Am nächsten Morgen war nicht nur der Himmel klar, sondern auch die Straße. Ich war an der "Autobahn" herausgekommen, auf der aber noch kaum was los war - und das, obwohl ich wieder mal auf einer zentralen Verkehrsachse zwischen zwei baltischen Staaten bin. Zeit zum Durchzischen!
Da zischte eine lustige Gestalt auf einer Kanonenkugel an mir vorbei. Den kenne ich doch!
Das ist doch... Baron von Minhauzen. Die Letten schreiben seinen Namen ein bisschen anders, aber ja, es ist derselbe Lügenbaron aus Niedersachsen. Dargestellt von einem leicht überdrehten Graffitikünstler, der sich in diesem Dorf ausgetobt hat.
Ich folgte der Figur auf der Kanonenkugel über die Brücke nach Dunte, zum Gutshaus, in dem der Baron eine Zeitlang lebte, während er für die russische Zarin arbeitete. Auf seinen einstigen Ländereien aß ich erstmal Frühstück.
Wie wird es wohl schlagen im Vergleich zum Münchhausen-Museum Bodenwerder an der Weser?
Es war noch zu, aber ich glaube, ganz gut.
Während sich das Museum in Bodenwerder vor allem auf die berühmten Lügengeschichten des Barons in verschiedensten künstlerischen Darstellungen konzentriert, hat das Museum in Dunte anscheinend auch ein bisschen nachgebaut, wie er so lebte. Zumindest vermute ich das nach einem Blick durchs Fenster. Jup, der Typ liebte definitiv die Jagd.
Aber das Museum ist nur ein Teil der Munchaussen World. Wie der Name verrät, gehört dazu auch noch ein riesiges Außengelände mit Münchhausens Abenteuerschiff, Münchhausens Bierkrug (ein Bohlenweg über die Wiese mit Spielplatzelementen), Hotel Minhauzena Unda, Münchhausens dicke Eiche, Münchhausens hohe Eiche, Münchhausens hohle Eiche... Die haben aus dem Typen einen regelrechten Freizeitpark, oder so was wie Karls Erdbeerhof gemacht. Und alles kostet extra Eintritt. Das kann ins Geld gehen, selbst wenn man das Familien-Kombiticket nimmt.
Aber nicht für mich! Ich war einfach so früh da, dass mich niemand davon abhielt, durch die Fenster zu schauen oder Münchhausens Waldpfad zu betreten. Der ist außerhalb der Öffnungszeiten einfach so zugänglich. Wie auch nicht - der ist viele Kilometer lang (mit diversen Abkürzungen für Fußlahme), so ein großes Waldgebiet kann man nicht einfach absperren. Ein schmaler, älterer Holzsteg windet sich hin und her durch das dichte feuchte Gehölz. Damit man nicht ausrutscht, wurde kurzerhand ein Metallnetz draufgenagelt. Das ist der längste Pappel-Baumpfad in Europa. Im Wasser blühten weiße und gelbe Blumen, die Sonne ließ alles Feuchte glänzen und auch sonst ist das einer der fröhlichsten Sümpfe, die ich kenne.
Und mittendrin stehen Münchhausens Lügengeschichten herum, dargestellt von höchst unterschiedlich begabten Holzschnitzern und dem bereits erwähnten überdrehten Graffitikünstler.
Ah, die Geschichte da kenne ich! Da ist er durch einen krassen Schneesturm geritten, und weil er nicht mehr vorankam, hat er einfach sein Pferd an irgendeinen Stock angebunden und sich schlafen gelegt. Am nächsten Morgen war alles weggeschmolzen und er erwachte in einem Dorf. Super, aber wo war sein Pferd? Irgendwo von oben wieherte etwas. Es hing mit dem Hals am Kirchturm, denn der Stock war ein Kreuz an der Turmspitze gewesen!
