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Dienstag, 23. April 2024

Von Giruliai nach Liepāja

In Giruliai verschanzen sich die Bahngleise hinter einer monströsen Schallschutzwand. Sie haben noch die sowjetische Spurweite, was heißt, dass sie a) sich nicht mit dem mitteleuropäischen Netz verbinden lassen und b) ihre Lücken für westliche Radfahrer ein regelrechter Abgrund sind - uiuiui, hoffentlich rutscht der Reifen da nicht rein. Die Schienen führen nach Norden, man sollte also meinen, dass sie wie ich schnurstracks Lettland anstreben – aber laut Onlinekarte enden Sie genau auf der Grenze. Traurig, aber wahr: Es gibt keine einzige Bahnverbindung zwischen Litauen und Lettland.

Rmmm...
Ganz unerwartet und sehr willkommen summte ein Kaffeeautomat eines Unternehmens namens Lavazza am Bahnhof vor sich hin. Vor einem geschlossenen Café bot er für zwei Euro Köstlichkeiten wie einen Caramel Drink an. Er schmeckte wie flüssige Karamellbonbons und belebte ungemein. Es handelt sich um ein gesprächiges Stück Technologie: Bevor es mit dem Getränk herausrückt, murmelt eine Roboterstimme noch ein paar mysteriöse litauische Sätze.


Warum zum Geier schreibe ich so viel über diesen Automaten? Weil dieser ab hier quasi das Maskottchen des Ostseeradwegs darstellt! Nach wenigen Kilometern tauchte der nächste auf, dann noch einer, und irgendwann hatten die Litauer an jeder einzelnen Kreuzung, auch mitten in der Wildnis, einen platziert.
Aber das ist nicht einzige Großartige: Der litauische Ostseeradweg ist ein Traum. In perfektem Zustand zieht sich die Asphaltlinie durch die Dünen, Wälder und die Ginsterheide. (So gut scheint es sich nicht überall in Litauen zu radeln: Als ich später gegenüber anderen Radlern Litauen in den Himmel lobte, hielten sie das für Ironie.)

Auch die Landschaft scheint es mir ganz und gar nicht übelzunehmen, dass ich mit der Kurischen Nehrung ihren berühmtesten Teil weggelassen habe. Stattdessen will sie mir zeigen, dass sie auch sonst superviel zu bieten hat. Ein Steg zweigt direkt zum Highlight ab. Noch ist der Wald in blaues Dämmerlicht getaucht. Die Sonne ging bereits auf und schickte erste orangefarbene Strahlen durch die Stämme - aber nicht über der Ostsee, sondern auf der gegenüberliegenden Seite, im Osten.
Aus Russland, flüsterte ein seltsamer Teil in meinem Hinterkopf.

Am Ende der Plattform fällt die Olandų Kepurė zur Ostsee ab. Das bedeutet so viel wie Holländer-Klippe. Nach Klaipėda sind nämlich im 16. Jahrhundert viele protestantische Holländer vor den Religionskriegen geflohen, und 1540 wurde einer von ihnen, Herman von Bombell, der Eigentümer dieses Grundstücks. Luisa, die Königin von Preußen, ging hier gerne spazieren, 24 Meter über dem Meer, an einer dramatischen Steilküste mit vielen jungen Baumstämmen. Sie liegen und hängen in Massen am Abhang und lassen kaum etwas von der nackten Erde darunter sehen - oder von den 24 000 Jahre alten Mammutknochen, die hier gefunden wurden (vermutlich nicht von Königin Luisa).

Dann fuhr ich in Karklė ein bisschen in die Irre und begegnete dabei einem Bach und einer sehr enthusiastischen Katze, die zwar unbedingt gestreichelt werden wollte, jedoch nicht die dafür nötige Geduld aufbrachte, länger als eine Sekunde stillzustehen und nicht durch die Gegend zu springen.

