NEU: Die andere Strecke durch Dänemark - mit opportunistischer Mikro-Insel

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Freitag, 3. Mai 2024

Von Koovi nach Emmaste

Am nächsten Morgen erblickte ich mit Schrecken eine einstellige Zahl. Es war der Akkustand meines Handys. Was, warum hat es über Nacht nicht geladen?
Ganz einfach: Weil der Akkustand meiner Powerbank sogar noch einstelliger war, um nicht zu sagen: nullstellig. Wie, ich habe sie doch gestern noch im Restaurant etwas geladen? Das Teil wird wohl einfach alt. Oje, wie sehr klagen wir doch alle, wie abhängig wir sind von diesem kleinen Rechteck voller Technik! Wie werde ich dann wohl ohne es in der Fremde klarkommen?
Erstmal ganz gut. Zu Fotografieren gab es eh nix, ich kürzte die Westküste, an der man eh nichts vom Meer sieht, ein bisschen ab, und nahm eine direkte Strichelstraße in Richtung Norden. Der Weg war auch mit einer Papierkarte im Maßstab 1:120 000 kinderleicht zu finden. (Je weiter ich auf der Ostsee komme, umso kleiner macht Bikeline die Maßstäbe. Aber irgendwie fühlt sich eine Seite trotzdem noch gleich lang an - das Wunder des Nicht-Abbiegens halt.)

Dennoch wollte ich das Problem lösen und steuerte den nächsten geöffneten Supermarkt in Kihelkonna an. Vielleicht verkaufte er ja vollgeladene Powerbanks? Nein, überhaupt kein Handyzubehör, dafür zig Arten von Taschenlampen. Als ich hilflos mit Kabel und Handy wedelte, führte mich Verkäuferin1 freundlicherweise zu einer Steckdose. Die ich aber nur wenige Minuten nutzen konnte, bis Verkäuferin2 eine Tiefkühltruhe herbeischob und sie dort anschließen wollte. Naja, immerhin fünf Extraprozent habe ich hier herausbekommen.


Die waren wieder futsch, als ich an einer Stelle ankam, die ich wirklich fotografieren wollte. Ausgerechnet an der zweitschönsten Stelle des Tages, und einem der wenigen Orte, wo man durch den Wald zum Wasser kommt. Das nachfolgende Foto habe ich daher von Google Maps genommen - das Wetter kommt ungefähr hin.
Was am Festland begonnen hat, geht auf den Insel einfach weiter: Die Finger. Sie wachsen immer mehr, und hier an Saaremaas Nordküste haben sie eine so stattliche Größe erreicht, dass man sie per Rad umrunden kann, ohne in eine Sackgasse zu geraten. Zumindest so halb, nicht bis ganz zur Spitze. Und eben das macht der Ostseeradweg. Auf den Fingern wächst Wald, aber er sieht unterschiedlich aus. An der Seite ist ist er trocken und steil. In Vaigu bildet er eine richtige kleine Steilküste, wo die Nadelbäume direkt aus dem steilen Schotterbett zu wachsen scheinen. Damit dort niemand eine Lawine auslöst, wurde ein Holztreppe draufgesetzt. Auf Nordsaaremaa ist das alles andere als selbstverständlich, wie ich bald erfahren werde.

An den Enden der Buchten, zwischen den Fingern, wird der Wald dagegen flach und sumpfig. Birkenalarm!

In Mustjala fand ich dann einen Tante-Emma-Laden mit einem Schreibtisch in der Ecke. Tante Emma hatte rein gar nichts dagegen, dass ich das Handy dort für eine Stunde anstöpselte und neben ihre Papiere legte. Also ist dann jetzt wohl Mittagspause. Die Rastbank am Dorfteich hatte schon eine fröhliche Großfamilie besetzt, aber auch an der Bushaltestelle konnte ich kochen.

Guter Dinge bog ich nach dem Mittagessen ab zu einer Straße direkt an der nächsten Steinernen Küste. Die Küste hat hier zur Abwechslung mal keinen Finger, dafür aber ein Highlight, für das ich einen kleinen Ausflug mache.

