Auch die Ausfahrt aus Rīga ist verwinkelt, aber schön. Die endlosen Stadtviertel hinter der Altstadt wurden langsam nicht mehr ganz so farbenfroh, aber die typische breite Pracht der Stadt zieht sich auch hier weiter.

In einer dieser Straßen machte ich eine schöne Entdeckung: Eine Café-Fahrradwerkstatt. Der Kaffee selbst wird sogar direkt in der Werkstatt ausgeschenkt. Wer auch etwas essen will, muss einfach eine Tür weiter im selben Gebäude gehen. Viele Leute schienen Waffeln zu futtern, also dachte ich, die probiere ich auch mal. Die lettischen Waffeln sind zwar rechteckig und kariert wie die belgischen, aber sie überraschten mich gleich doppelt: Erstens hat das Cafe eine Waffelflatrate, bei der man für 17 Euro unendlich viele Waffeln essen darf, immer drei auf einmal. Und zweitens gibt es in Lettland auch herzhafte Waffeln, also mit Käse, Bacon und einer mysteriösen, aber köstlichen Hackfleischsoße. Mjam, ich würde sagen, das zählt als Mittagessen, das wäre dann für heute auch schon mal erledigt.

Die Route führte durch einen Vorort namens Mežaparks. Höhö, klingt ja wie
Megapark, dachte ich.
Dann begann ein Megapark.
Megaviele Menschen strömten auf einer megabreiten Pflasterstraße in die megagroße Waldfläche, in der man megaviel machen kann. Gleich rechts am Eingang liegt der Zoo. Außerdem kann man sich alles mögliche rollende Zeug ausleihen, um damit durch den Park zu rollen.
Ein Blickfang waren diese Trampoline. Sie sind zwischen den Bäumen aufgespannt, als eine Mischung aus Klettergerüst, Kletterwald und Trampolinpark.
Ein Blickfang? Von wegen, der echte Blickfang kommt gleich. Eine gewaltige graue Kuppel guckte aus den Baumwipfeln hervor. Was ist das denn? Bestimmt irgendein Sportstadion, dachte ich, hielt aber trotzdem neugierig darauf zu. Es schien offen zu sein und aus zwei Teilen zu bestehen. Als ich am Zaun ankam, stand das Tor offen, also radelte ich einfach mitten rein. Rechts stieg ein flacher Rasen mit Steinstufen sanft an. Und gegenüber ragte eine größerer Halbkreis mit Steinstufen auf wie eine Bühne - nur dass auf ihr Platz für dermaßen Menschen ist, dass bei einem normalen Konzert wahrscheinlich die Zuschauer zu den Künstlern mit rauf könnten und trotzdem noch genug Platz wäre. Nanu, welche Seite ist denn nun für die Zuschauer gedacht?
Dann fiel der Groschen.
Ich war einfach mal so ins Herz des Landes gestolpert. Das hatte ich doch mal in einer Doku gesehen - dieses gigantische Volksmusik-Festival, das es in allen drei baltischen Staaten gibt. Alle fünf Jahre kommen Menschenmassen zum Liederfest zusammen und musizieren auf traditionelle Art. Die Jahre dazwischen werden gebraucht, damit sich in Wettbewerben erst einmal die einzelnen Chöre, Blaskapellen und Tanzgruppen für eine Teilnahme qualifizieren können (etwa 1700 dürfen am Ende mitspielen). Letztes Jahr war es wieder mal so weit, und es kamen über 45 000, ein neuer Rekord. Dann sind alle Stufen definitiv voll!
Auch wenn es noch vier Jahre sind: Ein Chor hatte sich hingestellt und übte schonmal. Aus der Entfernung konnte ich ihn kaum erkennen, und er füllte kaum ein Prozent der Bühne aus.
Aber: Ich hörte ihn.
Und ich drücke ihm fest die Daumen für seine Bewerbung.
Hinter dem Park folgte ich größeren Straßen und Brücken zwischen Hafenanlagen und Seen, die alle irgendwie mit der Daugava verbunden sind. Der Fluss selbst ist außer Sichtweite, aber die ganze Zeit irgendwo links von mir.
An einem Ort namens Zvejniekciems kam ich wieder an der Ostsee raus. Moment mal, denken aufmerksame Leser jetzt, der Name steht doch schon in der Überschrift? Hat der Typ es an dem Tag etwa nur zurück zum Meer geschafft? Ich war beim Schreiben gerade selber auch kurz verwirrt, aber nein, es gab an dem Tag ganz einfach zwei verschiedene Zvejniekciemse.
