Virtsu ist eigentlich nur als Ort um die Fähre entstanden, und das sieht man auch: Es gibt eine große Straße zum Check-In-Schalter, und auch sonst scheint einfach alles auf die Fähre zuzustreben. Inklusive mir.
An sich könnte ich auch auf dem Festland weiterfahren (wobei ich da keine Städte und nicht viel Meer sehen würde, weil ich einen großen Fjord weiträumig umfahren müsste). Aber alle, wirklich alle Quellen sind sich einig, dass die Ostseeradler jetzt über die Moonsund-Inseln weiterfahren sollen. Na, dann muss da ja was dran sein.
Ich machte mich also gleich morgens auf zur ersten Fähre, löste eine Fahrkarte und stand dann noch ein paar Minuten herum, während über dem Moonsund die Sonne aufging. Der Nebel verwirbelte ihr Licht zu fantastischen Formen.
An dieser Stelle kommt mein Bikeline mit der verrücktesten Wegbeschreibung um die Ecke, die ich jemals in einem Reiseführer gelesen habe: Wenn im Winter der Sund tief genug zugefroren ist, kann man die Insel über eine auf dem Eis markierte Trasse erreichen. Das Buch empfiehlt, im tiefsten Winter 25 Kilometer übers Eis zu radeln.
Dazu folgende Fragen:
1. What?!
2. Ist das wirklich noch aktuell, trotz globaler Erwärmung und so? Offenbar schon: Der Stadtführer in Tallinn meinte jedenfalls, auch heute noch würden die estnischen Eisbader jeden Winter Löcher ins Eis hacken. Es gibt ganze sieben Eisstraßen in Estland, und die hier ist die längste.
3. Wer zur Hölle würde denn um diese Jahreszeit eine Radtour zu machen? Ich wurde ja schon schräg angeschaut, weil ich im April gestartet bin. Und im Januar? Damit ich mir das antue, muss nicht der Moonsund gefrieren, sondern die Hölle.
So richtig konnte ich mir nicht vorstellen, wie das hier im Winter mit der Eisstraße aussehen muss. Wahrscheinlich fühlt man sich dann wie in einer ganz anderen Wirklichkeit (der sogenannten Virtsual Reality).
Auf jeden Fall macht die Tabelle klar: Das hier ist kein Touristenboot, hier fahren echte Esten, und auf den Inseln leben und arbeiten wirklich Leute. Es sind schließlich die drei größten Inseln des Landes. Die Esten überlegen sogar, hier eine Brücke hinzubauen. Die Fähre ist ungefähr so mittelgroß wie die Langelandslinjen in Dänemark und so modern, dass ich während der 30 Minuten Überfahrt kaum die Zeit fand, all das zu tun, was ich vorhatte: Meine Trinkflaschen auffüllen, mein Handy an der Steckdose laden, im WLAN noch ein paar Sachen nachgucken und frühstücken. Die Fähre serviert müden LKW-Fahrern ein Frühstück aus, wie Terry Pratchett sagen würde, flugunfähigen Vogelembryonen, Fleisch von bestimmten Körperstellen von Schweinen und pflanzlichen Knollen, die in tierisches Fett getaucht wurden (Eier, Speck und Bratkartoffeln). Dieses Zeug bereiten sie auf eine bemerkenswerte Weise zu, die zwar den Magen ausstopft, aber trotzdem weder satt macht noch Energie verleiht. Schon klar, so ein Frühstück ist nicht das gesündeste - aber noch nie bin ich vom Tisch aufgestanden mit dem Gefühl, warmes Styropor gegessen zu haben.
Und auf Muhu. Früher hieß die mal Moon oder Mohn. Obwohl sie die kleinste der drei Inseln auf meiner Route ist, hat sie dem Moonsund ihren Namen gegeben.
Vermutlich nicht gerade, dass seine Insel überbevölkert ist. Aber immerhin 2000 Menschen leben hier, mehr, als ich gedacht hätte.
Da fand ich es nicht mehr schade, dass sich das ganze Mõis noch im Winterschlaf befand.
Auf kleinen Halbinseln kann man sich von dem dämlichen Damm erholen und unter Strommasten rasten, welche Muhu mit Elektrizität versorgen.