Die Straße endet an einem Parkplatz mit mehreren Dixiklos. Hinter dem Holzzaun erstreckt sich eine Wiese - die abrupt endet und den Blick freigibt auf eine blaue Fläche.
Die Sonnenuhr zeigte an, dass der Nachmittag bereits hereingebrochen war, aber egal, hier musste ich mir Zeit nehmen.

Denn als ich an die Kante trat, entpuppte sich das abrupte Ende der Wiese als die schönste Stelle der estnischen Ostsee. Auf den ersten Metern rutschen nur Kieselsteine eine schräge Geröllhalde runter. Aber dann wird die Schräge plötzlich senkrecht, und hellgrau, im Sonnenlicht fast schon weiß fallen schroffe Platten aus Kalkstein in Richtung Meer.
Nordsaaremaa hat viele Klippen, aber das hier ist die höchste (21 Meter), längste (3 Kilometer) und die einzige in vernünftiger Entfernung zur Radroute.

Dies sind die Klippen von Panga Pank (Pank bedeutet auch so viel wie Klippe). Hoch über ihnen ragt ein Grenzturm auf, der jetzt rot angemalt wurde und das Wetter misst. Das Messergebnis ist eindeutig: Heute war ideales Wetter für die Klippen. Sie wirkten auf mich genauso simpel, klar und gradlinig wie die Wiese, der Himmel und das Meer.

Die Wiese wurde aber bald von einem Wald abgelöst, der nicht ganz so simpel ist. Hier gibt es mehrere Pfade, und eine zweite Stufe aus Kalkstein fällt schon ein gutes Stück vom Meer entfernt steil nach unten. Also gut überlegen, ob ich oben oder unten weiterlaufe! Denn zwischen den Etagen des Waldes gibt es nur noch steile Pfade, auf denen ich hinter langsamen, dicken Touristen hinterherklettern musste.

Aber ich wollte noch ein bisschen weiter. Schließlich stand auf dem Plan vorhin, dass es hier irgendwo einen Weg die Klippe runter, wahrscheinlich eine Treppe, geben soll, und ich hatte schon echt Lust, mir das Ganze noch einmal von unten anzusehen. Dann erreichte ich die Stelle und... es war keine Treppe.
Nur zwei Seile.

Beim tourist rope wollte irgendwer richtig Geld sparen. Oder die dicken Touristen ins Schwitzen bringen. Einfach ein paar Knoten zum Festhalten reinmachen, das Ganze fest an einem Baum verknoten und fertig. Das war mal eine andere Herausforderung als die Holztreppen vom Kap Arkona oder Møns Klint. Auf geht's! Nach wenigen Metern stellte ich fest, dass das erste Seil zu Ende war. Keine Ahnung, was das zweite dann überhaupt soll, eins reicht eigentlich auch.
Der staubige Boden blieb fest und rutschte nicht, wenn ich meine Füße dagegenstemmte, und so steil, wie es von oben aussah, ist die Stelle auch nicht - das Seil wurde in einen Einschnitt den Klippen reingehängt, oder der Einschnitt ist unter vielen Touristenfüßen entstanden, keine Ahnung. Ich seilte mich Knoten um Knoten ab, und dann stand ich auch schon am Strand.

Von unten sind die Klippen viel besser zu erkennen, weil die Geröllschräge nicht im Weg ist. Angeblich steckt da viel Dolomitgestein drin, also dasselbe Zeug, das auch der Meteorit von Kaali freigelegt hat. Warum ist es dann so viel heller? Weil noch Kalk mit versteinerten Moostierchen drin beigemixt wurde.
Und was mir oben schon aufgefallen ist, wird hier noch deutlicher - die Ostsee ist erstaunlich klar! Liegt vielleicht daran, dass nur Steine und kein Sand den Meeresboden bedecken. Unter Wasser versteckt sich noch eine dritte Klippe, die man höchstens anhand der Wellenformen erahnen kann. Alle drei Klippen sind etwa 430 Millionen Jahre alt. Geologen nennen diese Zeit Silur und sagen, von hier bis zum schwedischen Gotland geht die Silurische Küste. Aber halt größtenteils unter Wasser, deshalb kann ich diese Küste nicht mit dem Rad abfahren.
Dieses Bild könnte glatt vom Mittelmeer stammen.

