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Dienstag, 7. Mai 2024

Von Peraküla nach Suurupi

Am nächsten Morgen hatte der miese Waldweg zumindest einen nicht ganz so miesen Seitenstreifen.


Dann lag dieses ungewöhnliche Naturschutzgebiet endlich hinter mir. Mein Ziel für heute: All die kleinen Highlights sehen, die noch auf dem Weg zur Hauptstadt liegen, damit ich morgen direkt nach Tallinn reinzischen kann.

An der Straße hatte ich wieder mal meinen eigenen Weg und meine eigene Brücke. Die Autobrücke ist ein Mysterium von 1924, aber vielleicht auch noch viel älter und ursprünglich aus Holz oder doch aus Stein, weiß man alles nicht. Aber eigentlich müsste hier schon echt lange eine stehen, schließlich ist der Fluss echt nicht breit und direkt dahinter steht ein Kloster.

Glasscheiben zeigen, wie das Gebäude mal aussah, als sich 1370 Zisterziensermönche in Padise ansiedelten. Die Scheiben sind eine gute Idee, denn das massige, aber eben nur halbe Bauwerk überlässt doch einiges der Fantasie.
Das Kloster begann als Ableger des Klosters Dünamünde bei Riga. Viele Klöster haben eine Mauer außenrum, aber dieses hier war voll und ganz als Festung ausgebaut. Es ist das einzige Festungskloster in Nordeuropa. Vielleicht wurde dieses Design zur selbsterfüllenden Prophezeiung, auf jeden Fall kämpften Schweden und Russen im Livländischen Krieg erbittert darum.

Die Schweden gewannen, das Kloster eher nicht. Es wurde: Militärlager, Ruine, Gutshaus, nochmal halbe Ruine - die Mönche waren sicher nicht begeistert.
Ebenso wenig begeistert wären sie von den Flüchen gewesen, die ich vor ihren Toren ausstieß, als ich glaubte, mein Portemonnaie verloren zu haben. War aber falscher Alarm.

Im nächsten Dorf erwartete mich ganz unerwartet eine Premiere: Die erste Felswand außerhalb einer Steilküste. Sie duckt sich unter eine Kirche, als wäre so etwas ein ganz normaler Anblick im Ortsbild. Ein eindeutiges Zeichen, dass Skandinavien näherkommt!
Über der Kirchenmauer hingen unzählige karierte Strickdecken zum Trocknen - auf den ersten Blick hielt ich sie für Flaggen.

Auch auf dem Festland wollte ich zumindest noch einen Finger komplett bis zur Spitze umrunden. Die Schilder sagen dazu Nee, lass ma, aber der Bikeline schickt mich komplett auf den Finger namens Pakri, auf dem sogar eine Stadt liegt.
Paldiski ist die zweitkleinste Stadt Estlands (immerhin größer als Kärdla), genießt aber das Privileg, per Bahn direkt an die Hauptstadt angebunden zu sein. Letztlich wirkt Paldiski damit wie ein outgesourctes Wohn- und Industriegebiet von Tallinn. Die Sowjetunion installierte hier Atom-U-Boote und einen Reaktor, und so sieht Paldiski auch aus.

1912 hieß der Ort noch Baltischport, als sich der deutsche Kaiser und russische Zar hier zum Plaudern trafen. Frankreich befürchtete direkt ein Bündnis der beiden und überschätzte damit massiv die Schläue seines Feindes.
Gleise, Fabriken und schließlich Wohnblocks zogen vorbei, ohne dass mein Blick irgendwo hängenblieb.

Langweilig! Ich folgte der Straße aus der Stadt hinaus, an den streng gesicherten Mauern eines Recyclinghofs oder Gefängnisses (keine Ahnung) vorbei bis an die Spitze.

Das ging ja fix.
Eine weiße Statue mit dem Titel Last Sign of a Ship begrüßte mich am Ende der Halbinsel. Das letzte Zeichen eines Schiffs besteht offenbar aus einer nackten Frau, die aufs Meer guckt.
Ein bisschen erinnerte mich die Stelle ans Kap Arkona. Ein hoher Leuchtturm, ein Restaurant und eine weite Grasfläche, hinter der das Land plötzlich steil abfällt. Wie genau es abfällt, konnte ich vom Radweg nicht erkennen.