Nach meinen eigenen Erfahrungen kam mir das gar nicht mal so unglaubwürdig vor. Was für ein Glück, dass ich mein Rad in Pāvilosta nicht an irgendwelche verdächtigen christlichen Stöcker gekettet habe.
Aber ganz so leicht machte es mir die Munchaussen World dann doch nicht mit dem Gratisbesuch. Denn ich hatte längst nicht mehr alle Geschichten im Kopf, und der Waldpfad zeigt nicht nur die bekanntesten, sondern wirklich viele, vielleicht sogar alle. Und welche Geschichte nun dargestellt ist, das verraten bloß hölzerne Schilder in Vogelform mit knappen lettischen Überschriften wie Zakēni Ķucēni. Hm.
Ich wusste zum Beispiel gar nicht, dass Münchhausen auch schon die Geschichte vom Göttinger Wels und der Schildkröte vorweggenommen hat.
Das gehört alles zum Biosphärenreservat Nordvidzeme, wie dieser Teil der Rigaer Bucht heißt.
Am äußersten Rand des Waldpfads konnte ich auch mal zum Meer rüberschauen. Es ist nach wie vor eine spiegelglatte No Wave Sea. Steine liegen keine herum.
Noch.
Ein paar Kilometer weiter liegt die Dunter Kirche, in der Münchhausen Jacobine von Dunte geheiratet hat. Er lernte sie hier kennen, und dann lebten sie zusammen erstmal sechs Jahre am Wohnort ihrer Familie, ehe sie in seine Heimat nach Bodenwerder wechselten. Klingt erstmal nach einer ausgewogenen Beziehung.
Allmählich wurde die "Autobahn" voller, aber ich wollte sie noch nicht verlassen. Der Grund dafür ist ein Orkan namens Gudrun.
Der hat nämlich 2005 Teile der Steilküste und des Ostseeradwegs abrasiert. Jetzt grenzt ein Privatgrundstück direkt an die Ostsee, der Eigentümer will da keinen Radweg haben, und seitdem ist das irgendwie alles schwierig. So schwierig, dass sich irgendjemand verpflichtet fühlte, auf der Online-Karte als Straßenname The cycle way is a lie einzutragen. So schwierig, dass Bikeline zwar sagt, ich solle zur Küste bei Tūja fahren, dann aber entweder am Strand langschieben oder auf einer schlechten Schotterstraße und großem Umweg zur Autobahn zurückkehren, um dann nach wenigen Kilometern zurück zur... nee danke, das ist mir alles zu wild, ich bleibe auf der Autobahn!
Oder? Bei Oltūži bog ich dann doch ab zur zweiten Hälfte des geteilten Küstenwegs, denn jetzt sollte das Schwierige vorbei sein. Und ich glaube, das war so ziemlich die ideale Lösung. Denn wenn ich gar nicht am Wasser gefahren wäre - Mann, ich hätte keinen Schimmer gehabt, was mir da entgangen war.
Nun, zunächst einmal wäre mir ein PRIVĀTĪPAŠUMS entgangen. Die Küste ist buchstäblich zugepflastert von Rasthütten, Bänken, Tischen und Toilettenhäuschen, die zu einer Pause nur so einladen. Das alles ist vollkommen menschenleer. Und verboten, denn es gehört einem Campingplatz. Der noch keine Saison hat. PRIVĀTĪPAŠUMS! PRIVĀTĪPAŠUMS! PRIVĀTĪPAŠUMS!, kreischen tausende knallrote Schilder, die wahrscheinlich ausreichen, um sämtliche gebetenen und ungebetenen Gäste zu vertreiben.
Und dann waren da ein paar Wasserhähne ohne Schild. Und es juckte mich spontan in den Fingern, meine Flaschen dort aufzufüllen.
Tja, und hinter der nächsten Ecke wartete dafür auf einmal vollkommen unerwartet die schönste Küstenlandschaft Lettlands.
Der Reiseführer hatte nur geschrieben, dass hier die nächste Steinerne Küste kommt. Das stimmt auch.