Die Sowjets bauten auf die Klippen, Sie erraten es bestimmt schon, eine Militäranlage oder ein Kordon, wie man in Estland sagt. Insgesamt schluckten diese Militärareale 1,9 Prozent von Estlands Fläche. Auf dem Panga Pak gab es nie irgendwelche anderen Siedlungen, also ist klar, dass all die Mauern im Wald aus dem Kalten Krieg stammen. Das hier war zum Beispiel ein Lager für Treibstoff und Munition. Erst 2022 wurden daneben zwei alte Panzerprojektile im Boden entdeckt.
Die Soldaten fuhren mit diesem Treibstoff herum und suchten Grenzverletzer, stellten die Genehmigungen für Fischer aus, die tagsüber aufs Meer schippern wollten, und gelegentlich auch für Geologen und Geographen, die die Klippen erforschen wollten. Durch ihren Berufsalltag kannten die Fischer zwangsläufig die Nummern und Positionen mancher Kordons, aber es war ihnen streng verboten, diese Infos zu veröffentlichen. Alle paar Kilometer stand ein Telefonmast an der Küste, mit dem die Soldaten das nächstbeste Kordon anrufen konnten.
Nachts durfte hier niemand unterwegs sein, und um das zu kontrollieren, drehte sich hier ein dicker Scheinwerfer automatisch im Keis, und radioaktive Isotope befeuerten ein Leuchtfeuer.
In der estnischen Sowjetrepublik wurden nur loyale Genossen mit abgeschlossener Ausbildung in die Grenztruppen aufgenommen, anfangs nur für vier Jahre, später nur für eins. Wer Verwandte im Ausland hatte, kam schon mal gar nicht in Frage. Das war in der DDR anders, wo die eine solche Masse an Grenztruppen brauchten, dass sie es sich nicht leisten konnten, so stark auszusieben.

Auf der Kurischen Nehrung in Russland soll es einen tanzenden Wald mit lustigen schiefen Bäumen geben. Den konnte ich nun leider nicht sehen, aber auch in den baltischen Staaten sind mir hier und da tanzende Bäume begegnet. Keiner von denen geht dermaßen ab wie die tanzenden Bäume von Panga Pank.

Was ist mit den Bushaltestellen los? Gestern waren das noch bunt bemalte Betonblöcke, heute verwandeln sie sich mehr und mehr in kleine skandinavische Ferienhäuser! Darin befinden sich Tische Stühle, zum Teil sogar Bücherregale (aber ausgerechnet die Haltestelle auf meiner Mittagspause war einfach nur verdreckt)! Ob man darin übernachten kann? Nee, lieber nicht.
Ich fürchte leider, diese Haltestellen verraten eine Menge darüber, wie lange man hier durchschnittlich auf den nächsten Bus warten muss und welchem Wetter man dabei oft ausgesetzt ist. Aber hübsch sind sie trotzdem.

Farblich passen dazu diese gigantischen Marienkäfer aus Findlingen.

Der letzte richtige Ort auf Saaremaa ist Leisi. Hier versprach ein Schild kostenloses öffentliches WLAN. Das traf sich gut, ich sollte jetzt wirklich mal nach Fährzeiten und Unterkünften recherchieren. Aber das WLAN verlangte ein Passwort, und niemand konnte mir sagen, wie man es bekommt. Das mobile Netz ist wirklich besser als in Deutschland, aber die vielgelobten öffentlichen WLAN-Netze Estlands blieben mir oft verschlossen.