Statt Leitplanken, Geländer oder dergleichen setzt dieser Damm einfach auf ein niedriges Seil. Aber das Ding ist halt auch schon ziemlich alt. Seit dem 17. Jahrhundert fuhren spezielle flache Fähren, man nannte sie skate of the strait, und im Winter Pferdeschlitten auf dem Eis. Weil das nicht reichte, begannen1894 die Bauarbeiten. Einer der größten Damm-Enthusiasten war ein Lehrer und Kantor namens Carl Wilhelm Freundlich, der sich für den Bau engagiert hatte, ohne ihn noch zu erleben. Das Zarenreich stellte 14 250 Rubel (so viel kosten vier durchschnittliche AfD-Abgeordnete) zur Verfügung. Von dem Geld wurden erstmal Zweige ins Wasser gelegt, damit der Damm nicht im sandigen Meeresboden versinkt. Dann wurde das gemacht, was schon bei den Molen von Ainaži und Pärnu gut geklappt hatte: Lasst die Bauern Steine von ihren Feldern hertragen und bezahlt sie pro Stein, um den Mindestlohn zu umgehen sie zu motivieren, möglichst viele pro Tag zu bringen. Für 3 Meter Damm gab es 50 Goldrubel, das entsprach vier Milchkühen. Dafür mussten sie dann später auch jedes Mal fünf Kopeken abdrücken, um den Damm zu überqueren. Es gab auch mal ein Gasthaus am Brückenrand, das im Ersten Weltkrieg zu Bruch ging. Und erst in den 60ern kam Asphalt obendrauf.
Auf den Zweigen von 1894, den Steinen der Bauern und dem Asphalt der 60er erreichte ich also Estlands größte Insel: Saaremaa.
Und sollte dann direkt in Saaremaas zweitgrößten Ort abbiegen: Orissaare. (Als Gott die Vokale verteilte, war er in Estland zu großzügig und hatte dann keine mehr für Polen und Tschechien übrig.)
Mitten in Orissaare liegt ein Fußballplatz, und mitten auf diesem Platz steht eine Eiche, die mächtiger ist als die Sowjetunion. 1951 versuchten die Arbeiter und Bauern, sie zu fällen, und scheiterten an den dicken Wurzeln. Also haben sich die Fußballspieler einfach dran gewöhnt.
Dazu ein Rathaus vor einer Wiese, ein paar alte Industriegebäude und ein nagelneuer Coop-Supermarkt.
Ganz anders das Dorf Sakla (nicht im Bild), das als eins der ersten Dörfer seine Landwirtschaft kollektivieren musste - dementsprechend ist es aus der Ferne an seinen grauen Plattenbauten zu erkennen.
Lajmala dagegen ist besonders stolz auf seine Wiesen und seine Dichterin: Die Menschen haben ihre komplette Bushaltestelle zu einem bunten Botanik-Lehrbuch angemalt und der Poetin Debora Vaarandi eine Statue aufgestellt.
Ihre Familie zog von Pöide nach Tallinn nach Lajmala. In den Wirren nach dem Ersten Weltkrieg kauften sie einen kleinen Bauernhof hinter dem Gutshaus und lebten die ersten Winter mit einem nichtfunktionierenden Herd im Keller des Guts. Trotz der harten Zeit glorifizierte sie die Heufelder von Saaremaa in ihren Gedichten (vielleicht, weil ihr Erwachsenenleben später mit Tuberkulose und Scheidungen auch nicht gerade leichter wurde).
Der Platz war knapp, vor allem, als ihr Bruder auch noch seine Verlobte dazuholte. Also bauten die Eltern einfach eine Sauna, in der sie dann auch schliefen. Wie in Skandinavien scheinen Saunen im Baltikum kein Luxus, sondern allgegenwärtiger Teil der Kultur und eine Waffe gegen die Kälte zu sein. Die Eltern gründeten auch die Dorfbibliothek, und ihre Kinder wurden die besten Stammkunden.