Aber aus unerfindlichen Gründen verschweigt er, dass darüber bis zu sechs Meter hohe Sandsteinfelsen aufragen. Sandstein im flachen Lettland? Ja, das gibt es, aber man sollte sich das nicht wie im Elbsandsteingebirge vorstellen - dieses Zeug ist mehr Sand als Stein. Für den Aufbau der Dresdener Innenstadt ist es definitiv ungeeignet. Man muss nur ein wenig mit dem Finger kratzen, schon löst sich der Sand. Kein Wunder, dass in die Felsen zahlreiche Initialen und Liebesbotschaften eingeritzt sind. Das Verblüffende ist nun, dass diese Felsen Höhlen bilden, die trotzdem nicht einstürzen. Sie werden im Laufe der Jahrhunderte höchstens ein bisschen größer.
Das alles war mir schon von meiner ersten Lettlandreise bekannt. Was ich nicht wusste, war, dass dieser Sandstein bis an die Küste ragt. Und dass das Meer den (eigentlich gelben) Sandstein rosten lässt. Und dass dadurch in der Klippe namens Veczemju Klintis leuchtendrote, geheimnisvolle Höhlengänge entstehen, die (aus dem richtigen Winkel betrachtet) so auch aus dem Grand Canyon stammen könnten.
Irgendwo plätscherte auch noch ein Bach als kleiner Wasserfall den Fels nach unten. Ich war begeistert.
Der Waldweg über dem Sandstein trifft irgendwann wieder auf die Autobahn und wird zum Radweg.
Zwischendurch war da nochmal ein Waldweg, wo die militärischen Betonplatten erstmals zur Brücke wurden.
Einen anderen konnte ich von einem Aussichtsturm begutachten.
Oh, ein Automat, was wird der wohl Leckeres verkaufen? Krass, wie modern, da ist ja sogar ein Roboterarm drin, der das Zeug herausnimmt, nämlich... FFP2-Masken und Corona-Selbsttests? Ein bisschen aus der Zeit gefallen, der Blaue, aber aus irgendeinem Grund immer noch in Betrieb.
In Ainaži konnte ich die Autobahn dann richtig verlassen. In gewisser Weise liegt hier ein Ursprung von Lettland, denn hier wurde 1864 die erste nautische Schule Lettlands gegründet. Ein logischer Standort, schließlich waren die Ainažer bereits sehr erfolgreich im Schiffbau, weil sie so viel Holz hinter der Hütte hatten. Aber ist Ainaži deswegen schon der Ursprung von Lettland?
Ja, wenn man Krišjanis Valdemars fragt. Denn Lettlands erster studierter Ökonom (und der erste, der sich überhaupt als Lette bezeichnete) hatte Europas Handel studiert, besonders auf die Briten geguckt und kam zu folgendem Ergebnis: Seehandel ist der Schlüssel zu Macht und Bedeutung. Damit Lettland beides bekommt, muss es ganz dringend Seefahrtsschulen und Unternehmen gründen! Er starb 1891 und erlebte den ersten lettischen Staat nicht mehr, aber er hatte nicht nur dessen späteren Präsidenten maßgeblich inspiriert.
Zur Erinnerung an die Schule steht davor die Spitze des Leuchtturms, der 1986 bei einem Sturm ins Meer kippte.
Zur Erinnerung an die Schule steht davor die Spitze des Leuchtturms, der 1986 bei einem Sturm ins Meer kippte.
Einer von denen, die Valdemars Weg folgten, war Kapitän Remberts Rugainis. Er wurde auch noch Miteigentümer des Hafens von Ainaži, was den Sowjets eindeutig zu lettisch und kapitalistisch war - sie schickten Remberts nach Sibirien und setzten ein lokales Komitee in seine weiße Villa. Inzwischen gehört sie aber wieder seinen Nachkommen. Und ist eins der letzten Häuser Lettlands.