Aber es gab auch Trampelpfade über das Gras, also mal sehen, wie es da... oha. Das ist ja fast schon ein zweites Panga Pank!
Braune Steinplatten splittern nach und nach ab in die Tiefe, von unten ist der Fels schon ganz ausgehöhlt. Da würde ich mich lieber nicht an die Spitze stellen. Auf den Klippen von Pakri Pank stehen die Grundmauern irgendwelcher Häuschen. Die Ruinen lassen sich farblich kaum von den Felsen unterscheiden und stürzen aus Loyalität gemeinsam mit ihnen ab.

Ich sah Menschen unten im Leuchtturm verschwinden, doch niemand kam oben auf der Plattform heraus. Komisch, aber ich beschloss, es trotzdem mal zu versuchen. Im Kassenhäuschen gab es direkt die Antwort: Der Balkon außenrum ist wegen Bauarbeiten geschlossen, aber man kann in den verglasten Raum mit der Lampe hineinsteigen.
Die endlose Spiraltreppe hatte auch etwas Baustellenhaftes - und Beklemmendes. Ein Netz umspannt die Treppen, weil man dem Geländer anscheinend nicht genug vertraut. In der Mitte fährt ein Lastenaufzug in die Unendlichkeit.

Wer einen Leuchtturm-Scheinwerfer mal ganz aus der Nähe sehen will, für den dürfte sich der Aufstieg mehr als lohnen. Wer weit über die Küste von Pakri blicken will, für den auch.

Wer aber Fotos von dieser Aussicht ohne Gitterstäbe knipsen will, für den nicht.

Kurz hinter dem Leuchtturm endet die Straße. Der Rückweg auf der anderen Seite des Fingers dauerte mindestens dreimal so lange.
Die Küste bleibt felsig. Und was wird eine so stark industrialisierte Halbinsel wohl daraus machen? Steinbrüche! Irgendwo zwischen Meer, künstlichen Kratern, Fabriken und Windrädern winden sich holprige Pfade hindurch, die auch noch mit riesigen Pfützen bedeckt sind. Was insbesondere dann kritisch wird, wenn das schmale Stück zwischen tiefer Pfütze und noch tieferem Abgrund nur ein paar Zentimeter breit ist.

Ich kenne und schätze meine Kartenapp mapy.cz dafür, dass sie selbst die allerkleinsten Wasserfälle penibel einzeichnet. Und auf Pakri gibt es ganze fünf davon. Bisher dachte ich: Das einzige, für das ich genau zur richtigen Jahreszeit hergereist bin, sind Frühlingsblumen. Von denen ist auf Pakri aber auch noch nichts zu sehen, kahle Büsche und fahles Moos, so weit das Auge reicht. Aber Moment mal, die Wasserfälle müssten jetzt doch auch am stärksten sprudeln! (Naja, sagen wir einfach, sie sprudelten. Im Sommer sind diese Rinnsale wahrscheinlich ausgetrocknet.) Also fasste ich den Entschluss, jeden einzelnen zu entdecken. Fünfmal ließ ich das Rad am Wegesrand stehen und kraxelte durchs graue Gehölz. Ohne die App hätte ich definitiv keinen der versteckten Fälle entdeckt.

Wasserfall Nr. 1 ist vielleicht der beste, er rauscht zielstrebig über eine steile Felskante in Richtung Meer.

Wasserfall Nr. 2 ist vielleicht der lahmste, er tröpfelt träge durch das Moos weit abseits vom Meer.

Wasserfall Nr. 3 sprudelt eifrig durchs Unterholz und muss dann noch ein kurzes Stückchen zum Meer zurücklegen.

Ähnlich sieht es bei Wasserfall Nr. 4 aus, der vielleicht am meisten Wasser führte und von jungen, schlanken Bäumen umgeben war.

Wasserfall Nr. 5 dagegen ist mit Steinplatten dekoriert und plätschert über mehrere Felsstufen auf den Sandstrand.

Zu guter Letzt war noch einer weitere Steilküste in der App verzeichnet, aber die war ein schlechter Scherz. Damit war meine Umrundung von Pakri abgeschlossen.

