Hier im Norden Liepājas liegt noch ein ganz wichtiger Vorort, der im Prinzip die ganze Stadt veränderte: Karosta. Er ist ein Relikt eines Kalten Kriegs - aber nicht des Kalten Krieges USA gegen Sowjets, sondern von dem davor. Um 1900 war Bismarcks Friedenspolitik schon zerbröselt und die zukünftigen Gegner des Ersten Weltkriegs rüsteten um die Wette, darunter auch Zar Alexander III., der sich vom deutschen Kaiser Wilhelm II. bedroht fühlte, obwohl Wilhelm ein I weniger hinter seinem Namen hatte.
Das Zarenreich hatte sich schon 200 Jahre vorher im Großen Nordischen Krieg große Teile Lettlands gegönnt, und das brachte einen großen Vorteil: Einen sicheren und eisfreien Hafen. (In den historischen Texten auf dieser Reise kommt das Wort eisfrei extrem oft vor, was im Prinzip schon alles über die russischen Winter sagt, was man wissen muss.) Alexander gründete Kara Osta und machte es zum Standort seiner Kriegsflotte. Mit schweren Folgen für Liepāja: Die Stadt war nun abgeriegelt und nur mit Genehmigung zugänglich, sie hatte ein neues Stadtviertel voller russischer Militärs, inklusive drehbarer Klappbrücke, prächtiger orthodoxer Kathedrale, Villen für die Admiräle und einem Schloss für den Zaren, das er insgesamt einmal benutzte. Ach ja, und dem ganzen Militärkram natürlich auch noch. Die Kommunisten machten damit im Großen und Ganzen weiter und stationierten auch noch Atom-U-Boote.

Für Schiffe und U-Boote gab es einen extra Kanal. Damit ist doch nicht dieses kleine Flüsschen gemeint, oder? Tja, auf jeden Fall stehen an seinem Ufer Bunker. Jede Menge Bunker. Noch einer und noch einer und noch einer, eine endlose Kette ragt aus den Hügeln. Erst einmal sahen die noch recht normal aus, nur die Masse war außergewöhnlich.
Aber dann mündet der Kanal ins Meer, und die Bunkerkette trifft auf die Ostsee. Und zwar wortwörtlich. Was die Northern Forts zum wahrscheinlich eindrucksvollsten Lost Place des Baltikums macht.

Der Wind hatte aufgefrischt, Wellen klatschten gegen die Küste und die Überreste der Zarengrenze. 1908 änderte das Zarenreich seine Verteidigungsstrategie, und den Bunkern wurde ihr wichtiger Status entzogen. Als der frühe Kalte Krieg dann tatsächlich in den Ersten Weltkrieg überging, ließ Russland die Anlagen sprengen und die Klippen runterstürzen, damit sie nicht Deutschland in die Hände fallen. Es ist eigentlich nicht zu fassen, dass irgendetwas diese gewaltigen Betonwürfel zertrümmern kann - aber der Zar und die Ostsee kriegen das gemeinsam hin!
Zumindest so halb. Es stehen immer noch jede Menge halbe und ganze Bunker auf der Steilküste herum. Ich konnte über ihre Dächer wandern, zwischen ihnen auf einem Rastplatz frühstücken, sie betreten und nach draußen blicken. Aber nur kurz, denn wirklich sicher ist das nicht.
Brocken, Mauerbögen und Treppen ragen chaotisch aus den wilden Wellen. Es war ein völlig surrealer Anblick und erinnerte mich an Limbus aus dem Film
Inception. Solch eine Faszination übt sonst keine Ruine auf dem Eisernen Vorhang aus.
Tatsächlich stand Liepāja dann am 4. November 1919 wirklich im Zentrum des Kampfgeschehens, aber komplett anders, als sich der Zar das vorgestellt hatte: Die Lettische Republik verteidigte Liepāja gegen Deutsche
und Russen. Also genau genommen die monarchistische Weiße Armee im russischen Bürgerkrieg, die sich mit Deutschland zusammengetan hatte. Die Letten hatten ein Jahr zuvor ihre eigene Republik ausgerufen. Eine Republik, die aber im Osten von Sowjets und im Westen von Deutschen besetzt war.