Und das erste Zvejniekciems war komplett zugeparkt. Eine Kolonne an Familien marschierte auf den Nadelwald zu in Richtung Strand, als seien sie vier Jahre zu früh zum Festumzug des Liederfests aufgebrochen und hätten obendrein die Musik zu Hause vergessen. O je - wenn Jūrmala quasi das Warnemünde von Riga für die Reichen und Touristen war, ist das hier dann quasi Markgrafenheide? Also da, wo die Mittelschicht abends und am Wochenende zum Strand fährt?
Und heute war so ungefähr der allererste Tag im Jahr, wo das Wetter dazu einlud.
Dafür war der Strand dann doch erstaunlich leer. Keine Ahnung, wohin all die Menschen verschwunden sind, aber soll mir recht sein. Denn hier gibt es nochmal fünf Kilometer Radelstrand, und diesmal taugt er wirklich was. Die einzige Schwierigkeit besteht darin, über den Bereich mit weichem Sand rein- und rauszufahren. Andere Radler gaben bei dem Anblick direkt auf und kehrten verwirrt um - wo hatte sie der Wegweiser da bloß hingeleitet?
Ich habe es zum Glück probiert. Diesmal hatte ich jede Menge Platz ohne blöde Mündungen und Hindernisse.
Aber ich wollte mein Glück nicht überstrapazieren: Sobald die Karte sagte, ich solle zurückkehren, verließ ich den Radelstrand umgehend über diesen Bohlenweg durch die Dünen.
Nach Lettlands längstem Fluss folgt jetzt noch der zweitlängste (und derjenige, den ich am besten kenne - von meiner ersten Lettlandreise auf dem Paddelboot). Die Gauja mündet bei Carnikava in großen Schleifen in die Ostsee. Zwei Stahlbrücken überspannen den Fluss. Früher durfte nur die Bahn rüber, aber 2014 baute die Gemeinde Carnikava eine hübsche, rotblaue Brücke für Fußgänger und Radler - auch wegen des EuroVelo13-Radwegs. So viel Rücksicht bin ich in diesem Land nicht gewohnt!
Überhaupt ist diese Gegend für Autofahrer seltsam eingeschränkt. Schon vorhin bin ich nur dank des Radelstrands weitergekommen, sonst wäre ich wie die Autos in einer Sackgasse gelandet. Und jetzt nochmal dasselbe, nur ich und die Bahn kommen weiter.
Nicht, dass die Radwege deswegen sonderlich gut wären - sagen wir mal, sandig, aber noch akzeptabel.
Als nächstes bin ich durch einen Wald mit See und Heideflächen geradelt. Eigentlich ist es erstaunlich, dass sich niemand für die Heide interessiert. In den baltischen Wäldern wachsen zum Teil richtig große Flächen davon. Was muss das zur Blütezeit im August für ein Anblick sein?
In der Lüneburger Heide würde man so eine Heidefläche direkt mit dem Namen [Dorfname]er Heide versehen, als Sehenswürdigkeit eintragen und auf heidebarometer.de regelmäßig den Blütestand updaten. Zugegeben, dort wachsen auch keine Bäume in der Fläche - in Deutschland schließen sich Wald und große Heidefläche gegenseitig aus, aber hier aus irgendeinem Grund nicht.
Die Bahnstrecke, eigentlich mein heutiger Begleiter, ging mir irgendwann auf den Keks. Ich musste nämlich mehrmals ihre Bahnhöfe überqueren. Und jeder war gerade eine Baustellenwüste mit einem extraverschnörkelten Sandpfad zwischen Bauzäunen. Dazwischen dann noch der klaffende Abgrund der sowjetischen Schienen - nee, danke.
Aber der Großteil der Strecke bestand einfach aus Nebenstraßen. Mit einem Mal zeigten sich sogar Fahrradwegweiser - außerhalb einer Großstadt! Sie sind noch etwas unmotiviert, nicht alle verraten auch die Nummer des Radwegs. Da mussten dann Anwohner mit etwas Farbe und einem Lächeln aushelfen.
Diese Wegweiser sind dennoch relativ lückenhaft. An einer Stelle sah es aus, als hätte jemand das Schild wieder abgeschraubt. Womöglich ein genervter Autofahrer, denn dort wurden die Radler direkt auf die ganz große Hauptstraße A1 geleitet. Das Schild für die Gegenrichtung, das die Radler von der Straße wegleitet, hat er dagegen drangelassen.
Dann auf einmal ein perfekter Radweg an der Straße, der auf der Brücke wieder schmaler wird und verschwindet - irgendwie sendete mir dieser Tag sehr gemischte Signale.