Was braucht so ein Hafen für erfolgreichen Seehandel? Natürlich eine Mole. Einmal, damit die Schiffe irgendwo anlegen können, und außerdem als Schutz gegen die zerstörerischen Nordwinde. Und in der Hinsicht hat Ainaži definitiv geklotzt statt gekleckert. Am Ende des Ortes beginnt ein hölzerner Steg, und der führt auf eine dicke Linie aus dicken Feldsteinen. 596 Meter lang ist das Ding. Das Meer ist noch nicht mal zu sehen, erstmal geht es lange durchs gelbe Schilf.
Anfangs sind die Feldsteine noch irgendwie so angeordnet, dass sie mehr oder weniger ineinanderpassen und eine Art (wenn man dieses Wort sehr großzügig benutzt) Oberfläche bilden. Radfahren kann man darauf wahrscheinlich nicht mal mit einem Mountainbike, aber zum Wandern geht es klar.
Während sich das Schilf zur Ostsee hin öffnete, wurde der Steinweg aber immer wilder. Und irgendwann wurde aus der antiken Steinstraße eine Geröllhalde und aus dem Wandern ein Klettern.
Seltsam, aber wahr: Die Ainažer hatten sogar begonnen, Bahngleise auf dieses Ding zu bauen. Der Erste Weltkrieg machte dieser Bahnlinie aber einen Strich durch den Fahrplan. Außerdem wurde der Hafen zerstört, und versenkte Schiffe blockierten die Einfahrt. Als sich das in Krieg Nummer zwei zum zweiten Mal wiederholte, kam Ainaži nicht wieder auf die Beine, und andere Städte wie Pärnu übernahmen seine Bedeutung.
Rechts im Bild kommt liegt schon Estland: Nur wenige Meter entfernt trifft die Grenze auf die Ostsee und ihre weichen Zungen aus nassem Sand.
Die Mole läuft schließlich mit ein paar algengrünen Steinen ins Leere.
Überraschung: Die Grenze war während der ganze Wanderung neben mir und kroch durch dasselbe Schilf, aber nicht auf Feldsteinen, sondern in einem trockenen Graben.
Der trifft dann auf die Straße. Das nächste Land ist geschafft! Ikla in Estland begrüßte mich mit dem ersten estnischen Grenzturm und einer Rasthütte. Dort habe ich erstmal ein wohlverdientes Mittag gekocht.
Diese Grenzlinie ist von 1917 bis 1920 entstanden. Damals haben Estland und Lettland begonnen, eine genaue Grenze festzulegen, was wegen der durchmischten Bevölkerung gar nicht so einfach war, aber es war Voraussetzung für ihre internationale Anerkennung.
Also gut, wie sieht die Strecke im nächsten Land aus? So:
Endlose Strichelstraßen durch endlose Nadelwälder mit bunten Bushaltestellen.
Die Strichellinien sind meistens zu nah am Rand, um Fahrradstreifen zu bilden, die sollen wohl einfach den Rand markieren. (Solche Linien kenne ich sonst aus den Niederlanden.) Ist auch egal: Bei so wenig Verkehr und so glattem Asphalt brauche ich nicht unbedingt einen Radweg. Estland ist definitiv eine Verbesserung!
Hin und wieder bahnt sich ein finsterer Fluss in einer wilden Schlucht seinen Weg durch diesen Wald.
Die erste Sehenswürdigkeit Estlands ist die Kapelle der orthodoxen Gemeinde von Treimani (früher Dreimann). Nach den neuen Grenzziehungen fand sich ein Drittel einer orthodoxen Gemeinde ohne Kirche in Estland wieder, und sie mieteten erstmal Räume an, bis sie dieses mintgrüne Gotteshaus fertigstellten. Eine russische Religion war übrigens kein Schutz vor der Sowjetunion: Treimanis Priester, Joann Kukk, wurde 1945 deportiert.
Das nächste Dorf hatte ein komplexes Netz an Stegen und Plattformen, um sich die nach wie vor spiegelglatte Ostsee anzugucken. Die ist sonst durch die Bäume eher selten zu sehen.