99 unausgebildete lettische Soldaten mussten Liepāja gegen fünfmal so viele Gegner verteidigen. Und zu allem Überfluss hatten die Deutschen sie auch eiskalt überrascht. Trotzdem kriegten die das hin. Die Infotafel erklärt es mit dem Heroismus der Letten. Da ist sicher was dran, aber die stark ausgebauten Verteidigungsanlagen der Stadt dürften auch eine Rolle gespielt haben.
Aber genug vom Krieg, wenden wir uns nun etwas anderem... oh, jetzt kommt ein Holocaustmahnmal.
Feldsteinmauern strecken sich wie ein kleines Labyrinth in die Ostseedünen von Škede hinein. Sie bilden einen siebenarmigen Menora-Leuchter.
Das Mahnmal erinnert auch an nichtjüdische Letten, die in dieser Zeit Juden geholfen haben - 26 Menschen aus Liepāja erhielten dafür den Ehrentitel Gerechte unter den Völkern, ziemlich viele für eine Stadt. Und es erinnert, allerdings mit deutlich weniger Worten, an andere Letten, die beim Morden mitgemacht haben.
Wurden denn direkt an diesem Strand Menschen ermordet? Ja, erschossen im Dezember 1941. Und wie viele, bestimmt mehrere hunder... 2750?!
Die Ostsee rauscht immer wütender gegen die Dünen, als könnte sie sich noch genau daran erinnern.
Der Umweg zu diesen beiden Orten hat mich viel Zeit gekostet, aber ich bereue nichts.
Diese Strecke bestand wieder aus Dorfpisten, aber etwas bessere als gestern. Mehr zu schaffen machten mir heute mein Rad und das eklige Wetter. Mein Hinterrad hatte so seltsam zu eiern begonnen. An den Bunkern hatte ich versucht, es geradezurichten, aber womöglich hatte ich es irgendwie schlimmer gemacht.
In Ziemupe versteckte ich mich unter einer Schutzhütte am Gutshof. Wenn das Dorf mit seinem "Reichtum" prahlt, meint es damit aber nicht die historischen Gebäude oder die Landwirtschaft, sondern die seltenen Pflanzen am Strand, Naturschutzgebiete, Lettlands drittgrößte Linde und mysteriöse "Steinstapelungen".
Aber es half nichts, ich musste weiter. Ich verdrückte eine Tafel Schokolade und setzte die Reise fort.
Diese Küste ist gesäumt von Leuchttürmen, die unterschiedlich lange Umwege erfordern. Der erste steht in Akmeņraga und erinnert an ein Ofenrohr in abblätterndem Rostrot. Leider haben die Leuchttürme, wie überhaupt ganz viele Sehenswürdigkeiten Lettlands, Montag und Dienstag Ruhetag. Und heute war, mal sehen, Montag. Leider konnte ich keinen einzigen lettischen Leuchtturm betreten.
Ich hatte die meiste Zeit auf dieser Reise Gegenwind, und heute, am dritten Tag, hatte ich mich schon dran gewöhnt.
Bis mir der Wind Regentropfen ins Gesicht klatschte. Das war nicht sehr angenehm. Aber naja, was soll's, dachte ich, es ist ja nur Regen.
Bis aus dem Regen Schnee wurde. Ach du meine Güte. Andererseits: Sind Schneeflocken nicht sogar angenehmer als Regentropfen? Hauptsache, das Zeug bleibt nicht liegen, sagte ich mir.
Bis die ersten Flocken liegenblieben.
Ah, gleich bin ich im Wald. Da ist es bestimmt windgeschützter.
