NEU: Die andere Strecke durch Dänemark - mit opportunistischer Mikro-Insel

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Samstag, 27. April 2024

Von Labrags nach Ventspils

Das hier ist nun die Strecke, die mich der barmherzige Kammerjäger mitgenommen hat. Nachdem das Rad wieder intakt war, habe ich sie mit dem Fahrrad nachgeholt - ich kann ja nicht einfach 53 Kilometer überspringen. 53 Kilometer mal zwei ist eine ganz schöne Nummer, aber ich habe sie tatsächlich noch an einem Nachmittag geschafft. Man muss auf diesen 53 Kilometern nämlich nur ein einziges Mal abbiegen. Ansonsten immer dieselbe Asphaltstraße geradeaus. Es ist unfassbar, wie viel Zeit man dadurch spart. Mir war nicht klar, wie unglaublich viel Zeit ich auf Radtouren im schrecklich verwinkelten Deutschland eigentlich mit Abbiegen verschwende.

Lettische Leitpfosten sehen auf den ersten Blick aus wie bei uns. Auf den zweiten Blick bestehen sie nur aus einer dünnen, leicht gebogenen Plastik-Platte, wie die Attrappe eines Leitpfostens. Manche von ihnen bestehen nur noch aus verstreuten Plastiksplittern auf dem Boden, was mich etwas beunruhigte. (Besonders, nachdem ich auch noch in Ventspils Zeuge wurde, wie ein Autofahrer beim Einparken ein Verkehrsschild um 45 Grad verbog. Doch das ist selektive Wahrnehmung, die meisten Fahrer wirkten ganz vernünftig.)

Gehöfte stehen verstreut auf den Wiesen. Manche verkünden ihren Namen auf kreative Weise, auf einer alleinstehenden Haustür oder einem Findling. Wobei sich mir nicht ganz erschlossen hat, ob das nun der Name des Hofes, der Familie oder der Straße ist.


Es gibt an der Küste viele Orte, die mit Jur- beginnen, und meistens stechen sie positiv aus der Umgebung hervor. Das letzte Jur- (Jurmalciems) zum Beispiel mit seiner asphaltierten Dorfstraße. Inzwischen liegt die Messlatte etwas höher: Jurkalne hat einen Supermarkt. Den einzigen bis Ventspils, deshalb soll man hier unbedingt einkaufen, rät der Reiseführer. Ach was! Eine Flasche Limonade, dann ziehe ich durch.

Braune Schilder mit so einem verschnörkelten Symbol weisen am Straßenrand zu den Sehenswürdigkeiten - genau wie in Dänemark. Mal sind sie fünf Kilometer entfernt, mal nur einen halben. Oft blieb mir ein Rätsel, was genau sich hinter langen Namen wie Užavas elku liepa un elku strauts verbarg. Nur so viel hatte ich schnell begriffen: Baka heißt Leuchtturm und Pak heißt Klippe.
Auch Jurkalne hat eine Pak hinter dem Friedhof. Schlichter, steiler Sand fällt zur Ostsee ab. Und große weiße Buchstaben machen unmissverständlich klar, zu welchem Dorf diese Schönheit gehört. Damit man es auch direkt zuordnen kann, wenn ein Bild davon auf Instagram landet.

Und es gibt noch eine Stelle, an der ich zur Ostsee abgebogen bin. Die Steilküste ist dort zu einer geduckten Düne zusammengeschrumpft. Auf der steht ein metallenes Segel mit Löchern - ach so, das ist der Text. Es erinnert an eine Gruppe von Letten, die am Ende des Zweiten Weltkriegs den Sowjets davonsegeln wollten. Sie nahmen Kurs auf Gotland - die schwedische Insel war nur 150 Kilometer weg und zu der Zeit ein beliebtes Ziel für alle, die ein Fischerboot hatten. Auf Gotland regierte jedoch Horst Seehofer, und er befahl: "Abschieben, abschieben, abschieben." Die Gruppe, die an dieser Stelle gestartet war, musste zurück nach Lettland und wurden zu Hause sofort nach Sibirien deportiert.
Es ist die erste Stelle der Ostseeküste seit Kühlungsborn, an der wieder eine Fluchtgeschichte zu lesen ist.

