Dieser Tag war trübe und kalt. Ein vollbehangener Himmel, Nieselregen, Gegenwind und sogar ganz, ganz leichte Hügel lagen in meinem Weg. Und trotzdem war ich total froh. Weil es einfach nur ein stinknormaler Radtour-Tag war, ohne zerstörte Fahrräder und Schneestürme. Noch schneller als der Schnee sind jedoch meine zwei Tage Puffer weggeschmolzen. Ab jetzt darf nichts mehr schiefgehen.
Das Schmelzwasser hatte den Radweg aus der Stadt hinaus überschwemmt, aber ein paar Bretter führten über die Pfützen. Zum Fahren sah mir das nicht vertrauenswürdig genug aus, dann doch lieber schieben.
Im sumpfigen Wald liegt ein Badesee, und ein einsames Bahngleis reißt ab. Es kündigt an: Heute begegne ich spärlichen Spuren des armen lettischen Bahnnetzes.
Wenig überraschend: Der Radweg hört ein paar Kilometer hinter der Stadt auf.
Ebenfalls wenig überraschend, weil es der Fahrradmechaniker in Ventspils angekündigt hat: Baustellen.
Als die Ampel auf Grün schaltete, holperte ich durch eine lange braune Erdwüste und hatte meine liebe Mühe, in nur einer Grünphase das Ende zu erreichen. Dieser Vorgang wiederholte sich dreimal.
Aber sonst war die Strecke heute die bisher beste in Lettland. Immer dieselbe Straße, fast ohne Abbiegen, und diesmal mit so wenig Verkehr, dass ein Radweg echt nicht nötig wäre. Die Straße selbst wird "großzügigster Radweg Lettlands" genannt.
Fast ohne Abbiegen? Nicht ganz - ein paarmal bin ich freiwillig abgebogen. Zum Beispiel auf den ersten Kolonnenweg im Baltikum, der mich ins nächste Lost Place brachte. Hinter den Nadelbäumen erschienen dunkle Kästen mit leeren Augen. Das heißt, eigentlich sind sie aus weißen Steinen gemauert, aber in der Masse wirkten sie trotzdem grau. Block um Block ragte über der Betonstraße auf und starrte mich aus tausenden bröckelnden Fenstern finster an.
An der innerdeutschen Grenze stehen solche Kasernen einzeln verteilt, im Baltikum dagegen konzentrieren sie sich in großen Militärstädten, welche die drei annektierten Sowjetrepubliken unter Kontrolle halten sollten. Diese Städte gab es sogar schon, als Lettland zum ersten Mal unabhängig war: Die Sowjetunion bedrohte die baltischen Staaten, bis sie nachgaben und der Roten Armee erlaubten, 25 000 Soldaten zu stationieren. Natürlich nuur, um sich gemeinsam vor den Nazis zu schützen (mit denen die Sowjets eigentlich dank Hitler-Stalin-Pakt gerade gut Freund waren), und auf keinen Fall, um eine spätere Invasion leichter zu machen.
Große Sperrgebiete umgaben die Militärstädte und blockierten einen nicht unerheblichen Teil des Landes. Die Menschen wanderten ab, und Panzer trainierten in den leeren Dörfern. In anderen Dörfern engagierten sich die Soldaten aber auch im Gemeindeleben oder trainierten die Dorfjungen als Nachwuchs-Grenzsoldaten. Und die Mädchen? It happened often that the fate of young soldiers and local girls were linked together. Joa, so kann man es natürlich auch sagen.
Ventspils hatte zumindest mehr Glück als Liepāja: Die Stadt selbst gehörte nicht zu Sperrzone, denn die Militärstadt stand ein gutes Stück außerhalb in Irbene. Außerdem hinterließen die Sowjets das größte Radioteloskop in Nordeuropa (auch wenn sie es beim Abzug mit Absicht kaputtmachten). Heute steht in Irbene ein Forschungszentrum für Radioastronomie.