Nee, war es nicht. Die lettischen Waldpisten sehen ziemlich genauso aus wie die Dorfpisten. Eine breite Schneise wurde ins Gehölz geschlagen, links und rechts fließt ein Straßengraben. Eigentlich ist das super, um schnell, ohne unnötige Kurven und holprige Wurzeln voranzukommen. Aber in dem Moment, mit meiner vorgefertigten Vorstellung Wald=weniger Wind, eine echte Enttäuschung.
Es war erst Mittag, als ich über eine Brücke fuhr und in Pāvilosta ankam. Inzwischen brüllte der Wind vom Meer her und presste wild Wellen in den Fluss hinein.
Pāvilosta hieß zur Zeit des Deutschen Ordens noch Paulshafen und soll einen sowjetischen Grenzturm, einen NATO-Wachturm und einen touristischen Aussichtsturm haben. Aber ich hielt es nicht lange genug am Meer aus, um herauszufinden, welcher davon der Turm da drüben war.
Schnell irgendwo rein! Da ist das Heimatmuseum, ist das offen? Ich griff nach der Tür und wurde mit widersprüchlichen Eindrücken konfrontiert.
Einerseits ließ sich die Tür öffnen, andererseits war dahinter alles still, düster und menschenleer. Die Dame jedoch, die verwirrt die Treppe heruntertapste und "Closed" murmelte, sprach eine eindeutige Sprache.
Aber es muss hier doch ein Restaurant geben? Und eine Fahrradwerkstatt bräuchte ich auch. Zum Glück konnte ich alles schnell auf Google Maps nachsehen: Der berühmte Mobilfunkempfang der baltischen Staaten ist wirklich super, wenn man schnell mal nachsehen will, was es im eigenen Umkreis gerade alles nicht gibt. Kein Restaurant, keine Fahrradwerkstatt, kein offenes Museum. Selbst die Hängebrücke über den Fluss war gesperrt, bei dem Wetter vielleicht auch besser so.
Nur auf zwei Sachen kann man sich verlassen, die in fast jedem Nest vorhanden sind: Ein Supermarkt und ein überraschend günstiges Zimmer auf booking.com. In ersterem habe ich mich aufgewärmt und die Taschen aufgefüllt, und letzteres hat mich an dem Tag verdammt nochmal gerettet. Inzwischen war das Wetter zu einem richtigen Schneesturm angewachsen. Erst nachdem ich das Zimmer gebucht hatte, stellte ich fest, dass ich noch einmal quer durchs Dorf und durch eben diesen Sturm kämpfen musste.

Am äußersten Ende von Pāvilosta steht ein Haus voller Zimmer für 30 Euro - ein Grund dafür ist offenbar ein Festival, das hier jedes Jahr stattfindet. Natürlich war kein Schwein da, das lief alles über einen Code, mit dem ich eine Box öffnen musste, die den Schlüssel enthielt. Mit Eisfingern versuchte ich den einzutippen. Aus irgendeinem Grund läuft das bei mir immer so: Ist so was elektrisch, klappt es tadellos, aber ist es mechanisch, gibt's Probleme. Nach einer halben Stunde hatte ich die richtige Tür und die SMS mit dem richtigen Code, trat ins Zimmer und ließ mich aufs Bett fallen.
Woraufhin das Bett zusammenbrach.
Lettische Möbel erfordern eine gewisse Vorsicht. (Als ich mich zum Beispiel in einer anderen Unterkunft auf dem Klo leicht nach rechts neigte, da neigte sich das Klo mit.) Aber dieses Zimmer hatte zum Glück noch ein zweites Bett, das mit ausreichend Behutsamkeit bis zum nächsten Morgen überlebte. 15 Uhr war es erst, und es gibt sogar WLAN, dann kann ich ja mal das Video angucken, das mir jemand auf Whatsapp geschickt ha...
Das Handy rutschte aus meiner Hand und fiel auf meinen Bauch.
Als ich wieder erwachte, war es schon um neun, und die Landschaft, das Piratenschiff draußen im Teich und mein Fahrrad waren unter einen weißen Decke verborgen. Ich auch, nur war meine Decke warm.
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