Das einzige Abbiegen der Strecke brachte mich auf eine große Straße parallel zu Lettlands zweitlängstem Fluss, der Venta. Jetzt im Nachhinein sehe ich auf der Karte, dass sie offiziell gar keine höhere Kategorie hat als die Straße davor - aber mir kam sie ähnlich verkehrsreich vor wie die A11 vor drei Tagen. Und leider dauerte es noch ein Weilchen, bis sie der Stadt auch so nah kam, dass ein Radweg auftauchte.
Am Horizont (hinten links) erschien ein Berg, in Lettland stets eine Seltenheit. Daher war dieser Buckel vollkommen zugebaut mit Zeug, vor allem einer olympischen Bobbahn.

Anscheinend ist Ventspils (früher Windau) eine wichtige Stadt für den Bobsport. Aber der Schnee schmolz schon wieder weg - die olympischen Rodler haben es nicht bis zum Berg geschafft und ihre Bobs einfach mitten in der Innenstadt abgestellt.

Im ersten Fahrradladen, vor dem mich der Kammerjäger absetzte, war der Mechaniker noch in der Winterpause. Aber ich entdeckte schnell seinen Kollegen von VeloBode, der auf Google viele gute Bewertungen erleichterter Radtouristen gesammelt hat. Zuerst schätzte der Mechaniker die Arbeitszeit auf zwei Stunden, aber als er sich die Sache genauer ansah, meinte er, das würde doch bis morgen Mittag dauern. Außerdem sollte ich ab morgen fünf Gänge weniger haben, denn eine identische Ersatz-Gangschaltung fehlte.

So hatte ich auf jeden Fall genug Zeit, um Ventspils zu entdecken - und die eigenartigen Kreaturen, die seine Parks bevölkern.

Auch um Ventspils dreht der Ostseeradweg eine Parkschleife zwischen Stadt und Strand. In den weitläufigen Parks habe ich mich verlaufen und auf diese Weise einen lettischen Friedhof entdeckt. Viele kyrillische Buchstaben bedecken die Steine, und steinerne Rahmen unterteilen die Fläche in Rechtecke aus Sand. Nun, das passt auf jeden Fall zu diesem Sandland.

Am Freilichtmuseum hatte ich ein Deja-vu: Die Tür stand offen, aber dahinter war alles menschenleer, düster und abgeschaltet.
Es geht um das Bauern- und Fischerleben der Letten und Liven. Livland gehört heute teils zu Lettland, teils zu Estland. Das Volk der Liven hatte eine finno-ugrische Sprache und lieferte England das Holz, um zur globalen Seemacht aufzusteigen. Zur Belohnung starben sie fast aus. Nur in den Dörfern, an denen ich morgen Vormittag vorbeikommen werde, leben noch ein paar letzte Angehörige.

Immer geöffnet und kostenlos ist dagegen das Floß, auf dem ich mich an einer Kette über den überraschend langen Teich ziehen durfte. In Deutschland gibt es solche Dinger eigentlich nur in kostenpflichtigen Arealen (Hansapark, Blumeninsel Mainau, Minigolfplatz Föhr), in Ventspils dagegen darf jeder gratis und ohne Aufsicht ins eisige Wasser plumpsen.

Auch am Strand hat die Saison noch nicht angefangen, Fahrradständer, Gummireifen, Bänke, alles lag noch auf einem großen Haufen im Winterschlaf, und auch am Aussichtsturm erwartete mich eine Absperrkette.

Die Stadt ist besessen von Kühen, überall stehen irgendwelche rätselhaften Kuhstatuen in allen Farben. Gibt es hier etwa eine kuriose Legende über einen Typen, der auf einer Kuh geritten ist? Mal googeln... nee, das ist einfach eine Variante vom Berliner Bären: Lasse Künstler ganz viele Varianten desselben Tieres aufstellen. Ursprünglich stammt das Prinzip wohl aus Zürich und Chicago und heißt Cow Parade (obwohl in Zürich eigentlich Löwen aufgestellt wurden, sehr seltsam). Aber warum hat sich Ventspils für Kühe entschieden? Visitventspils.com antwortet sehr vage: Weil die Kuh für verschiedene Menschen auf der Welt unterschiedliche Dinge darstellt und alle zum Lächeln bringt.

Dann kam ich an der Venta und am Hafen heraus. Da stehen verschiedene Arten von Bojen herum, die den Spaziergängern etwas über verschiedene Arten von Bojen bojbringen. Die orange ganz vorn wiegt zum Beispiel 2200 Kilo und markiert den Anfang eines Hafens.