Der Komplex gehört zu einer Vogelstation, wo Zugvögel gezählt, mit Helgoland-Netzen gefangen und beringt werden. Hier wurden fünf Vogelarten entdeckt, die in Estland bisher noch nie gesehen wurden. (Ein Dorf weiter sollen auch Ufos gesehen worden sein, aber die konnten nicht erfolgreich beringt werden.)
Wirklich einprägsam war aber etwas anderes am ersten estnischen Tag: Als ich im ersten Tante-Emma-Laden hinter der Grenze ein Eis und noch ein paar andere Sachen nachkaufte, fragte mich ein alter Mann, woher ich denn käme, wohin ich fahre und bla bla, ein ganz normales Gespräch, wie ich sie zigmal auf der Reise geführt habe.
Dachte ich.
Er wollte unbedingt sein Englisch üben und suchte höchst engagiert nach Worten. Zahlen, die er auf Englisch nicht kannte, malte er einfach mit dem Finger in den nichtvorhandenen Staub auf dem Tisch.
Während wir uns draußen unterhielten und ich entspannt das Eis verzehrte, nahm das Ganze jedoch eine unerwartete Wendung. Unvermittelt erzählte er von seiner Zeit bei der sowjetischen Armee. Als neuer Rekrut wurde er, wie es den Gepflogenheiten entsprach, regelmäßig und brutal verprügelt. Nachdem er um ein paar Ränge aufgestiegen war, wurde ihm nun seinerseits befohlen, dasselbe mit den Neuen zu machen, was er anscheinend noch viel schlimmer fand und worüber er sich mehrfach bei seinen Vorgesetzten beschwerte. In seinen Augen glomm ein tiefer Schmerz. Das Ganze führte er beim Erzählen sehr anschaulich und mit heftigen Faustbewegungen vor. Ein französischer Radreisender, mit dem ich im Geschäft kurz gesprochen hatte und den er ebenfalls heranzuwinken versuchte, nahm bei diesem Anblick Reißaus.
Als ich den Veteranen fragte, ob ihm das heutige Estland besser gefalle, zögerte er dennoch, schließlich musste er nach der Wende ständig nach Pärnu zur Arbeit pendeln, und dies war, ich zitiere wörtlich, "Pfffrrrr" (internationaler Pendlerwortschatz). Aber den Schengenraum lobte er in den höchsten Tönen, so konnte er schließlich ganz verschiedene Reisende treffen. Diese dienten ihm offenbar als Ersatztherapie. Schließlich kam ein etwas jüngerer Mann und redete auf Estnisch auf ihn ein, vielleicht so was wie "Papa, was störst du hier schon wieder die Touristen?"
Aber ich fühlte mich nicht gestört, eher schlecht, weil ich kaum die richtigen Worte fand und mir vorkam wie der unqualifizierteste Ersatztherapeut östlich der Ostsee.
Nicht die Pause, die ich erwartet hatte, aber sicherlich einer der denkwürdigsten Augenblicke der Reise.
Angeblich ist Estland das einzige Land neben Dänemark, in dem der EuroVelo10 komplett zertifiziert und beschildert ist - und damit etwas, wonach ich mich auf all den lettischen Holperpisten nur allzu sehr sehnte. Meine Erwartungen konnten kaum höher sein.
Ja, die estnischen Wege sind definitiv besser, aber die Beschilderung ist noch nicht komplett! Mancherorts ist sogar der europäische Ostsee-Wanderweg, von dem ich vorher noch nie gehört hatte, besser ausgeschildert.
Gegen Abend war die kleine Küstenstraße in Häädemeeste zu Ende, und das letzte EuroVelo-Schild schickte mich in Richtung Autobahn, um mich dann einfach im Stich zu lassen.