Der Radweg ging an der Straße weiter und präsentierte mir als nächstes Highlight: Einen Wasserhahn. Super, ich fülle direkt meine leere Flasche auf. Oder auch nicht, denn das Ding war mit Kabelbindern so blockiert, dass sich der Knopf nicht drücken ließ. Tja, für die Touristinfo im Haus dahinter hat wohl einfach noch nicht die Wasserhahnsaison begonnen. (Und zwar, wie ich bald feststellen sollte, völlig zu recht.)

Ebenfalls nicht trinkbar, aber deutlich schöner: Der Blick auf die Sümpfe.

Eine Enttäuschung waren dagegen die Ruine der evangelischen Kirche von Karklė. Ein Haufen Drahtgitterkörbe mit Steinen drin? Nee, sorry, so begrenzen Deutsche hässliche Gärten.

Ganz nett wiederum: Die Aussichtsplattform am Plocis-See.

Noch netter: Der Blick über die Heide und ganz hinten das Meer.
Diese Landschaft gehört zu Nemirseta. Das Dorf besteht nur noch aus zwei Häusern und war bis 1920 die nördlichste Spitze des Deutschen Reiches, bekannt als "Nimmersatt, wo das Reich sein Ende hat". Laut Reiseführer handelt es sich dabei um eine kolonialistische Verballhornung und nicht um etwa um eine Anspielung auf eine berühmte hungrige Raupe.

Deutschland war hier also zu Ende, aber Litauen ist es noch nicht - jetzt kommt die zweite litauische Küstenstadt. Denn als einziges baltisches Land konnte sich Litauen gegen den deutschen Ritterorden wehren, indem es sich mit Polen zusammentat. Sie eroberten Palanga 1435, noch bevor sich das Gebiet des Deutschen Ordens in Preußen und irgendwann in das Deutsche Reich verwandelte.
Palanga ist viel schöner und radelfreundlicher. Während nämlich Klaipėda die Rolle der Handels- und Hafenstadt übernimmt, ist Palanga die Strand- und Urlaubsstadt. Da darf natürlich auch die Fußgängerzone voller Strandshops nicht fehlen, die sich an einem kleinen Flüsschen erstreckt.

Und auch eine Seebrücke muss her!

Es handelt sich um eine Haiku-Seebrücke.
Äh ja, ich versteh zwar nix, aber fünf, sieben und fünf Silben sind vorhanden. Zumindest, wenn man es so ausspricht, wie ich nicht dachte, dass man es ausspricht. Das Geländer hängt voller solcher Gedichte, nur die großen weißen Platten ganz am Ende werden ausschließlich von hingeschmierten Tags und Unterschriften verschönert.

Im Prinzip ist die ganze Stadt ein Park, an einer Stelle sogar ein Skulpturenpark. Soll das ein Fahrrad nach einem Unfall darstellen? (Nein, es soll mein Fahrrad darstellen. In naher Zukunft.)

Mit dem Rad bin ich überall bequem hingekommen, mit einer Ausnahme: Im Schlosspark sind keine Räder erlaubt. Und genau in dessen Mitte befand sich der Ort in Palanga, den ich besuchen wollte.
Tja, dann werde ich jetzt ein Stückchen laufen müssen. Ich spazierte durch Springbrunnen und gestutzte Hecken, bis ich bei einem weißen Palast ankam. Wann macht er endlich auf?

Graf Feliks Tyszkiewicz bewohnte diese Luxusresidenz von 1897 mit seiner Frau Antonia, entworfen hat sie der Berliner Architekt Franz Schwechten. Die Familie war bekannt für ihre Wissenschaftler und Kunstsammler. Ein paar Räume im Erdgeschoss sind auch immer noch so eingerichtet wie bei denen. Aber hauptsächlich dreht sich das Museum um etwas anderes.