Ich radelte also durch eine Baustelle auf gut Glück zum Fährhafen Triigi. Und das Glück war mir definitiv hold. Mein Reiseführer hatte geschrieben: Eine Fähre fährt stündlich, die andere alle zwei Stunden, nur zu der hier machte er keine Angaben, aber ich dachte, dann wird sie ungefähr ähnlich oft kommen. Ein dummer Gedanke, wie mir jetzt auch klar ist, schließlich fährt sie nicht zum Festland, sondern nur zwischen zwei Inseln, und hat außerdem noch einen ganz anderen Betreiber.
Diese Fähre fährt zweimal täglich, 9 und 19 Uhr. Was für ein Glück, dass ich hier nicht mittags aufgekreuzt bin! So musste ich nur anderthalb Stunden warten.
Und es waren sehr komfortable anderthalb Stunden. Das Wartehäuschen erinnerte eher an ein Wohnzimmer. Ich chillte auf einem Sofa, lud mein Handy weiter auf und kaufte mir an einem modernen Touchscreen-Automaten schon mal die Fahrkarten. Oh, die Fähre scheint auch sehr modern zu sein - der Apparat verspricht WLAN, Snacks und Getränke.

Als ich dann irgendwann die Fähre bestieg, wurde mir mein Irrtum sehr schnell bewusst. Diese Fähre war ungefähr so modern wie ein Röhrenfernseher. Aus irgendeinem Grund befindet sich der große Aufenthaltsraum für die Fahrgäste hier unter dem Fahrzeugdeck - ist das nicht gefährlicher, als wenn man auf dem Fahrzeugdeck bleibt? Auf jeden Fall ist es lauter, denn die Maschinen liegen nur eine Wand entfernt und dröhnen durch den Saal. Die Snack-und-Getränke-Bar war eine nicht besetzte Theke mit insgesamt fünf Sorten abgepackten Lebensmitteln. Und als ich in den oberen Raum ging und einen Seemann nach dem WLAN-Passwort fragte, entgegnete er, das sei nur für die Crew.
Er erklärte aber auch, das hier sei nur ein Ersatzschiff, bis das andere repariert sei. Wollen wir's hoffen.

Nach einer Stunde errichte der olle Rumpelkahn Sõru (das õ ist übrigens ein ungerundeter halbgeschlossener Hinterzungenvokal und klingt somit wie ein leicht angeekeltes Ö) auf der dritten Moonsund-Insel mit dem Namen Hiiumaa (die Esten haben wirklich einen unerschöpflichen Vorrat an Vokalen).
Blickfang im Hafenbecken ist ein halbfertiges Holzschiff.

Früher muss hier mehr losgewesen sein als zwei Fähren am Tag, denn sogar eine Bahn dampfte hierher. Zumindest entdeckte ich gleich hinterm Hafen eine Bahntrasse, und als einziger baltischer Bahnradweg ist der hier sogar asphaltiert. Ich radelte durch die Rückseite der Dörfer an einer Ruine ohne Dach vorbei.

Die gehörte wahrscheinlich auch zum rosaweißen Gutshaus von Emmaste. Als das Ding 1779 gebaut wurde, mussten die Dorfbewohner erstmal alle umgesiedelt werden, damit Jakob Pontus Stenbock auf ihrem Gebiet einen großen Milchbauernhof gründen konnte. Später zog eine Schule in das Gebäude.

Die Bahntrasse brachte mich genau auf den richtigen Umweg und mitten rein nach Emmaste - ja, dieses Bild ist im Dorfzentrum entstanden, nicht im Dorfpark. (Kaum zu unterscheiden, oder?)
Für heute hatte ich das Akkuproblem gelöst, aber ich brauchte jetzt trotzdem unbedingt eine Nacht an einer Steckdose, und auch sonst war ein Bett keine schlechte Idee. Kurz vor Abfahrt der Fähre hatte ich mir ein wunderbares Ferienzimmer im Café Emmaste Teemaja gebucht. Das Café war noch im Winterschlaf, aber der Wasserkocher im Zimmer erwies sich (neben den Steckdosen) als großes Highlight. Ich nahm den Namen der Unterkunft sehr ernst und verbrachte den Abend mit vielen, vielen Tassen Tee.


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