Der nächste Zwischenstopp ist ein tragischer. In Klooga beginnt ein verwinkelter Weg durch den Wald bis zum Bahnhof. Dreieckige Mauern zoomen in mehreren Schritten in das Thema hinein: Der Holocaust im Allgemeinen, der Holocaust in Estland, der Holocaust in Klooga. Bei der Einweihung der Gedenkstätte 2005 gab der Ministerpräsident Ansip erstmals zu, dass estnische Polizisten dabei mitgewirkt hatten, die Juden Estlands aufzuspüren. Aber auch Gefangene aus Theresienstadt in Tschechien, Frankfurt oder Berlin wurden hierher verschoben. Im Konzentrationslager von Klooga mussten sie Häuser bauen, auf den Feldern ernten und Beton herstellen (deswegen besteht ein Gedenkstein aus Beton). Viele hofften, nach Klooga verlegt zu werden, denn die Bedingungen galten hier als geringfügig besser, zum Beispiel gab es Häuser aus Ziegelsteinen mit fließendem Wasser. In der Zementfabrik oder Sägemühle arbeiteten sie neben normalen estnischen Lohnarbeitern, die ihnen heimlich Essen zusteckten.
Als die Front immer näher rückte, half das alles aber auch nicht. Am 19. September 1944 erzählte die SS den Häftlingen, sie würden nach Deutschland verschifft und müssten jetzt bei den Aufräumarbeiten helfen. Als zu diesen Aufräumarbeiten die Errichtung eines Scheiterhaufens gehörte, wurden einige misstrauisch und versuchten zu fliehen, nur sehr selten mit Erfolg. Auch dabei waren ein paar estnische Polizisten beteiligt.

Solch ein großer Scheiterhaufen ließ sich nur schlecht verstecken. Als die Sowjetarmee einmarschierte, entdeckte sie die hastig kaschierten, halbverbrannten Überreste des Massakers. Es war einer der ersten Beweise für den Holocaust, von dem die Alliierten bis dahin nur vom Hörensagen mitbekommen hatten. Wie reagierte Stalins Regime darauf?
Gut: Internationale Journalisten wurden eingeladen, um ihnen alles transparent zu zeigen.
Irgendwie fair: Deutsche Kriegsgefangene wurden verpflichtet, einen Friedhof für die Toten auszuheben, der hier heute noch liegt.
Weniger gut: In der eigenen Propaganda wurden aus den Mordopfern bald durchgehend "Bürger der Sowjetunion", obwohl nur die wenigsten Juden diese Staatsbürgerschaft hatten.

Die restliche Strecke bestand aus straßenbegleitenden Radwegen, hier und da blinkte das Meer durch den Wald.

In Kloogaranna folgte überraschend Wasserfall Nr. 6. Direkt neben dem Radweg hüpfte der Fluss die eine oder andere Stufe herunter. Für einen genaueren Blick folgt auch ein Pfad seinem Ufer. Heute ist offenbar Wasserfall-Tag.

Eine Nummer größer ist Wasserfall Nr. 7, eine Staustufe in Keila-Joa.

Aber die ist nichts gegen Wasserfall Nr. 8 - der Rheinfall Estlands! Menschen drängten sich durch den Park und über die Felsen, um vor diesem Naturwunder zu posieren. Denn obwohl er im künstlichen Landschaftspark von Keila-Joa liegt, ist der 7000 Jahre alte, 70 Meter breite und 6 (leider nicht 7) Meter hohe Wasserfall natürlichen Ursprungs. 6,5 Kubikmeter fließen pro Sekunde durch, was in Estland immerhin für Platz 2 reicht.
In der Mitte rauschte es kräftig, aber sollte der Fluss noch mehr Wasser führen, gibt es noch Stauraum! Am Rande befinden sich trockene Felsplatten (unten im Bild), die der Fall noch nicht überspült hatte. Einige stiegen für bessere Fotos oder einen Adrenalinkick über das Geländer und auf den trockenen Wasserfall, dabei ist das Panorama auch so schön genug. Gleich hinter dem Fall ragen alte Mauern und das prächtige Gutshaus auf. Auch ein kleines Wasserkraftwerk stand da mal.
Also schnell Fotos machen, ehe das Panorama weg ist! Schließlich schleift das Waser den Kalkstein ab, und der Fall wandert pro Jahr 9,2 Zentimeter landeinwärts.