Vor 50 Millionen Jahren standen auf dem Kontinent Fennoscandia jede Menge Bäume, Vorfahren der Pinien. Es war subtropisch heiß, und die Bäume schwitzten. Eigentlich war es viel zu heiß für die Urpinien, sie schwitzten sich zu Tode und starben aus - aber wenigstens produzierten sie vorher noch ordentlich Schmuck. Ihr Harz landete auf dem Boden, wurde fest und schließlich zum Symbol einer Nation, die sehr viel später auf diesem Boden entstehen sollte. Ein Symbol, dem Palanga ein komplettes Museum geweiht hat. Wie wird es sich wohl schlagen im Vergleich zum Bernsteinmuseum Ribnitz-Damgarten?
Verdammt gut.
Denn während sich Ribnitz vor allem auf Kunstobjekte aus Bernstein konzentriert, arbeitet Palanga praktisch alle Facetten der orangen Steinchen ab. Zuerst, wie genau der entsteht und welche Arten es gibt, je nachdem, wie genau das Harz die Rinde runtertropft. Dann eine einzigartige Sammlung von eingeschlossenen Tieren, sortiert nach kleinen Säugetieren, Vögeln (also, eigentlich Kolibris und sonst nur einzelne Federn), Amphibien, Reptilien, Spinnen und Insekten (die so viel Platz einnehmen, dass sie in zig Unterkategorien unterteilt werden). Manche kann man unter Vergrößerungsgläsern bestaunen. Kein Vergrößerungsglas braucht man für den Sonnenstein, der wiegt 3,5 und ist der größte Bernstein des Landes.

Passend: Einer der Insektensteine sieht aus wie ein Fliegenfänger.

Die Litauer fischen nach den Steinen seit... im Prinzip seit immer, selbst der Römer Tacitus erwähnte nebenbei, dass sie als einziges Volk Bernstein finden können. Dazu benutzten sie Netze oder brennende Fässer als Lichtquelle. Die deutsche Regierung kaufte zwischendurch mal alle Schürfrechte, weil ihr das profitabel erschien, was aber nicht so richtig klappte.
Für die Sowjetunion stellte sich folgende Frage: Was machen wir mit diesem hübschen Zeug, das ein Symbol für Litauens nationale Identität darstellt, wo wir diese Identität doch so ganz und gar nicht wollen? Unterdrücken? Nein, lieber vereinnahmen! Die Sowjets puzzelten aus dem Stein Lenin und russische Babuschkas zusammen, vor allem verarbeitete sie ihn aber zu billigem, identischem und sozialistischem Massenschmuck. Mit Erfolg: Die richtigen Künstler fanden Bernstein uncool und kitschig, sie wollten nicht mehr mit ihm arbeiten.

Einerseits startete schon vor der Wende ein Professor eine Gegenbewegung (Make Bernstein litauisch again!), andererseits wurde Bernstein 1998 von Litauens Liste der Edelsteine gestrichen.
Die Künstler benutzen ihn wieder, aber eher auf ironische Art: Bernsteintoiletten, Lippenstifte und Asia-Nudel-Boxen aus Bernstein sollen Schönheitsideale, die Immobilienblase, den Brexit oder den Erfolg der litauischen Bauernpartei darstellen. Statt Lenin puzzeln sie aus den Steinchen Prinzessin Diana und eine völlig verzerrte Fratze, bei der es sich um Lukaschenko handeln soll, zusammen.

Von der Strandpromenade geht der litauische Traumradweg direkt weiter nach Norden.

Hier habe ich die ersten Reste des Eisernen Vorhangs entdeckt: Einen Vollpfosten und einen noch größeren, gestürzten Vollpfosten. Das perfekte Symbol für die Wende.

Bevor das große Klaipėda an Litauen ging, musste das kleine Fischerdorf Šventoji die Rolle der einzigen Hafenstadt übernehmen.
Erinnern Sie sich noch an die Legende der Jurata auf der polnischen Halbinsel Hel? (Müssen Sie nicht, ich merke mir auch nicht den ganzen Quatsch, den ich hier so aufschreibe.) Eigentlich ist das eine litauische Legende, deshalb gibt es auch eine Version, in der das Ganze hier in Šventoji spielt und die Protagonisten eine Menge litauischer Punkte und Striche über ihren Namen haben.