Ausgerechnet an diesem beunruhigenden Ort rollten auf einmal zwei Fahrräder vorbei - und an ihren Gepäckträgern hingen dick gefüllte Taschen! Diese Damen waren die allerersten Tourenradler, die ich auf dieser Reise gesehen habe. Und noch viel mehr hardcore drauf als ich, denn sie waren Wochen vor mir in Lübeck gestartet. Und natürlich Deutsche. (Muss ich das extra erwähnen?) Und sie hatten bereits von mir gehört - in Ventspils hatten sie dieselbe Fahrradwerkstatt besucht, wo bereits die Geschichte vom dämlichen Deutschen, der mit einem Schrottrad startete, die Runde machte.
Unter der Straße zog still und träge ein Fluss durch sein grüngelbes Tälchen. Die Irbe fließt lange Zeit parallel zur Ostseeküste, weshalb man dort angeblich beim Paddeln auf weiten Strecken das Meeresrauschen hören soll - unser Pastor hatte mal überlegt, dort eine Paddelreise zu veranstalten.
Der nächste Fluss ist dann auch schon die Grenze zum Slītere-Nationalpark. Der besteht aus Wald und Feuchtgebieten, nur auf 4 Prozent der Fläche wird Landwirtschaft betrieben. Geologisch am ältesten sind die Blue Hills, die ehemalige Küste eines Eissees. Am jüngsten sind die Kangari, das sind lange, parallele Dünen. Im Frühling und Herbst ziehen hier zehntausende Vögel pro Stunde (vö/h) durch, die zwischen Ostsee und Weißem Meer pendeln.
Erste Waldstücke wurden zwar schon 1921 geschützt, aber am meisten zu ihrem Schutz trug versehentlich die Militärstadt Irbene mit ihrem Sperrgebiet bei. Von Ventspils bis Mērsrags (also noch deutlich weiter als der Bereich des Nationalparks) durfte niemand ins Küstengebiet, außer er hatte eine Einladung von einem Bewohner und brachte sie zur Polizeiwache, um einen Besuch zu beantragen.
Im Nationalpark habe ich die Straße zweimal verlassen - das zweite Mal war definitiv ein Muss, das erste Mal, naja, war nicht ganz so definitiv ein Muss. In der neusten Bikeline-Auflage (schon überraschend, dass ein Reiseführer, der auch durch Russland geht, überhaupt noch neu aufgelegt wird) wurde als Alternative ein Bahntrassenradweg eingezeichnet. Der ist etwas näher an der Küste und gehört zu einem 30 Kilometer langen Rundweg durch den Nationalpark. Aber schon der Einstieg war unauffindbar: Wo sich laut analoger
und digitaler Karte der Waldweg befinden sollte, war viel Wald, aber null Weg. Erst an der nächsten Dorfstraße konnte ich auf die Bahntrasse rüberwechseln. Wer hätte gedacht, dass ausgerechnet im Nationalpark mal eine Bahn fuhr?
Es gab sogar ein Fahrradschild.
Aber nicht sonderlich viel Fahrradweg. Stellen Sie sich das bitte nicht vor wie einen Bahnradweg in Deutschland - im Baltikum sind Bahntrassenwege nicht asphaltiert und eher schlechter als normale Radwege. Es war zwar keine Vollkatastrophe wie der Sandgrenzweg ab Šventoji, aber ein paar schlammige Stücke haben schon genervt. Immerhin war ich nah dran an der Natur - endlich mal keine Straße, die mit ihren Kiesstreifen und Wassergräben Abstand zu den Bäumen hält. Links und rechts schluckten schwarze Tümpel das spärliche Sonnenlicht. Nadelbäume und Birken tauchen diesen düsteren Sumpf in Schatten. Bei diesem Wetter war die Landschaft eher bedrückend als beglückend.

Zum Schluss muss die Trasse noch einen Bach überqueren. Keine Ahnung, wie die Bahn das damals gemacht hat, aber wahrscheinlich nicht mithilfe einer von der EU geförderten Holzbrücke, bei der zwei Bretter zerbrochen sind und eins in der Mitte fehlt. Aber gut, die Brücke ist auch von 2013, da entspricht das wohl der üblichen Halbwertzeit von Holzbrücken.