An dieser Stelle hatte ausnahmsweise mal die Bikeline-Karte voll und ganz recht, während die Schilder und Apps Blödsinn erzählt haben. Warum soll ich bitte auf der Autobahn fahren, wenn ich auch die kaum längere Straße durch die Sümpfe von Soometsa nehmen kann? Es handelt sich um eine stille Gegend voller flacher Wiesen, Wälder und Pferdehöfe, die Sümpfe sind nur in der Ferne (hinten links) anhand der Birken zu erkennen. Eine Birke säuft pro Tag sage und schreibe 150 Liter Wasser weg, damit waren die weißen Kollegen auf meiner Reise ideale Indikatoren für Feuchtgebiete - und damit die Stellen, wo ich mich nachts nicht hinlegen sollte.
Soometsa? Das gehört doch dann bestimmt schon zu diesem bekannten Sooma-Nationalpark, oder? Nein, tut es nicht. Ist vielleicht auch besser so, denn jedes Jahr bei der Schneeschmelze (also ungefähr jetzt) soll sich der in eine undurchquerbare Wasserfläche verwandeln.
Ist ja auch egal, auf jeden Fall konnte ich auf der asphaltierten Straße superangenehm durchdüsen, und es wäre wirklich das einzig Sinnvolle, wenn auch die Wegweiser nach Soometsa zeigen würden.
Einen Radweg gibt es wie immer erst kurz vor der Großstadt. Dieser hier schlängelt sich ziemlich verwinkelt durch einen Wald und überspannt sogar tiefe Schluchten mit eleganten blauen Brückenbögen.
Auf den Hügeln geht es ungewöhnlich weit nach oben, und von den Wurzeln hatte ich einen schönen Blick über die Bucht im Abendrot.
Hier soll sich auch der Rosengarten von Uulu befinden. Den hat der Baron von Holstein hier 1881 hingepflanzt, um den Besuch der Zarenfamilie Romanov zu feiern. Im Ersten Weltkrieg ging er kaputt, aber 2012 haben ihn "Enthusiasten" (vermutlich eher Blumen-Enthusiasten als Zaren-Enthusiasten) neu gepflanzt.
Na schön, und wo sind jetzt die Rosen? Noch nicht da, die haben keine Saison. Für mich sah das aus wie eine Wiese mit Findlingen.
Als nächstes geht der Weg noch eine ganze Weile an der Autobahn entlang. Die ist insofern bemerkenswert, als dass sie tatsächlich mal wie eine Autobahn aussieht. Aber trotzdem ist sie noch nicht fertig: Erdwälle türmen sich am Rand auf, und lange Baustellen erstrecken sich neben dem Radweg.
Schließlich dreht der Radweg noch einen großen Bogen am Wasser entlang. Pärnu ist definitiv eine Stadt mit vielen Parks, und ich bekam sie auf dem Ostseeradweg fast alle automatisch mit.
Das Meer ist aber noch ein Stück entfernt und von der Schaukelbank nur als blauer Streifen zu erkennen.
Wer näher ran will, muss zu diesem braunen Riesenkorb - die estnische Form eines Aussichtsturms.
Pärnu ist die große Sommerbadestadt von Estland, gleich hinter dem Strand stehen die historischen Badehäuser auf ihren weißen Säulen. Das Strandcafé von 1939 gibt sich moderner: Es verwendete damals als Neuheit Stahlbeton, und es schämte sich deswegen nicht, sondern zeigt mit Absicht die nackte Betonfassade für mehr Authentizität. Dann sollte konsequenterweise der Strand auch ein FKK-Strand sein...
Der Strand selbst sieht immer noch (mehr oder weniger) so aus, wie man ihn auch in Deutschland kennt.
Es ist (mehr oder weniger) der letzte Strand dieser Art.
Vom Aussichtsturm war es bereits zu sehen: Die Küste beginnt allmählich zu zerkrizzeln.