In Šventoji habe ich ein Flüsschen auf der Affenbrücke überquert, ein skurriles schmales Brücklein in Gelb und Blau mit einem beunruhigenden Warnschild, das aber kein bisschen erklärt, was zum Geier das Bauwerk mit Affen zu tun hat. Der Fluss heißt auch Šventoji und war mal die Grenze der beiden baltischen Länder. Eigentlich ist er es heute noch - zumindest aus Radfahrersicht.

Ende April war ich eine ziemlich auffällige Gestalt mit dem vollbepackten Rad. Hinter der Brücke fragte mich ein Litauer aus, woher ich käme und wohin die Reise ginge. (Sehr naheliegende Fragen, aber nach dem fünfzehnten Dialog dieses Inhalts wünschte ich mir irgendwann doch, die Fragesteller würden sich etwas Kreativeres ausdenken. Vor allem, weil ich immer wieder erklären musste, dass, nein, ich wirklich nicht in Deutschland mit dem Rad gestartet bin. Wieso gehen alle davon aus, dass eine Radtour nur an der eigenen Haustür starten darf? Dann müsste man ja jedes Mal ein Sabbatjahr nehmen, wenn man über die Nachbarländer des eigenen Staats hinausfahren möchte.)
Als er hörte, dass ich nun nach Lettland rüberfahre, kündigte er an, der Weg sei gut.
Das war dann wohl der litauische Humor.
Genau das war nämlich der Punkt, an dem ich radwegmäßig vom Himmel in die Hölle wechselte.
Die Wegweiser und meine App sagten, ich solle zur Autobahn wechseln. Aber meine Karte sagte, direkt an der Küste ginge es auch, und zumindest bis zur Grenze wollte ich schon gern am Meer bleiben.

Ich quälte mich die letzten Kilometer durch den Sand der Dünen bis zur Stelle, wo die Ostsee auf die nächste Staatsgrenze trifft.

Ein weißer Grenzpfosten markiert die Stelle, an der ich das Rad ziemlich kompliziert um einen Grenzbach herumwuchten musste.

Zusätzlich wächst auf der Grenze eine von hundert Eichen, die Lettland umgeben (vorne rechts). Laut Beschriftung soll der Baum ein Symbol der Stärke Lettlands darstellen.
Äh, ja.

Bei dem Anblick ist keine weitere Pointe nötig, aber ich möchte trotzdem ergänzen: Die Stärke der lettischen Fahrradinfrastruktur spiegelt sie sehr akkurat wieder.

Und jetzt beging ich einen bösen Fehler. Diese paar Kilometer grenzwertiges Sandgeschiebe hätte ich noch irgendwie als kleines Abenteuer verbuchen und dann zur Autobahn abbiegen können.
Aber meine App behauptete, ab dem ersten lettischen Dorf Nida (nicht zu verwechseln mit dem berühmten litauischen Nidda in der kurischen Nehrung) sei wieder eine Radroute vorhanden. Zwar kein Ostseeküstenradweg, aber immerhin irgendwelche nationalen Radwege mit dreistelliger Nummer. Dann kann es ja so schlimm nicht sein, oder?
Und wie es das kann! War der Weg für ein paar Meter mal nicht ganz so sandig, sodass ich tatsächlich fahren konnte, kam direkt eine breite Blockade-Pfütze. Die einzige dreistellige Nummer, die dieser Weg verdient, ist die 666!

Heide, Wald und Wiesen lösten sich am Wegesrand ab. Die Landschaft war ein schöner Anblick, keine Frage. Aber diese Tortour war sie nicht wert. Ich kann mir wirklich nicht vorstellen, wie dieser Sandstreifen vor einigen Jahren noch so gut gewesen sein soll, dass Michael Cramer ihn ernsthaft als Route eingetragen hat - diese Strecke ist der größte Fail einer Bikeline-Karte, den ich jemals erlebt habe.