Ein kleines Schild sagt, die Brücke sei Teil der Förderung des
Green Belt - und präsentiert ein Logo zum Grünen Band, das ich in ähnlicher Form sonst nur in der Gegend um Salzwedel gesehen habe. Wahrscheinlich war die Brücke für den Wanderweg am Grünen Band gedacht, denn der Hauptradweg verläuft immer noch nebenan auf der Straße.
Auf diese Straße bin ich dann auch zurückgekehrt. Die ehemalige Bahntrasse knickt hier ab und entfernt sich in völlig unbegehbarer Form von der Küste. Die Alternativroute geht zwar noch weiter, aber viel gezackter und unbahntrassiger. Nee, nee, mein Bedürfnis nach wilden Wege war vorerst gestillt.
Die Straße endete schließlich an einem Kreisverkehr. Ich wollte all seine Ausfahrten der Reihe nach erforschen.
Die linke Ausfahrt brachte mich zu einem Strandzugang mit einer kleinen Heidefläche und einem sehr hohen Aussichtsturm. Aber die Bäume wachsen so dicht und hoch, dass der Blick trotzdem nur bis zum nächstbesten Strandstück reichte. Das könnte einfach irgendeine Stelle an Lettlands Westküste sein. Warum es das eben nicht ist, lässt sich noch nicht erkennen.
Die mittlere Ausfahrt dagegen lässt gleich durchblicken, dass hier irgendwas Besonderes abgeht: Ein großer Parkplatz, ein Imbisshaus, eine Touristinfo und der erste lettische Lavazza-Kaffeeautomat außerhalb einer Großstadt. Natürlich noch alles geschlossen - bis auf den Automaten.
Ein windzerzauster Nadelwald wächst auf den Dünen. Ein Sandweg brachte mich zu einem steinernen Tor...
...und dann ein paar Stufen runter zum Strand. Aus dem Nebel schält sich ein Funkturm. (Lettland ist voll von Funktürmen, manchmal gleich zwei nebeneinander. Irgendwo muss das berühmte gute Internet ja herkommen.)
Es herrschte Stille, nur das Meer gab seine rhythmischen Geräusche von sich. Ich hatte den Touristen-Hotspot ganz und gar für mich und spazierte allein an die Spitze einer Nation. Das ist ein bisschen Nebel und Niesel ja wohl wert.
Die Höhe der Düne ist jetzt nicht gerade rekordverdächtig, aber es muss ja nicht immer eine Steilküste sein. Auch ein 1-Meter-Abgrund genügt anscheinend, um große Bäume zu Fall zu bringen. Außerdem ist dieser Ort sowieso für etwas anderes bekannt.
Und zwar für folgendes:
Der Strand bildet eine Spitze und knickt plötzlich nach Süden ab. Ein paar Meter draußen im Wasser ragt noch ein schiefer Haufen wellenbrechender Steine aus dem Meer. Wellen aus zwei Richtungen zogen heran, trafen zusammen und schwappten dann kreuz und quer durcheinander, völlig verwirrt, wo es denn jetzt hier weitergeht. Nach Süden geht es weiter, jedenfalls für mich! Denn das hier ist Kap Kolka.
Hier trifft die zentrale Ostsee auf die Rigaer Bucht (okay, aber ist ja beides irgendwie Ostsee), und die Spitze ist der nördlichste Punkt von Kurland (okay, also nicht mal von ganz Lettland). Die geographischen Rekorde klingen zwar nicht übermäßig beeindruckend, aber trotzdem ist das Kap sehr bekannt: Wenn man sich Lettlands Umriss auf einer Landkarte anguckt, ist das so ziemlich der auffälligste Punkt.
Eigentlich gehört an so eine Spitze ein Leuchtturm, ich habe aber keinen gesehen: Der alte soll eine Ruine sein, der neue versteckt sich irgendwo draußen im Nebel auf einer Insel.
Jetzt fahre ich also an der Rigaer Bucht, oder, wie eine Texttafel schreibt, an der Little Wave Sea statt der Big Wave Sea. So anders sieht die aber noch nicht aus, eher wie eine Same Height Wave Sea.
Die rechte Ausfahrt im Kreisverkehr brachte mich wieder auf den rechten Ostseeradweg, und erst einmal ins Dorf namens Kolka. Es hat gleich drei Kirchen. Die Protestanten haben wie üblich norddeutsch-bescheiden mit Feldsteinen und einem Rahmen aus Backstein gebaut.
