In Pärnu habe ich ein bisschen zu viel Zeit verbracht. Erst Mittags ließ ich mich einmal vom Fahrradzähler durchzählen und überquerte dann die Brücke über den Pärnu.
Laut seinem Wikipedia-Artikel war er total bescheiden, asketisch, liebenswürdig, vielfältig interessiert und eine Art Gorbatschow light bzw. Gorbatschows Mentor bzw. sogar der bessere Gorbatschow, weil er anders als sein Vorgänger Breschnew und Nachfolger Tschenenko mit erfolgreichen Reformen experimentiert hat, die der doofe Gorbatschow dann leider durch noch radikalere Reformen ersetzt haben soll. Allerdings ist der Artikel mit Es bestehen Bedenken bezüglich der Neutralität markiert, also naja. Weil er so krank war, starb er schon nach 15 Monaten im Amt. Damals wurde die Sowjetunion Gerontokratie genannt, weil nur noch Greise an der Macht waren, ein ganz klares Zeichen, dass das System am Ende war, eindeutig. Dabei war Andropow mit 69 noch ein Jungspund verglichen mit dem aktuellen russischen Präsidenten oder den US-Präsidentschaftskandidaten.
Also fast. Eine Wand aus Wind stemmte sich mir entgegen, fest entschlossen, zu verhindern, dass ich heute noch Virtsu erreiche. Gegenwind hatte ich eigentlich die meiste Zeit auf der Baltikumstour - was schon eine bemerkenswerte Anpassungsfähigkeit des Windes bedeutet, wenn man bedenkt, wie oft der Eurovelo10 hier die Richtung von Ost nach West nach Nord nach Süd wechselt. Aber die meiste Zeit (außer im Schneesturm) hielt sich die Windstärke in Grenzen. Heute nicht.
Ich bewegte mich nur noch mit der Geschwindigkeit von Herrn Andropow in seinen letzten Lebenstagen über den Damm. Neben mir wühlte der Wind die Rigaer Bucht auf, die nun nicht mehr so spiegelglatt war.
Zumindest die Gänse und Enten finden es hier äußerst romantisch, der Anzahl ihrer Küken nach zu urteilen.
2008 stellten sich hier in Lindi 2354 Menschen in eine Linie, tanzten und kamen dabei auf 3,7 Kilometer Länge. Damit brauchen sie den Guinness-Weltrekord der Longest Single Dance Line. Mit Menschenketten kennen sich die Balten einfach aus.
Reiterhöfe und kleine Unterkünfte säumen die Romantische Küstenlinie, wie sich dieser Abschnitt nennt. Mit weniger Wind könnte ich dem sogar zustimmen.Zwar ist das Ufer gesäumt von Schilf statt Strand, aber zumindest ist das der letzte Abschnitt, wo die Küstenlinie noch relativ normal aussieht.
Ich kämpfte und kämpfte mich durch bis zum südlichen Ende der romantischen Küste, und endlich wechselte der Weg die Richtung und ging (die meiste Zeit zumindest) wieder nach Nordwesten, sodass ich (die meiste Zeit zumindest) die Windwand an der Seite oder im Rücken hatte. Hier entfernte ich mich von der Küste und kam immer wieder durch Waldstücke.
Ich radelte durch eine düstere Allee, die eine ideale Kulisse für einen Gruselfilm wäre. Wo ist denn nun das Vampirschloss am Ende?
Nirgendwo, stattdessen folgt eine knuffige, bunte Mini-Tankstelle. Das Häuschen sieht eher nach einer Spielzeug-Tankstelle für Kinder aus. Hier gibt es Müügil bensiin!
Wie in Lettland gibt es auch hier ein paar engagierte Dörfer, die eigene Radwege gebaut haben. Nur: Wenn eh extrem wenig Verkehr ist und ich da eh in einer Minute durchgerast bin, lohnt es sich dann überhaupt, da raufzufahren? Natürlich tut es das, ich will ja nicht undankbar sein.
Rein sprachlich (manche sagen, auch kulturell) liegt Estland eigentlich näher an Finnland als am Rest des Baltikums. Estnisch ist eine finno-ugrische Sprache, und das heißt: Klingt süß, aber ich versteh gar nix mehr. Manche Ortsschilder sehen aus wie ausgehustet.
Leider gibt es auch das Gegenteil: Dorfpisten! Wenn auch sehr viel weniger als in Lettland.
Die Gegend ist noch ziemlich feucht. Das Puhtu-Laelatu-Feuchtgebiet wird schon seit 1971 ausdrücklich von einer der ältesten internationalen Konventionen zum Naturschutz, der Ramsar-Konvention, geschützt.
Die Landschaft sah immer mehr so aus, wie ich mir Finnland vorstellte, und manchmal musste ich mir regelrecht klarmachen, dass ich noch nicht in Finnland bin - das kommt schließlich erst auf der nächsten Tour!
Hier in Illuste wurde Jan Teemant geboren, ein estnischer Märtyrer und Politiker, der einfach nicht vernünftig zum Arbeiten kam, weil ihm ständig irgendwelche Russen an den Kragen wollten. Zuerst saß er im Tallinner Stadtrat und machte bei der Revolution von 1905 mit - ein erster Versuch für die Unabhängigkeit, der fehlschlug. Während ein Zarengericht schon mal das Todesurteil vorbereitete, lebte Teemant als politischer Flüchtling in der Schweiz. (Genau wie Lenin - also ausgerechnet der Mann, der das Regime gründen würde, das Teemant später wirklich hinrichten sollte. Die Geschichte hat einen befremdlichen Humor.) Als das Urteil aufgehoben wurde, kehrte er zurück und musste nur noch anderthalb Jahre in Untersuchungshaft. Die nächste Revolution lief besser, er kam in die verfassungsgebende Versammlung und dann ins Parlament. Bis die Sowjets das Land besetzten und ihn verhafteten. Wo und wie genau er dann getötet wurde, ist unbekannt.