Einer ihrer bekanntesten Sätze ist übrigens: "Lennart, du wirst jedes Jahr mehr und mehr wie das Kamel von Viiralt." Der wurde zum geflügelten Wort. Das ist dann wohl estnischer Humor.
Saaremaas ganz spezielle Blumenböden heißen Alvar. Sie entstehen, wenn der Boden sehr nährstoffreich, aber dünn und im Sommer komplett getrocknet ist. So was gibt es nur auf den Ostseeinseln und in wenigen Gebieten von Südschweden, Westestland und bei St. Petersburg. Wie bei der Heide müssen ab und zu junge Bäume abrasiert werden, damit die Fläche so bleibt. 1994 wurden auf einem Quadratmeter Alvar 49 verschiedene Pflanzenarten entdeckt. Na, dann bin ich mal gespannt, wie viele ich sehe.
Und was soll ich sagen? Endlich mal etwas, wofür ich genau zur richtigen Zeit hier bin! Saaremaa lebte und blühte in einem farbenfrohen Teppich aus weiß, gelb und grün. Das sind die schönsten Straßengräben der Ostsee! Ich dachte, ich wüsste, wie man in den Frühling hineinradelt - in den Osterferien an der Donau von den ersten kleinen Schneeresten zu warmem Sommerwetter. Aber diese Baltikumsreise war die Extremversion davon!
Auf Saaremaa leben drei Prozent aller estnischen Menschen und schätzungsweise 99 Prozent aller estnischen Wiesel. Wieder und wieder huschten die kleinen braunen Tiere wie von einem Bogen abgeschossen über die Straße - viel zu schnell, um sich überfahren zu lassen (und damit eine angenehme Abwechslung zu den doofen, endlos Haken schlagenden Kaninchen, die auf vielen Inseln grassieren).
So, nachdem ich nun an zig geschlossenen Heimatmuseen vorbeigefahren bin, möchte ich aber doch mal irgendetwas auf den Inseln intensiver und am besten auch von innen besichtigen. Selbst, wenn ich dafür einen Umweg von sechs Kilometern einschieben muss. Auf nach Kaali!
Dieses Dorf wirkt gleich auf den ersten Blick ein bisschen anders. Es ist gemauert aus hellbraunen Steinen, die eine seltsame Kälte ausstrahlen. Im Herrenhaus befindet sich ein geöffneter Laden, und vor der Tür stand eine einsame Estin hinter einem Karren und verkaufte Souvenirs aus geschliffenem Stein.
"Guten Tag, ich würde gern das Museum besuchen.", bat ich im Geschäft. Und tatsächlich: Kaum hatte ich 2,50 Euro bezahlt, führte man mich in den Nachbarraum und knipste das Licht an.
"Yeah, this is the museum...", meinte die Kassiererin beinahe entschuldigend, weil es ja nur ein Raum war. Ach was - als ob ich bei 2,50 das Ozeaneum Stralsund erwartet hätte! Nee, bei dem Preis war mit genau so was zu rechnen: Ein Raum voller dichtbeschriebener Texttafeln und ein paar Gesteinsproben. Seltsam ist nur dieser allgegenwärtige kalte Stein, aus dem obskure Formen gemeißelt und ringsherum die Gesteinsproben platziert wurden. Das Museum zeigte mit einem bunt zusammengepuzzelten Steinrelief, aus welchen Mineralien Saaremaa so besteht, und gab mir Tipps, welche Klippen ich morgen auf der Nordseite besuchen soll.
Aber eigentlich geht es im Museum um einen rätselhaften Erdwall, der nur einen kurzen Spaziergang entfernt, hinter der Schule, aufragt. Schöne Spazierwege und Treppen führen rund um den Wall und auf und ab. Das ganze Ding ist 16 Meter hoch und hat einen Durchmesser von 110 Metern. In der Mitte dümpelt ein grünlicher Teich mit erstaunlich klarem Wasser. Nach all dem Flachland hatte ich keine besonderen Erwartungen, und so traf mich unvermittelt die besondere Atmosphäre dieses Ortes wie ein Schlag. So riesig hatte ich mir das nicht vorgestellt! Als ich den ersten Schritt die Treppe hinunter machte, umfing mich die Stille, als würde ich in eine andere Zeit hinabsteigen.