Aber ja, irgendwann musste hier jemand irgendetwas gebaut haben, um Touristen anzulocken. Zumindest führen ein paar zerbrochene Bretter zu einem nicht sehr vertrauenerweckenden Aussichtsturm.
Wie wird er sich wohl schlagen im Vergleich zum Hochheideturm in Willingen? Architektonisch sehr schlecht, aber landschaftlich sehr gut.

Das ist viel mehr Heide als in Willingen! Eigentlich hätte ich als Heidefan begeistert sein sollen, aber in der Situation nahm mir der Anblick allen Mut - oh Gott, das geht ja endlos weiter! Und erst irgendwo dahinter ist der nächste Asphalt?
Wo bin ich hier nur reingeraten?

Dieselbe Frage stellte ich mir auch in Nida und Pape, den ersten beiden lettischen Dörfern. Hatte ich aus Versehen eine Zeitreise unternommen?
"Ah, verstehe, in die Sowjetzeit", nickte ein Freund wissend, als ich ihm wieder zu Hause von diesem Tag erzählte. Von wegen! Diese Häuser sahen eher nach Bronzezeit aus.
Ist das ein Museumsdorf? Nein, hier parkt ein Auto, dort hängt jemand Wäsche auf, hier leben tatsächlich Menschen. Trotzdem war meine Vermutung nicht völlig falsch - bald entdeckte ich Schilder, die genau erklären, welche Elemente an den Holzhäusern aus dem 19. Jahrhundert typisch für ein traditionelles Fischerhaus sind. Unentbehrlich ist dabei auf jeden Fall das Reetdach mit Giebel. Die zwei Fischerdörfer stehen unter Denkmalschutz, und die anderen Dörfer Lettlands sehen definitiv nicht so aus. Lettland mag zwar das abgewrackteste der drei baltischen Länder sein, aber soo schlimm ist es nun auch wieder nicht. 

Oder?
Auf jeden Fall haben erschreckend viele Dörfer noch keine Asphaltstraße, sondern nur eine hässliche Piste. Der stabile Staub an sich wäre ja nicht das Problem, aber obendrauf liegen haufenweise Steine. Kein Kies, sondern zum Teil richtig dicke Brocken. Wenn ich Gas gab und diese Dinger von meinen Reifen durch die Luft geschleudert wurden, wurde mir doch etwas unwohl und ich war dankbar für meinen Helm. Leider scheinen es eben diese Steine zu sein, die den Staub stabil machen, damit er sich nicht in so einen unsäglichen Sandweg wie vorhin verwandelt. Zumindest schält jedes Fahrzeug eine neue Schicht dieser blöden Brocken aus dem grauen Puder, damit auch diese Steine eine Weile locker obendrauf liegen, bis sie irgendwann fröhlich in den Straßengraben fliegen oder jemandem die Birne einschlagen, Schicht um Schicht, so lange, bis die ganze elende Piste eines Tages abgetragen ist und Lettland hoffentlich endlich Geld für eine richtige Straße klarmacht.

Asphalt ist hier so selten, dass es ein eigenes Warnschild gibt, das extra sagt, wann er anfängt und aufhört!

Es reicht! Ich tue, was ich schon im letzten Land hätte tun sollen - ich biege ab auf die A11! Zwar ist die Straße eine Hauptverkehrsverbindung zwischen den beiden Staaten, auf der LKW um PKW vorbeirast, trotzdem ist sie von der Größe her eher eine Bundesstraße. An einer Bushaltestelle kochte ich mir ein Mittagsmahl und wagte mich dann in den Verkehr, der mich kaum störte - endlich vorankommen!