An einem Parkplatz entdeckte ich einen Haufen Ruinen, die auch irgendwie militärisch sein könnten - keine Wohnkasernen, sondern eher irgendwelche Versorgungsgebäude oder so.
Noch schwieriger wird es, zu erraten, was wohl diese Grundmauern unter dem Moos mal waren.
Aber das Highlight wartete ganz zum Schluss im Sonnenuntergang. In Pabaži startet direkt an der Straße ein Park. Achtung: Insekten haben hier Vorrang, sofern sie den Zebrastreifen benutzen. Ich weiß zwar nicht, warum ein Insekt das tun sollte, aber okay.

Ich holte mir etwas Warmes aus dem Kaffeeautomaten und schlenderte durch die Anlage. Der gespaltene Baum hier heißt Katrīnas Liepas, also Katharinas Linde. Gemeint wieder mal die Zarin Katharina, die auch an dieser Stelle gern badete, und angeblich wurde der Baum als Erinnerung daran gepflanzt. Das muss ja ein erinnerungswürdiger Anblick gewesen sein.
Moment, an der letzten Stelle, wo sie so gern gebadet hat, waren doch besondere Dünen - ob es hier so ähnliche gibt?

Nein - noch viel bessere! Die Bālta Kāpa (Weißen Dünen) von Pabaži sind die schönsten Dünen auf dieser Reise.
Der erste Bohlenweg, den ich erkundete, brachte mich zu einem weiten mäandrierenden Fluss. Die Inčupe mag nicht so lang sein wie die Gauja oder Daugava, aber holy moly, ist die schön. Die ersten Dünen an ihrem Ufer wurden vor etwa 4000 Jahren geformt. Aber erst, als die Menschen ab dem 17. Jahrhundert den Wald abrasierten, packte der Wind den Sand und gruppierte ihn um - zu einer noch höheren Düne!
Das blaue Band im weißen Sand schlängelt sich in aller Ruhe zum Meer. Auf meiner Seite war aber noch alles zugewachsen, nach drüben zu den Dünen kam ich nicht, und irgendwann wurde aus dem Bohlenweg ein spärlicher Trampelpfad.
Dann erkunde ich doch lieber die anderen Wege. Denn die sind noch besser. Hoch über den Weißen Dünen wurde ein Netzwerk aus Stegen und Plattformen zusammengenagelt, auf dem sich eine Menge Pabažer und Reisende auf Roadtrips (vermute ich zumindest) ein Panorama in Grün und Weiß und Blau reinzogen.
Aber was den Anblick erst perfekt machte und, war der Sonnenuntergang. Genau in diesem Moment versank die Sonne im Meer. Oder? Seit wann ist unser Stern bitte so breit? Das war kein Sonnenuntergang mehr, es sah aus, als hätten die Schweden auf der anderen Seite die Ostsee angezündet! Flammen loderten am Horizont. Nun ja, vielleicht gab es in den letzten Jahren in den Nachrichten einfach zu viele Bilder von Waldbränden und brennenden Ölfeldern im Meer, aber für mich sah diese Schönheit seltsam gefährlich aus.
Die andere Attraktion von Pabaži ist das einzige Fahrradmuseum im Baltikum. Wie wird es sich wohl schlagen im Vergleich zum RadHaus Einbeck?
Keine Ahnung, es war zu.
Dennoch konnte ich ein weißes Hochrad vor der Haustür anschauen. Ob das das älteste Hochrad Lettlands (1887) ist, mit dem das Haus wirbt? Wahrscheinlich nicht, so was Wertvolles lassen die bestimmt nicht draußen stehen.
Ein Vater und Sohn sammeln seit Jahren Räder, vor allem technisch ungewöhnliche und die ersten in Lettland produzierten Marken. Aber auch ein Faltrad der deutschen Wehrmacht soll dabei sein - seufz, den Nazis entkommt man nicht mal bei dem Thema.
Diese Betonsäule ist derart abgewetzt und hässlich, da könnte mal ein sowjetisches Symbol drangehangen haben. Aber jetzt hängt da Werbung für
Schwarzes Khaki, vielleicht ein indisches Restaurant. Als Logo benutzen sie die schwarze Katze vom Katzenhaus in Rīga.
Alternativ hätte man auf dem Pfosten natürlich auch die Stadt selbst bewerben können. Der ganze Bereich einschließlich Pabaži gehört nämlich zu einer Stadt namens Saulkrasti. Ein gutes Motto zur Begrüßung wäre vielleicht: Better caul Saul... krasti.
Die Küste ist hier ziemlich dicht besiedelt, aber in der Abenddämmerung habe ich dann noch einen herrlichen Radweg an der Küstenstraße aus der Stadt heraus entdeckt.
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