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Montag, 22. April 2024

Von Klaipėda nach Giruliai

Wofür sind die baltischen Staaten bekannt? Gutes Internet.
Womit begann meine Reise in diese Staaten? Mit schlechtem Internet.
Die DFDS-Fähre von Kiel nach Klaipėda ist sogar im Liegesitz sehr bequem, aber das WLAN, das sie für 2 Euro pro Stunde verkaufen, eine Unverschämtheit. Ich konnte keine einzige Warmshowers-Unterkunft anschreiben. Stattdessen füllte ich meinen Teller am Buffet, bis mich die Mitarbeiter böse anstarrten. Egal! Da vorne ist Land in Sicht! Zum ersten Mal seit Langem packte mich das aufregende Gefühl, endlich wieder einen neuen Staat zu betreten, und ich grinste wie ein Kleinkind. Nach 20 Stunden tuckerte die Fähre ins Kurische Haff.
Vor Jahrhunderten sind an derselben Stelle Dortmunder Kaufleute hineingetuckert, um die älteste Stadt Litauens zu gründen. Sie glaubten, der Fluss sei die Memel, und mit ihrer begrenzten kaufmännischen Kreativität nannten sie die Stadt Memelburg. Oder auch einfach nur Memel. Ganz Unrecht hatten sie ja nicht, schließlich ist das der Ausgang des Kurischen Haffs, in das die Memel mündet.

Rechts konnte ich gut die verwunschenen Wälder, Festungswälle und weißen Dünen der Kurischen Nehrung erkennen. Von dort kommt der Ostseeradweg auf einer kleinen Fähre nach Klaipėda über. Der Effizienz halber (sonst müsste ich dieselbe Strecke dreimal fahren und/oder meine An- und Abreise stark verkomplizieren) werde ich all diese grenznahen Gebiete der Nachbarländer Russlands erst dann zusammen mit Russland befahren, wenn man wieder vernünftig in die Russische Föderation reisen kann. (Ich habe es nachgerechnet, selbst wenn das so lange dauert wie der letzte Kalte Krieg, werde ich das Ende wohl noch erleben. Freuen Sie sich jetzt schon auf Kaliningrad und St. Petersburg auf ostseeradler.blogspot.com im Jahre 2067!)

Am anderen Ufer ist Schluss mit verwunschenen Wäldern: Gleich hinter dem Strand beginnt ein Wald aus Kränen, Terminals und Speichern für Flüssiggas - Litauen hat rechtzeitig eingekauft und bekam schon vor 2022 drei Viertel seines Gases aus Norwegen.

Gestern Abend am Kieler Hafen sollte ich dem Shuttlebus für Fußgänger hinterherradeln, in Klaipėda war der Bus dagegen schon abgefahren und man wies mir bloß mit einer vagen Handbewegung den Weg durchs Hafenlabyrinth, immer den LKWs hinterher. Auf dem Weg zum Zentrum zeigt die Stadt die volle Bandbreite an Architektur, von grauen Bruchbuden hin zu überraschen schönen Industrieschlössern, und die volle Bandbreite an Radwegen, von niederländisch bis nix.

Der Wall hinten links gehört zu einer Festung, die die ursprüngliche Memelburg war und damals noch auf einer Insel lag - ebenso wie das ursprüngliche Herz der Stadt, das hier angeblich beginnt.
Zu einem großen Teil besteht besagtes Herz aus seltsamen Statuen: Ob nun bärtige Opas auf Motorrädern oder kleine Mäuse, die man für Glück reiben soll.

Das Maskottchen von Klaipėda ist das Ännchen (nein, ich meinte nicht Entchen, liebe Autokorrektur) von Tharau, ein schüchternes Mädchen, das der Dichter Simon Dach in seinem Gedicht auf einen hohen Sockel gelobt hat. Das Dichterdenkmal ist nur eines von vielen Zeugnissen der deutschen Geschichte. Es steht auf dem netten, aber kahlen Theaterplatz.

