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Freitag, 26. April 2024

Von Pāvilosta nach Labrags

So hatte ich mir die Frühlingsreise nicht vorgestellt. Keine Frühblüher guckten aus dem Schnee, sondern nur komische schlanke Pilze. Es fiel nichts mehr vom Himmel, aber das Land war weitgehend weiß.

Heute bin ich wieder auf eine verkehrsreiche Straße abgebogen - aber zum Glück nicht die A11, sondern eine Nummer kleiner. Bisher das Beste, was es im ländlichen Lettland für Radfahrer gibt.
Auch die Ostsee guckt hin und wieder als blauer Streifen hinter der Wiese hervor (links). Sie zu besuchen, ist aber nicht so einfach. Die Feldwege dorthin sind praktisch alle Privātīpašums, ein Wort, das die Letten oft und gern verwenden. Zum Glück ist privat eines der wenigen Worte im Lettischen, die ich auf Anhieb verstehe. Ansonsten hätte ich die unauffälligen, unverständlichen Schilder einfach ignoriert.
Die Sprache ist für mich die bisher Rätselhafteste an der Ostsee, ganz zufällig ploppen bekannte slawische, skandinavische oder deutsche Wörter aus einem Meer gänzlich unbekannter Vokabeln, welche möglicherweise aus dem Finnischen herunterflossen sind. Nur eine Regel ist absolut klar: Hänges ans möglichsts jedes Worts eins S drans!


Aber ich hatte gerade auch komplett andere Probleme, als Lettisch zu lernen. Mein Fahrrad nämlich. Ich hatte gehofft, dass es noch die 69 Kilometer bis zur Werkstatt in Ventspils durchhält. 16 Kilometer später schmolz diese Hoffnung schneller dahin als der Schnee. Inzwischen rieb sich das Rad nicht nur an seinen Bremsen, sondern auch an allen möglichen Stangen. Ploing. Eine weitere Speiche gab den Geist auf. Ich fühlte mich wie auf einem unartigen Esel, Spaß machte das Fahren schon seit einer Weile nicht mehr, und mein Tempo näherte sich dem einer treibenden Schneeflocke an.
Es half nichts, das hatte so keinen Sinn mehr. Da vorn war eine Bushaltestelle, vielleicht kam ja gleich ein Bus. Labrags heißt das Dorf, so so. Und um 13 Uhr, in wenigen Minuten also, kommt ein Bus, wunderbar. (Vor allem, weil der nächste erst um 20 Uhr gekommen wäre.) Ich stellte mich neben eine Labragserin an die Haltestelle.
Dann kam der Bus, und ich erkannte meinen Fehler. Dieses Fahrzeug war kaum größer als ein Familienauto, eher wie diese kleinen Schulbusse auf dem Land. Ich fragte trotzdem, ob das Fahrrad hineinpassen könnte, aber der Fahrer schüttelte nur den Kopf. Als er davonfuhr, erkannte ich hinten die Tür eines Kofferraums - in diese Zelle werden laut dem aufgeklebten Symbol offenbar Rollstuhlfahrer eingesperrt. Aber mein Rad konnte, wollte oder durfte er dort nicht hineinstopfen.

Labrags besteht aus völlig verstreuten Gehöften und insgesamt drei Flüssen. Einer davon hat eine ganz schöne Holzbrücke, unter der das Wasser hindurchrauscht. Das war so ungefähr die einzige Sehenswürdigkeit auf dieser Etappe, und ich habe sie auch nicht so richtig genossen, während ich fluchend vorbeikroch.

Nach ein paar Metern musste ich absteigen, dieses Rad ließ sich nur noch schieben. Ich stellte das Rad auf den Kiesstreifen zwischen Straße und Straßengraben und versuchte ein weiteres Mal, es irgendwie notdürftig zu flicken, die Bremsen auszuhaken und so aus dem Weg zu schaffen, damit das Rad nicht dagegenkam, aber so hatte es nur noch mehr Spielraum, um gegen andere Teile zu schleifen. (Ich weiß immer noch nicht, was ursprünglich schiefgelaufen ist, in Deutschland fuhr das Rad noch super. Vielleicht haben ich und die deutsche Werkstatt übersehen, dass ein paar Speichen locker saßen, und daraus wurde dann eine Kaskade der Kaputtheit.)
Und dann passierte etwas, das weder ich noch voll ausgebildete Fahrradmechaniker bis dahin für möglich gehalten hatten. Eine Panne so groß und umfassend, dass ein Mechaniker darüber die Hände über dem Kopf zusammenschlagen sollte - und einfach nicht glauben wollte, wie sich ein funktionierendes Fahrrad so schnell in so etwas verwandeln kann.
Die Gangschaltung geriet in die Kette. Eine unvorstellbare Kettenreaktion entstand: Noch bevor ich das Schieben einstellen konnte, zog die Kette das ganze mechanische Gekröse in den Abgrund und riss an allen möglichen Kabeln. Knack! Das Gangschaltungsteil am Lenker zerbrach. Knack! Das Licht brach ab. (Was zur Hölle?) Knirsch! Mein Hinterrad sah aus, als hätte jemand einen Roboter geschlachtet.

Jetzt hatte ich wirklich ein Problem, denn in dem Zustand ließ sich das Rad nicht einmal schieben. Ich saß in Labrags fest. Musste ich hier etwa im Wald auf der Schneedecke zelten?
Nein, ich musste irgendwie nach Ventspils kommen. Ich googelte mit dem tadellosen mobilen Internet und entdeckte zwei Taxiunternehmen in Ventspils. Das erste rief ich an. Sie sprachen so gut wie kein Englisch, und als ich das zweite Mal das Wort "bicycle" erwähnte, legten sie einfach auf. Uff.
Regelmäßig fuhren Autos vorbei, und einige sahen durchaus aus, als würde ein Rad hintenrein oder hintendrauf passen. Aber niemand bot Hilfe an. Wirkte ich bei meinen Reparaturversuchen etwa so, als hätte ich die Situation unter Kontrolle? Nee, oder? Dann waren sie wohl einfach nicht hilfsbereit. Aber vielleicht sollte ich doch eindeutiger signalisieren, dass ich die Situation nicht unter Kontrolle habe.
Mit dem Gedanken Das klappt doch eh nicht hockte ich mich vor meinen Schrotthaufen und starrte resigniert zu Boden.
Quietsch. Augenblicklich hielt ein Wagen an. Auf seine Außenseite waren irgendwelche Mäuse und Ratten geklebt. Der mutmaßliche Kammerjäger stieg aus. Er sprach kein Wort Englisch, wir kommunizierten ausschließlich durch Handgesten und Ortsnamen.
"Ventspils?" Er zeigte in die entsprechende Richtung.
"Yes, Ventspils."
Ohne Umschweife klappte er seinen Kofferraum auf, der vollgestopft war mit einem Gewühl aus Leitern, Eimern und Werkzeug. Beim Versuch, das Rad auf diesen Haufen zu legen, brach auch noch ein Schutzblech ab. Dann brauste er los.

Für eine entspannte Reise gibt es kein besseres Gepäck (außer vielleicht ein intaktes Rad) als den Glauben an das Gute in den meisten Menschen. Das Beste: Wer den vergessen hat einzupacken, findet ihn auch unterwegs.

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