Den Orthodoxen standen dieselben Materialien zur Verfügung, aber sie waren trotzdem bemüht, einen Hauch von Moskau darin anklingen zu lassen.
Die Katholiken aber haben, großer Plottwist, die bescheidenste Kirche der drei - einen Holzschuppen mit Türmchen im Wikingerlook!
Und auch ihre Geschichte zeugt von ungewöhnlichen Pragmatismus: In Kolka gab es eine katholische Gemeinde ohne Kirche, in einem anderen Dorf eine katholische Kirche ohne Gemeinde. Also genehmigte der Bischof, das komplette Bauwerk auseinanderzubauen und zu transportieren.
Vor 8000 Jahren stand das alles hier unter Wasser, die Ostseeküste lag 3 bis 7 Kilometer weiter drin im Land. Dann spülte das Meer langsam eine Insel aus Sand an, die einen Teil des Meeres abschnitt. Eine Lagune war geboren. Als nächstes sank der Meeresspiegel um 1,5 Meter, und die Lagune war wieder gestorben. Von ihr blieben nur ein paar kleine Angelseen und Naturschutzgebiete, und die lockten dann wiederum Menschen (hauptsächlich Angler) an. Die meisten Seen habe ich nicht besucht, nur der kleine Zēņu dīķis mit seinen Holzbrückchen lag ohne Umweg direkt zwischen Straße und Ostsee.
Auch eine anständige Steilküste gibt es noch, und zwar in Ēvaži. Bis auf einen Sandstreifen ist sie von Bäumen und farbenfrohen Moosen bewachsen, und ziemlich hoch. Die Rigaer Bucht sieht inzwischen doch anders aus, das Wasser wird ruhiger und transparenter. Joa,
Little Wave Sea passt. Mit diesem schönen Ausblick verabschiedete ich mich aus dem Slītere-Nationalpark.
Mein Ziel war ein Campingplatz, dessen guter Ruf ihm ebenso vorauseilt wie mir mein Pannen-Ruf. Nicht nur ich hatte auf einem anderen Ostseeblog Gutes von ihm gehört, auch die anderen beiden Radfahrerinnen von heute Vormittag und sogar Störche. Auf dem Platz stehen jede Menge Holzhütten und sogar ein fünf Meter hoher Holzleuchtturm, der wohl allenfalls für Papierschiffe einen nützlichen Orientierungspunkt darstellt.
Etwas ernüchtert war ich dann aber doch, als ich hörte, dass die Saison eigentlich erst morgen startet und wir nur ausnahmsweise schon mal Zelte aufstellen dürfen. Auf der Website hatte es so ausgesehen, als würde der Platz den ganzen Winter hindurch laufen. Der geheizte Bar-Raum war noch zu, und die angeblich inkludierte Sauna nicht in Betrieb, es hätte 25 Euro gekostet, sie anzufeuern.
Dafür juckte es absolut niemanden, wo ich mein Zelt hinstelle. Na denn, dachte ich, und stellte es kurz vor den Strand, gleich neben die Bänke eines Bungalows. Und stellte dann überrascht fest, dass es erst 16 Uhr war. Wat mache ich jetzt mit dem Rest des Tages?
Tee. Viel Tee. Schließlich steht im halboffenen Kochhäuschen ein Wasserkocher. Eine warme Mahlzeit hatte ich mir schon am Kap Kolka gegönnt. Also verbrachte ich den Abend damit, beim Rauschen des Meeres Käseschnecken zu essen, Tee zu trinken und Hans Fallada zu lesen. (Als meine Familie fragte, wie es mir denn ginge, schickte ich einfach dieses Foto mitsamt meiner Abendplanung - die Probleme der letzten Tage gab ich nur stark verkürzt wieder.)
Die Nähe zum Wasser hatte aber auch einen Nachteil - es war kälter als bei den Nächten unter freiem Himmel. Trotzdem hat mir der entspannte Nachmittag anscheinend jede Menge Kraft gegeben für das, was ich am nächsten Tag schaffen sollte.
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