Der Sand hatte ja auch seine Nachteile: Er geriet immer wieder in die Mündung des Pärnu, Estlands längstem Fluss. Damit sie in ihren Hafen reinsegeln konnten, brauchten auch die Pärnuer dringend eine Mole! Mole 1 und 2 hielten der Natur nicht stand, also steckten sie in Mole 3 besonders viel Arbeit. Alle Bauern aus der Umgebung wurden dafür bezahlt, ihre Feldsteine vom Feld bis hierher zu schleppen.
1869 waren sie fertig und erfanden direkt eine romantische Tradition: Paare sollen Hand in Hand bis ans Ende gehen und sich da küssen, dann wird dat wat mit denen. Zum Glück sind die Feldsteine nicht so abenteuerlich wie in Ainaži, damit ist die Quest grundsätzlich erstmal erfüllbar.
Was den Ventspilsern ihre Kuh, den Jurmalern ihre Schildkröte ist und den Rigaern ihr Gürteltier ist, ist den Pärnuern ihr Elefant. Diesmal gibt es sogar eine Erklärung (wenn man dieses Wort sehr großzügig benutzt), warum überall Elefanten aus Büschen und Blechen herumlaufen. Einer obskuren Geschichte (Sage? Witz?) zufolge, die auf einem Schild steht, kam Mitte des 20. Jahrhunderts ein Elefant hier her, dem es so gut gefiel, dass er bleiben und eine Wasserrutsche werden wollte. Und dann noch einer, und noch einer, und so weiter. Ende.
Estlands viertgrößte Stadt hat inmitten der Parks nur ein kleines Zentrum. Es ist umgeben von einem grünen Wall, den der Deutsche Orden dem Sonnensystem nachempfunden hat: Jedes Fort darin war nach einem Planeten oder Stern benannt.
Dieser breiter, rosaweiße Durchgang dagegen nicht. Der hieß mal Carl-Gustav-Tor, und Carl Gustav ist bekanntermaßen kein Planet, sondern ein schwedischer König, der auch mal eine Zeitlang die Hand auf Estland gelegt hatte. Das Tor sieht gar nicht mal so alt aus, ist aber das einzige originale Stadttor im Baltikum. Es heißt ausgerechnet Tallinner Tor (was insofern ironisch ist, als dass in Tallinn jede Menge Tore herumstehen, die viel älter und originaler aussehen).
Vor dem Tor zeigt ein Modell, wie die Stadt mal aussah, hier und da lässt sich noch was wiedererkennen.
Ansonsten ist Pärnu eine bunte Barockstadt. Die Jekaterina-Kirche zum Beispiel war ein Auftragsbau von Zarin Katharina und architektonischer Trendsetter für alle orthodoxen Kirchen im Baltikum.
Ich bin eine Weile durch die Straßen und Plätze geschlendert, und was soll ich sagen, ich mag Pärnu. Es war zwar etwas leer, aber immerhin gab es gute Pizza, jede Menge Supermärkte zum Nachkaufen, einen Bahnhof und einen Busbahnhof, an dem ständig irgendwelche Fernbusse abfuhren.
Urbaner wird es zwischen den Hauptstädten Riga und Tallinn nicht.
Vorher hatte das Theater aber eine wichtige Rolle auf der Bühne Estlands gespielt. Am 23. Februar 1918 schrieb Jaan Soop, Verwaltungsdirektor der Provisorischen Versammlung, einen Text, der sowohl sehr wichtig als auch sehr eilig war. Deswegen wurde er innerhalb von nur vier Stunden gedruckt und verteilt (zum Glück hatten die Drucker damals keinen Papierstau). Und Hugo Kuusner, Mitglied des Landrats, trat schließlich auf den Balkon und las den Menschen etwas Schönes vor: Das Manifest an alle Bürger Lettlands. Zum ersten Mal wurde ein unabhängiges Estland ausgerufen.
Es hat zwar ein bisschen länger gedauert als geplant, bis diese Idee dauerhaft Wirklichkeit wurde. Aber sie wurde es.
Eine Wirklichkeit, die ich mir in den nächsten Tagen genauer anschauen werde. Ich bin gespannt.
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