Was mag das sein? Vielleicht ein Burgwall, der heiliges Wasser beschützen sollte? (Ja, aber der wurde erst später obendrauf gemauert.) Ein Vulkanausbruch? Eine aufgelöste Salzschicht (wahrscheinlich Kaali-Salze, höhö)? Gas? Wasserdampfexplosionen? Die Menschen rätselten jahrhundertelang.
Und lagen falsch.
Denn als das Ding entstand, lebte noch kein einziger Mensch auf Saaremaa. Und schon gar keiner mit einer funktionierenden Handykamera. Schade eigentlich.
Vor 4000 Jahren stürzte ein Meteorit vom Himmel. Er brachte 20 bis 80 Tonnen auf die Waage, wenn es derart belastbare Waagen gäbe, und wäre mit 15 bis 45 Kilometern pro Sekunde geblitzt worden, wenn es derart schnelle Blitzer gäbe. Wäre ich ein Meteorit, könnte ich eine Tagesetappe in etwa drei Sekunden erledigen.
Als er auf unsere Atmosphäre knallte, zerbrach er in acht Stücke. Alle Stücke blieben noch ganz kurz zusammen und landeten genau auf diesem Bild.
Dabei wühlten sie die Erde auf, zerrten versteckte Dolomitenfelsen aus 50 Meter Tiefe empor und zerrissen sie zu schartigen Fetzen. Noch heute ragen sie krumm und schief aus dem Erdwall auf, in skurrilen Formen, die ich so nicht mal in den italienischen Dolomiten gesehen habe.
Das ist eigentlich auch der Grund, warum Geologen den Meteoritenkrater von Kaali so spannend finden - nicht wegen irgendwelcher außerirdischer Mineralien, sondern weil sie dadurch überhaupt erstmal gucken konnten, was denn so im Planeten Erde drinsteckt.
Denn vom Meteoriten selbst ist überhaupt nichts mehr drin.
Beim Aufprall beschlossen die acht Bruchstücke, sich zu trennen, schossen aus dem Hauptkrater heraus und produzierten auf auf dem nächsten Quadratkilometer nochmal acht Nebenkrater, die zwischen 15 und 40 Meter breit sind. Krater Nummer 4 liegt gleich neben der Straße nach Kaali, hat kein Wasser und eine kleine Treppe. Dort runterzusteigen fühlt sich eher an, wie in ein merkwürdiges Loch im Wald zu klettern - ich konnte sogar über den Rand gucken.
Andere Nebenkrater liegen versteckt auf Bauernhöfen hinter Haufen aus Mist. Zumindest, wenn ich der Karte am Museum korrekt gefolgt bin.
Und erst in diesen Nebenkratern fand 1927 der Bergbauingenieur I. A. Reinwald komische Spuren von Eisen, in dem Iridium drinsteckte - und mehr als drei Prozent Nickel! So eine Kombi gibt es auf dem Planeten Erde nie, sondern nur im Weltall. Damit war das Rätsel um den Krater von Kaali endlich gelöst - kein Wunder, wenn sich das außerirdische Metall so gut versteckt! Wobei der Krater natürlich auch Raum genug für Verschwörungstheorien bieten würde, die seine Entstehung ganz anders erklären, aber ich habe nicht den Eindruck, dass Esten auf so was stehen. Nein, sie erfinden lieber Sagen dazu - Verschwörungstheorien mit Stil.
Bis hierhin war der Meteoritenkrater für mich ein Motivationskrater gewesen. Aber als ich ihn hinter mir gelassen hatte, hatte ich auf einmal auch alle Energie hinter mir gelassen. Unvermittelt traf mich das, was man einen Durchhänger nennt. Ich musste nur noch bis zur Inselhauptstadt Kuressaare, um im Zeitplan zu bleiben - eigentlich ein Klacks. Morgen würde ich dann immer noch auf Saaremaa fahren, und erst übermorgen die Insel wechseln...