Die Kanonen der alten Burg zielen direkt auf die Kohlehaufen am Hafen gegenüber. Wären sie noch geladen, wäre das brandgefährlich.
Der Hafen von Ventspils ist das erste, was ich jemals von den baltischen Staaten (oder generell von der Ostseeküste östlich von Usedom) gesehen habe. Bei meiner ersten Lettlandreise sind die Fähren aus Lübeck-Travemünde nämlich noch nach Ventspils statt Liepaja gefahren. Die Stadt war für uns damals bloß eine Durchgangsstation: Fähre, Reisebus und nix wie weg. Deswegen hat es mich überrascht, was für eine liebenswerte Stadt doch direkt neben dem Fährterminal beginnt. Auch wenn sie offenbar noch schläft. Oder? Horch, klingt hier nicht irgendwo Musik? Hinter den Kanonen folgte ich dem Geräusch zu einem Eingangstor.

Es brachte mich runter in den Keller der Burg (hinten im Bild), wo ich richtig lecker gegessen habe. Die Burg gehörte dem Schwertbrüderorden aus Deutschland, der die Hansestadt Ventspils auch gegründet hat.
Die nächste Gasse heißt Nabagu iela und ist ein architektonisches Kuddelmuddel: Erst ein Holzhaus in schwedischem Rot, dann ein seltsames gelbes Haus mit weißen aufgemalten Fake-Fenstern und Fake-Steinen, dann ein geteertes Haus, so tiefschwarz, dass es alles Licht aufzusaugen schien, und schließlich noch eins in tschechischem Grau.

Aber eins haben sie alle gemeinsam: Sie sind niedrig. Die Altstadt von Ventspils ist viel geduckter als in Liepāja, und gerade deswegen irgendwie süß.
Ganz links im Bild beginnt eine Straße namens Lielā iela, lila ist sie leider nicht.

Auch die Marktstände auf dem Pulksteņa tornis ducken sich. An diesem Platz standen mal die Häuser der Reichen, das Rathaus, dessen Entscheidungen hier verkündet wurden, und ein Glockenturm. Zumindest für letzteren gibt es einen Nachfolger.

Als die volle Stunde schlug, bimmelte ein Glockenspiel eine melancholische Melodie nach der anderen und wollte gar nicht mehr aufhören. Dazu drehen sich die Zeiger einer kleinen astronomischen Uhr auf dem Holztürmchen.
Auf dem Platz wird schon seit Jahrhunderten gehandelt, aber damals noch mit ganz anderen, total exotischen Maßeinheiten wie pods (8 Kilo), pūrs (65 Liter) oder čarka (0,13 Liter). Auf den Tischen stehen verschiedene Würfel, Gefäße und Kürbisse, die an diese für Matheschüler sicher schwere Zeit erinnern und uns gemahnen, dankbar für das metrische System zu sein. Der steinerne Kürbis ganz rechts wiegt zum Beispiel 1 birkavs (160 Kilo).
Textaufgabe: Wie viele birkavs sind eine orange Boje?

So, nachdem ich also abends also alle Kilometer nachgeholt hatte, zeigte mir Ventspils auch noch seine moderne Seite: Hinter dem VIZIUM Science Center aus gelb leuchtenden Linien (hinten) überquerte ich eine ähnlich cool beleuchtete Brücke in den Nordteil der Stadt.

Aber diesmal war ich der Abenteuer und der Kälte überdrüssig. Ich hatte mir auf Booking ein Zimmer mitten in den Wohnblocks der Nordstadt gebucht. Wo ist denn nur die richtige Hausnummer? Ach so, in zweiter Reihe hinter den großen Blocks! Der kleine versteckte Kasten ließ durch nichts ahnen, dass sich darin eine Viesnīca verbarg - heißt das Dorf? Nee, es muss wohl so viel wie Hotel bedeuten. Als ich klingelte, wirkte die Dame an der Tür erstmal weitgehend ratlos, was ich hier wollen könnte - aber bei dem Wort Viesnīca hellte sich ihr Gesicht auf - ach ja, richtig, sie vermietete ja Zimmer. Zimmer aus den 50er Jahren - Zeit für die nächste Zeitreise! Ist ja auch völlig in Ordnung, wenn es so warm und gemütlich ist. Nur die Kommunikation war schwierig, denn meine Frage nach dem bathroom brachte Ratlosigkeit. Lediglich das Wort toilet ist universal verständlich.
Puh. Schließlich saß ich allein im Zimmer und ließ mich aufs Bett fallen, woraufhin das Bett zur Abwechslung mal nicht zusammenbrach. Da entdeckte ich etwas hinter dem Vorhang. Steht hier etwa eine ausgestopfte Katze? Nein, sie lebte, und irgendwann bewegte sie sich sogar. Unter mein Bett zum Beispiel. Und irgendwann dann doch aus dem Zimmer.

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