Und dahinter beginnen die, äh, Gassen der historischen Altstadt.
Zumindest sollten sie angeblich hier sein.
Im Kampf zwischen dem Deutschen Orden und Polen-Litauen wurde Klaipėda immer wieder plattgemacht, und nach dem Zweiten Weltkrieg lebten hier nur noch sechs Menschen.
Das sieht man.

Ich sah nur ganz einzeln verstreute Fachwerkhäuser, und dazu ein paar alte Speicher am Flüsschen Dangė. Dieser Fluss hatte vor Jahrhunderten ein Delta, und auf dessen verstreuten Inselchen wurde das alte Memelburg erbaut. In einem der Speicher befindet sich das Restaurant Agnostikas. Die Frage, ob es nach der gleichnamigen Weltanschauung benannt wurde, lässt sich nicht mit Sicherheit beantworten.

Nördlich der Dangė beginnt die Neustadt. Ihr Markenzeichen sind zwei Wolkenkratzer, geformt wie der Name der Stadt, oder zumindest wie zwei seiner Buchstaben: K und D. Von der Fähre habe ich beobachtet, wie sich die Hochhäuser immer weiter aufeinander zu bewegtem, bis das D genau ins K einrastete – ich war fast überrascht, kein Klicken zu hören.

An der Hauptstraße durch die Neustadt prangt auf dem grauen Bürgersteig ein fetter roter Streifen, offensichtlich ein Radweg. Nur wurde das verblasste Fahrradsymbol hastig mit zwei Fußgängern übermalt.
Und was soll das Schild bedeuten, bei dem ein weißer Würfel unter dem Fahrrad liegt? Ach so, es ist ein Ostseeradwegschild – nur dass die Nr. 10 im weißen Rechteck stark verblasst ist. Außerdem verbaut Klaipeda ganz schön viele Treppen mit schmalen Schieberampen auf seiner Hauptradroute.
Irgendwann war diese Straße mal fahrradfreundlich, und dann muss etwas passiert sein. Man könnte fast meinen, in Litauen sei wieder eine rückwärtsgewandte Regierung an die Macht gekommen... Oder doch nur in Klaipeda? Denn kaum hatte ich dir Stadt verlassen, da wurden die Radwege traumhaft und die Nummer 10 wieder lesbar.

Ich kam vorbei an einem Kletterwald, einem deutschen Soldatenfriedhof und... was ist das nun? Verwirrt radelte ich mitten durch ein Amphitheater aus Beton - dieser Koloss stammt doch sicher aus sowjetischen Zeiten, oder? Kurz googeln: Stimmt, aber vor der Betonbühne fanden auch einige der ersten Sąjūdis-Kundgebungen für die litauische Unabhängigkeit statt. Und damals wie heute spielen im Sommer beliebte Bands.

Und dann wurde es richtig schön. Ich bog ein in einen Wald mit getrenntem Fuß- und Radweg. Das Gehölz ist ziemlich hell, aber offenbar wächst es dicht genug, um diesen Radweg vor dem verrückten Übermaler aus der Stadt zu schützen.
Es gefiel mir hier viel besser als im ollen Klaipėda. Da ist es nur logisch, dass ich lieber hier übernachtet habe. Ich fuhr noch ein Stück, während der Park immer mehr in einen richtigen Wald überging. Kurz vor den Gleisen von Giruliai suche ich mir ein Nachtlager im weichen Moos. Fast wie meine erste Nacht in Polen! Nur dass heute Nacht -1 Grad kommen sollten. Aber mit genügend Kleidungsschichten geht auch das. (Und auch die Zeckenwarnschilder machten mir bei diesen Temperaturen wenig Sorgen.) Genau genommen habe ich während meiner kurzen Besuche auf dem windigen Außendeck der Fähre mehr gefroren als in dieser Nacht.

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