Mit diesem Gründervater beschäftigt sich ein Heimatmuseum. Es befindet sich im Landhaus Illuste Manor, mal sehen, von 1646, gehörte Familie Maydell... ach schade, das ist wohl doch nicht Teemants Geburtshaus.
Viele Dörfer haben so ein Museumchen, und pflichtgemäß weist ein braunes Schild in jedem Dorf darauf hin. Aber Saison haben sie leider noch nicht.
Und einer der ersten Finger heißt Puhtulaid. Als der Ort Virtsu noch Werder hieß und das alles noch deutsch war, ließ hier Graf Carl Thure von Helwig für seine Sommerresidenz einen englischen Park anlegen. Als Hobby war er Bildhauer, und so stellte er alles mit eigenen Statuen voll. Seine Tochter Dorothea angelte sich als Lover keinen anderen als einen gewissen Dichter namens Friedrich Schiller, und Helwig fand den als Schwiegersohn offenbar schwer in Ordnung - zumindest stand hier eine der ersten Schillerstatuen überhaupt.
Der Abend dämmerte herauf, aber irgendwie hatte ich es doch noch geschafft! Erster Vorbote war eine alte Windmühle, die bald von vielen Windrädern im Sonnenuntergang abgelöst wurde. Mein heutiges Ziel ist nämlich bekannt für seinen Windpark. Dann war der Wind heute wenigstens für irgendwas gut. Auch ein mysteriöser schwarzer Turm, dessen Geheimnis ich nicht lüften konnte, ragte weit entfernt aus dem Wald.
Eine Frau führte ganz allein ihren Hund spazieren und starrte in die Kulisse der drehenden Mühlen im Abendrot.
Schließlich kam ich wieder mal auf eine alte Bahntrasse - und wie üblich, bevorzugt die Bahn den direkten Weg, also quer über die Bucht. Umso mehr, wenn dazu nur eine ganz kurze Brücke nötig ist. Die Bahntrasse von Virtsu nach Rapla existierte von 1928 bis 1968, so viel kann ich dem estnischen Schild entnehmen.
An ihrer Seite im Schilf nistet ein Schwaan. Er schlief bereits eingerollt in seinem Nest.
Hier war nun gut zu sehen, was ich bisher nur in der Ferne durch die Bäume erahnen konnte: Die Ostseeküste kommt in die Pubertät. Auf der Karte sieht es aus, als würde sie aufplatzen und Pickel oder Beulen hervorbrechen. Aber nein, das kann ich so nicht sagen, das klingt viel zu hässlich. Und hässlich sind diese Ausläufer, Halbinseln oder was auch immer - der Bikeline nennt sie Finger - nun wirklich nicht.
Also: Herzlich willkommen zur Estnischen Fingerküste!
Und einer der ersten Finger heißt Puhtulaid. Als der Ort Virtsu noch Werder hieß und das alles noch deutsch war, ließ hier Graf Carl Thure von Helwig für seine Sommerresidenz einen englischen Park anlegen. Als Hobby war er Bildhauer, und so stellte er alles mit eigenen Statuen voll. Seine Tochter Dorothea angelte sich als Lover keinen anderen als einen gewissen Dichter namens Friedrich Schiller, und Helwig fand den als Schwiegersohn offenbar schwer in Ordnung - zumindest stand hier eine der ersten Schillerstatuen überhaupt.
Meine Erwartung war also: Ein wilder Park auf einer vergessenen Insel mit einem verfallenen Schloss drauf. Da kam mir auf einmal folgender Gedanke: Wäre es nicht cool, auf so was zu übernachten?
Nun ja. Als ich vor einem relativ neuen, verschlossenen Tor stand, passte das schon mal nicht ganz zu diesen Erwartungen. Aber ich schob das Rad trotzdem durch das offene Fußgängergatter. Als ich statt einer Schlossruine ein offenbar bewohntes Landhaus entdeckte, hoffte ich immer noch, dass dahinter das richtige Lost Place losgehen könnte.
Und als ich schließlich am Ende der Halbinsel herauskam und statt des versprochenen Aussichtsturms nur ein weiteres normales Haus erschien, war ich von Puhtulaid insgesamt enttäuscht.
Vor allem aber war es nun schon richtig düster, und zu allem Überfluss tröpfelte es leicht vom Himmel. Auf dem Rückweg bog ich ab zu einem kleinen Bootshafen. Eigentlich hatte ich gedacht, dort werde ich eher gestört als auf der geheimnisvollen Schlossinsel, aber das Gegenteil war der Fall - kein Schwein war dort, die Handvoll Boote lagen einsam herum, und wie es die App versprochen hatte, erwarteten mich ein Aussichtsturm, viele Grills und jede Menge Rasthütten als Regenschutz. Wunderbar, danke, Hafen!
Stattdessen fand ich eine Kamera. Einsam thronte sie auf einer weißen Stange im Wald. Verwirrt beschloss ich, hier lieber nicht zu übernachten. Wer glaubt, die Straßenlaterne im Wald von Narnia sei deplatziert, der sollte mal zur Überwachungskamera von Puhtulaid fahren.
Als ich mich hinlegte, ertönten seltsame Geräusche.
Ffüüü, fffüüü...
Es klang, als würde jemand über eine Flasche pusten.
Ffüüü, fffüüü...
Ich richtete mich auf. Aber da war niemand.
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