liegt, ist der 7000 Jahre alte, 70 Meter breite und 6 (leider nicht 7) Meter hohe Wasserfall natürlichen Ursprungs. 6,5 Kubikmeter fließen pro Sekunde durch, was in Estland immerhin für Platz 2 reicht.
In der Mitte rauschte es kräftig, aber sollte der Fluss noch mehr Wasser führen, gibt es noch Stauraum! Am Rande befinden sich trockene Felsplatten (unten im Bild), die der Fall noch nicht überspült hatte. Einige stiegen für bessere Fotos oder einen Adrenalinkick über das Geländer und auf den trockenen Wasserfall, dabei ist das Panorama auch so schön genug. Gleich hinter dem Fall ragen alte Mauern und das prächtige Gutshaus auf. Auch ein kleines Wasserkraftwerk stand da mal.
Also schnell Fotos machen, ehe das Panorama weg ist! Schließlich schleift das Waser den Kalkstein ab, und der Fall wandert pro Jahr 9,2 Zentimeter landeinwärts.

Hin und her, die Hügel rauf und runter winden sich die Wege durch den Park. Auch eine Liebesinsel mit einem Gitter voller Vorhängeschlösser gehört selbstverständlich dazu.
Kurze Comics in mehreren Sprachen erzählen die Geschichte des Landschaftsparks, zum Beispiel, wie der Komponist Alexei Lvov die Lvov-Brücke designt hat, auf ihr die Idee für die Hymne des russischen Zarenreichs hatte und dann sein Instrument ins Wasser schmiss, weil, Künstler halt.

Alle Quellen behaupten, der Landschaftspark würde sich bis zur Ostsee hinziehen, also wollte ich auch gern sehen, wie er auf die Ostsee trifft. Was für Fake News - am Ende gehört nur noch die Wasserfläche offiziell zum Parkgelände, an Land beginnen abgezäunte Privatgrundstücke.

Über einen Riesenumweg auf einem Waldpfad sah ich dann, wie der Fluss alles andere als landschaftsparkig in grauen Betonmauern ins Meer mündete. Und wehe, ich verließ den Strand! Eine Kamera passte genau auf, falls ich den privaten Rasen betreten sollte.

Tief im moosgrünen Küstenwald springt dann noch Wasserfall Nr. 9 eine Stufe runter.

Die Wasserfälle des Tages wären damit vorbei, die Steilküsten noch nicht. Bei Türisalu leuchtete eine weitere Klippe im Abendrot. Auch diesmal sah ich von der Straße aus nur eine plötzliche Graskante am Meer, und erst auf den Pfaden im Gras erschloss sich das volle Panorama. Aber anders als die Klippen von Pakri sieht diese hier relativ stabil aus und nicht, als könnte ich mit einem lauten Niesen ein Stück abbrechen.

Die Türisaluer haben trotzdem Angst vor ihr. Oder einfach eine seltsame Art, ihre Klippen zu genießen. Im Sonnenuntergang saßen sie in ihren Autos hinter der Leitplanke, futterten irgendwas und genossen die Aussicht. Der Parkplatz war gut gefüllt, aber ich war fast der einzige, der draußen herumlief.

Anschließend kommt eine weiter Steinerne Küste.

Ich könnte jetzt wahrscheinlich auf den straßenbegleitenden Radwegen durchsausen, es genau wie bei Riga machen und irgendwann zwischen 23 und 24 Uhr in Tallinn ankommen. Aber wozu der Quatsch? Wenn ich morgen Vormittag die letzten 30 Kilometer fahre, dann habe ich trotzdem noch fast drei Tage Zeit in der Stadt, das reicht ja wohl völlig.
Also folgte ich in aller Ruhe der Karte auf verwinkelten Schleifen durch die Küstenwälder und suchte langsam eine Stelle für die letzte Nacht in der Wildnis.

Leichter gesagt als getan. Zuerst war alles Naturschutzgebiet, dann kamen Vororte voller Villen. Einmal blockierte eine Schranke mit Videoüberwachung die Privatstraße, und mit einem unangenehmen Gefühl fuhr ich um die Schranke und eilte durch die beschränkte Zone, ehe jemand meckerte.
Am nächsten Wald schrie mir ein Schild auf Estnisch entgegen: 3200 Euro Strafe für irgendwas! Keine Ahnung wofür, aber ich möchte es lieber nicht herausfinden.

Verdammt, mein Plan hatte einen Denkfehler: 30 Kilometer vor der Hauptstadt bin ich natürlich längst in ihren Speckgürtel eingedrungen. Vielleicht gibt es hier ja Zimmer? Nein, mir wurden nur Wellnesshotels für 250 Euro die Nacht und Hostelzimmer im Zentrum Tallinns angezeigt, danke für nix.
Also entfernte ich mich bei Suurupi ein gutes Stück von der Küste, überquerte die Hauptstraße und fand schließlich einen Wald, der ganz offensichtlich kein Naturschutzgebiet und auch sonst praktisch jedem egal war. Zumindest schließe ich das aus der Menge an Müll, die dort abgeladen wurde.
Ich fand Suurupi nicht so supi.