Hm, naja, irgendwann störte er dann doch, und ich gab den Dörfern wieder eine Chance. Und tatsächlich, ab Jūrmalciems waren die Dorfstraßen dann doch asphaltiert.
Das Dorf hatte mich noch aus einem anderen Grund interessiert: Außer eine Windmühle stand hier auch ein Grenzturm in den Dünen. Die Sowjetunion baute ihre Türme wieder anders als Polen oder die DDR: Ein breites Stahlgerüst mit Stahlkammer obendrauf. Ähnliche Türme sind öfter an der baltischen Küste zu sehen, mal alt, mal restauriert, mal schmaler, mal etwas breiter - aber immer endet die Treppe deutlich über dem Erdboden oder ist versperrt, damit niemand hochklettert.
Ein paar Tage später erfuhr ich von einer Tafel auch den Rest: Der Strand war hier mit Stacheldraht versperrt, später kamen auch Scheinwerfer dazu. Jeden Abend suchte eine Patrouille nach Grenzgängern. Baden durfte man nur an bestimmten Stellen, und Fischen war streng reguliert. Es gab Küstenbewohner, die nach der Wende zum ersten Mal in ihrem Leben das Meer sahen. Entweder die Balten waren viel fluchtwilliger als die Polen, oder sie haben dieses Thema einfach nicht vergessen.

Ich kam endlich ungehindert voran, doch aus den Hügeln ragte ein Bunker und erinnerte mich daran, dass es im Kalten Krieg umgekehrt war: Hier hätten die Hindernisse erst so richtig begonnen. Ich hätte mich schon viele Kilometer vor der großen Militärstadt ausweisen und meine Genehmigung zeigen müssen.
Am Eingang nach Liepāja wies mich das erste lettische Eurovelo-Schild auf den ersten lettischen Radweg. Wahnsinn. Ich habe heute doch noch die erste lettische Stadt erreicht, trotz... nun ja, Lettland.

Als wollte er alles wiedergutmachen, umschlingt der Radweg Liepāja (früher Liebau) in einer großzügigen grünen Schleife zwischen Wald, Dünen und Wohnblocks. Und als wollte er auch den Mangel an Heißgetränken seit der Grenze kompensieren, brummen gleich drei Automaten unterschiedlicher Hersteller nebeneinander. So beendete ich den Tag, wie er begann: mit einem Getränk von Lavazza. Wahnsinn, Lettland kann es also doch. Zumindest in den Großstädten.

Enge mittelalterliche Gässchen sucht man auch in Liepāja vergebens, es ist eher eine großzügige Stadt mit breiten Straßen im Jugendstil, bei der unbedingt immer eine weiße Linie zeigen muss, wo das nächste Stockwerk beginnt. Die Kurgäste aus dem Osten sind wegen der Visapflicht verschwunden, und die Touristen aus dem Westen haben die Stadt noch nicht so richtig entdeckt. Ist aber auch kein Wunder bei der dämlichen Anbindung: Von Riga kommt nur einmal am Tag ein Zug, und zwar immer genau so, dass man gerade die Check-In-Zeit für die tägliche Fähre nach Lübeck verpasst. Und das in der drittgrößten Stadt des Landes...
Aber die Liepājer schaffen es auch allein, ihre Stadt zu beleben: Abends warteten junge Partymenschen auf den Elektrobus nach Hause, und ich fühlte mich endlich wieder richtig in der Gegenwart angekommen.

Doch die Wettervorhersage versprach eine klare Nacht, und ich fühlte mich absolut in der Lage, sie wieder in der Wildnis zu verbringen.
Die einzige drehbare Klappbrücke Lettlands brachte mich in die nördliche Stadt, zu weiteren Wohnblocks und schließlich in den nächsten Wald.

Der offenbar nicht weit genug von der Stadt entfernt war.
Ich erwachte, weil ich Schritte und Stimmen hörte. Dann leuchtete mir eine Lampe ins Gesicht. Es war halb drei, und jemand sprach lettisch.
Ich fragte, ob er auch englisch sprach.
Der Polizist bejahte dies und fragte, was ich hier tue und ob alles in Ordnung sei.
Hätte ich doch nur in jeder Lebenslage das Selbstbewusstsein und die Lässigkeit, mit der ich, völlig aus dem Schlaf gerissen, der Polizeitruppe in diesem Moment antwortete: Ja, natürlich, ich sei doch nur auf einem Campingtrip. Sie zogen sich sofort zurück, merkten nur noch an, dies sei "not a good place", aber ich könne hier schlafen.

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