Aber irgendwie war mir die Lust an den ewigen Dorfstraßen vergangen, und ich hielt direkt auf der großen Hauptstraße auf die neuntgrößte Stadt Estlands zu. Am Ortseingang kam mir erstmal ein Minigolfplatz entgegen, auf dem einige Gebäude Saaremaas eher lieblos nachgebaut wurden. Soweit ich gesehen habe, ist das leider das einzige im Baltikum, das einem Modellpark irgendwie nahekam.
Die Stadt ist dagegen wirklich schön und besteht aus Holzvillen aus dem 17. und 18. Jahrhundert. Wie in Ventspils ist das Zentrum eher breit und niedrig - kein Wunder, auf der Insel ist genug Platz.
Ich wollte erstmal dem Durchhänger auf den Grund gehen und rausfinden, was mir fehlte. Vielleicht sind das die psychologischen Auswirkungen, wenn man warmes Styropor frühstückt? Eine anständige Mahlzeit muss her! Neben dem Restaurant da stehen Fahrräder mit dicken Taschen! Ich interpretierte das einfach mal als gute Bewertung und stieg hinab ins Kellergewölbe.
Und auch das Hauptgericht gab es richtig oft in den baltischen Staaten: Schnitzel mit Käse und Milchsauce drauf.
Und da ist ja auch endlich wieder die Ostsee! Hinter den Burgwällen blinkt sie in der Sonne.
Ich bin jetzt mehr oder weniger gegenüber vom Kap Kolka; an der engsten Stelle der Irbestraße sind es nur 30 Kilometer rüber nach Lettland. Tja, für mich war die Strecke ein bisschen länger. Was bei einer Radreise sogar erwünscht ist, ist für Leute aus der Region natürlich eher frustrierend. Bis 2009 gab es eine Fähre von Virtsu nach Ventspils, jetzt wird diskutiert, ob es stattdessen eine ab Saaremaa geben soll.
Für ein kurzes Stück gibt es in Kuressaare sogar einen Uferweg direkt am Wasser.
Die Rigaer Bucht geht jetzt wieder in die normale Ostsee über. Nur dass sie hier nicht mehr Ostsee heißt, sondern Läänemeri. Das bedeutet: Westsee. Ich bin inzwischen so weit gefahren, dass das Meer den komplett entgegengesetzten Namen hat. Ergibt Sinn, hier liegt die Ostsee halt im Westen (aber auch viel im Norden und Süden). Wenn ich so darüber nachdenke, ist es echt nicht die schlauste Idee, ein Meer nach der Himmelsrichtung zu benennen, in der es für einen selbst liegt, das fordert doch Missverständnisse geradezu heraus. (Die Nordsee hieß zum Beispiel früher in Deutschland auch Westsee.)
Da haben es die Slawen und Briten mit Baltisches Meer schon besser gemacht. Oder? Was bedeutet eigentlich dieses balt, mit dem mein Meer und die drei Staaten auf dieser Tour immer wieder gemeint sind? Da gibt es drei Theorien: Entweder kommt es vom Wort Belt (Gürtel), weil die Ostsee so langgestreckt ist, oder vom litauischen baltas (weiß) oder von der sagenhaften Bernsteininsel Baltia, von der angeblich alles Bernstein in der Ostsee kommt und mit der die antiken Geschichtsschreiber vielleicht Seeland oder... Saaremaa gemeint haben! Puh, da bin ich aber froh, dass ich nach dieser etymologischen Abschweifung wieder den Bogen zurück auf die aktuelle Insel schlagen kann.
Um wieder richtig auf die Spur zu kommen, war ich in Kuressaare auch noch in der Sauna. Obwohl das Saunieren hier fast so beliebt ist wie in Skandinavien, muss ich leider sagen, dass alle drei baltischen Staaten von Saunabarbaren bewohnt sind: Sie legen kein Handtuch unter und setzen sich direkt aufs Holz in den Schweiß ihres Vorgängers. Entsprechend sieht das Holz zum Teil aus.
Die kleine Therme im Hotel in Kuressaare stach da zumindest ein bisschen positiv hervor: Überall in den Regalen liegen kleine eingerollte Handtücher, die man kostenlos benutzen kann. Es benutzt sie zwar nur die Hälfte der Gäste, und die Dinger sind auch kaum größer als ein Waschlappen, aber für die baltischen Staaten ist sogar das ein rekordverdächtiger Grad an Handtuchabdeckung.