Hin und her, die Hügel rauf und runter winden sich die Wege durch den Park. Auch eine Liebesinsel mit einem Gitter voller Vorhängeschlösser gehört selbstverständlich dazu.
Kurze Comics in mehreren Sprachen erzählen die Geschichte des Landschaftsparks, zum Beispiel, wie der Komponist Alexei Lvov die Lvov-Brücke designt hat, auf ihr die Idee für die Hymne des russischen Zarenreichs hatte und dann sein Instrument ins Wasser schmiss, weil, Künstler halt.

Alle Quellen behaupten, der Landschaftspark würde sich bis zur Ostsee hinziehen, also wollte ich auch gern sehen, wie er auf die Ostsee trifft. Was für Fake News - am Ende gehört nur noch die Wasserfläche offiziell zum Parkgelände, an Land beginnen abgezäunte Privatgrundstücke.

Über einen Riesenumweg auf einem Waldpfad sah ich dann, wie der Fluss alles andere als landschaftsparkig in grauen Betonmauern ins Meer mündete. Und wehe, ich verließ den Strand! Eine Kamera passte genau auf, falls ich den privaten Rasen betreten sollte.

Tief im moosgrünen Küstenwald springt dann noch Wasserfall Nr. 9 eine Stufe runter.

Die Wasserfälle des Tages wären damit vorbei, die Steilküsten noch nicht. Bei Türisalu leuchtete eine weitere Klippe im Abendrot. Auch diesmal sah ich von der Straße aus nur eine plötzliche Graskante am Meer, und erst auf den Pfaden im Gras erschloss sich das volle Panorama. Aber anders als die Klippen von Pakri sieht diese hier relativ stabil aus und nicht, als könnte ich mit einem lauten Niesen ein Stück abbrechen.

Die Türisaluer haben trotzdem Angst vor ihr. Oder einfach eine seltsame Art, ihre Klippen zu genießen. Im Sonnenuntergang saßen sie in ihren Autos hinter der Leitplanke, futterten irgendwas und genossen die Aussicht. Der Parkplatz war gut gefüllt, aber ich war fast der einzige, der draußen herumlief.

Anschließend kommt eine weiter Steinerne Küste.

Ich könnte jetzt wahrscheinlich auf den straßenbegleitenden Radwegen durchsausen, es genau wie bei Riga machen und irgendwann zwischen 23 und 24 Uhr in Tallinn ankommen. Aber wozu der Quatsch? Wenn ich morgen Vormittag die letzten 30 Kilometer fahre, dann habe ich trotzdem noch fast drei Tage Zeit in der Stadt, das reicht ja wohl völlig.
Also folgte ich in aller Ruhe der Karte auf verwinkelten Schleifen durch die Küstenwälder und suchte langsam eine Stelle für die letzte Nacht in der Wildnis.

Leichter gesagt als getan. Zuerst war alles Naturschutzgebiet, dann kamen Vororte voller Villen. Einmal blockierte eine Schranke mit Videoüberwachung die Privatstraße, und mit einem unangenehmen Gefühl fuhr ich um die Schranke und eilte durch die beschränkte Zone, ehe jemand meckerte.
Am nächsten Wald schrie mir ein Schild auf Estnisch entgegen: 3200 Euro Strafe für irgendwas! Keine Ahnung wofür, aber ich möchte es lieber nicht herausfinden.

Verdammt, mein Plan hatte einen Denkfehler: 30 Kilometer vor der Hauptstadt bin ich natürlich längst in ihren Speckgürtel eingedrungen. Vielleicht gibt es hier ja Zimmer? Nein, mir wurden nur Wellnesshotels für 250 Euro die Nacht und Hostelzimmer im Zentrum Tallinns angezeigt, danke für nix.
Also entfernte ich mich bei Suurupi ein gutes Stück von der Küste, überquerte die Hauptstraße und fand schließlich einen Wald, der ganz offensichtlich kein Naturschutzgebiet und auch sonst praktisch jedem egal war. Zumindest schließe ich das aus der Menge an Müll, die dort abgeladen wurde.
Ich fand Suurupi nicht so supi.

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