Wie auch immer, trotzdem kam ich da gut erholt raus. Der Moment, in dem ich meinen Durchhänger endgültig überwand, war aber der, als mir klar wurde, dass ich, wenn ich jetzt noch ein bisschen durchziehe, doch noch weit genug kommen könnte, um morgen schon mit der Insel fertigzuwerden. Vergessen Sie Essen, Entspannung und Ostseeblick - was mir gefehlt hat, war ein halb unrealistisches, ehrgeiziges Ziel, das mich antreibt! Und die Aussicht, irgendwann auch wieder von der schier endlosen Insel runterzukommen.
Dass der Weg dann erstmal so aussah, war natürlich auch hilfreich - ein schnurgerader Radweg an der schnurgeraden Straße durch den schönen Küstenwald.
Den ich dann leider verlassen musste. Die Wegweiser schickten mich zwar weiter auf eine Schleife über die extralange Halbinsel Sõrve - aber meine Karte sagte, ich solle die Halbinsel ignorieren und auf einer kleinen Straße abkürzen. Ach, deswegen stand auf dem Wegweiser vorhin eine viel höhere Kilometerzahl! Tja, ich hatte die Tour mit der Kilometerzahl der Karte geplant, und spontan so viel Strecke obendrauf zu packen, war mir dann doch zu heikel.
Auf der Rückseite von Sõrve entdeckte ich die Ruine der orthodoxen Kirche von Tiirimetsa. Kein überraschender Anblick, denn auf Sõrve gab es 1944 eine schlimme Schlacht. Deutschland hatte ganz Saaremaa, das auf Deutsch den öden Namen Ösel trug, gleich am Anfang des Russlandfeldzugs erobert, denn hier konnten sie russische Schiffe auf dem Weg in die offene Ostsee blockieren. Bis die Sowjetunion wieder vorrückte.
Das Verrückte ist nun, dass ich genau in diesem Moment den Bericht eines Zeitzeugen erhielt. Und zwar per Whatsapp aus Deutschland. Meine Mutter wusste nur, dass ich mich irgendwo auf Saaremaa befand. Und sie wählte ausgerechnet diesen Zeitpunkt, um mir einen Auszug aus dem Lebensbericht eines Senioren zu schicken, mit dem sie gesprochen hatte. Der Mann hatte keine guten Erinnerungen an die Insel und wirkte keinesfalls verstimmt darüber, dass sie nun zu Estland gehört. Er ging mit 70 Männern in die Hölle und kam mit sieben wieder heraus. Diese sieben waren die letzten, die nachts am Leuchtturm aufs Festland abgeholt waren, danach gehörte Saaremaa wieder der Sowjetunion.
Die machte aus der Insel eine komplette Sperrzone, auf die man nur mit Genehmigung kam. Auf Sõrve errichtete sie eine Militärstadt, den Zwilling vom lettischen Irbene. Gemeinsam bewachten die beiden die Einfahrt in die Rigaer Bucht. Durch Krieg und Deportationen zweier Regime verlor die Insel 30 Prozent der Einwohner. Immerhin blieb der Anteil an Esten hier sehr hoch, denn es wurden kaum Russen angesiedelt - wahrscheinlich wollte man ihnen zusätzlich zu der großen Entfernung zur Heimat nicht auch noch die Fährüberfahrt zumuten.
Damit wäre ich nun an der Westküste angekommen, und im Sonnenuntergang bog ich nach Norden auf eine einsame Landstraße ein, die ich fast für mich hatte.
Nur noch wenige Kilometer, dann reicht es, und ich kann Saaremaa morgen fertigkriegen.
Bei diesem Ding hier handelt es sich laut Schild um ein Sepa Suurkivi. Damit sollten ja wohl alle Fragen abschließend beantwortet sein. Nicht? Na gut, dann frage ich mal Google Übersetzer. Es bedeutet Großer Stein des Schmieds.
Nein danke, lieber noch ein Dorf weiter... ah ja, Koovi klingt in Ordnung. Solange ich mich da nicht mit Koovid anstecke.
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