"Wollt ihr morgen schon nach Riga?", hatte ich die beiden Radfahrerinnen gestern gefragt.
"Nee, nee, wir teilen die Strecke nochmal auf."
"Ich wahrscheinlich auch.", sagte ich, und meinte es auch so. 150 Kilometer waren schließlich noch übrig - so eine Tagesstrecke war ich bisher nur ein einziges Mal (auf dem Bahnradweg Hessen) gefahren.
Dann, am nächsten Morgen, durchfuhr mich unvermittelt wie ein Blitzschlag der Ehrgeiz. Komm, das schaffst du, sprach eine innere Stimme. Ich packte das Zelt ein und raste um 6:50 davon. Zugegeben, die erste Hälfte war auch einfach wie gemacht zum Rasen. Immer dieselbe Küstenstraße, null Komma nullmal Abbiegen. Aber die zweite Hälfte... also, wenn ich bedenke, was ich da gemacht habe, weiß ich echt nicht, wie ich die 150 an dem Tag schaffen konnte.
Grüne Flüsse dümpeln unter der Straße hindurch. Bei diesem hier haben die Menschen vor 150 Jahren seinen Lauf verändert, um Land zu entwässern und mehr Äcker zum Beackern zu kriegen. Auf blauen Schildern stehen die Flussnamen - oder sind es Rezeptvorschläge?
Die Rezeptvorschläge der Bushaltestellen eignen sich höchstens für Geier.
Auf einem Parkplatz habe ich einen Blick auf die Ostsee geworfen, und entdeckte überrascht, dass sie sich verändert hatte. Das ist die erste Steinerne Küste - eigentlich dachte ich, das kommt erst ein paar Tage später. Als Mecklenburger bin ich mit Findlingen und großen Steinen vertraut. Während sie in Mecklenburg herumliegen, als hätte Gott sie mit einem feinen Gewürzstreuer verteilt, hat er an der Steinernen Küste anscheinend den Teil vom Gewürzstreuer benutzt, der einfach nur ein Loch ist. Steine, Steine, Steine, im Wasser, an Land und dazwischen. Es ist das erste Anzeichen, dass sich die Ostseeküste, wie ich sie kenne, zu verwandeln beginnt.
Das Wasser ist ein vollkommen flacher, blauer Spiegel. Eine
No Wave Sea. Was aber auch am Wetter liegen könnte.
In Ķesterciems war ich so fix vorangekommen, als meine Karte sagte, ich sollte die Abkürzung über einen Waldweg nehmen, dachte ich mir: Warum nicht?
Wegen der riesigen Pfützen nicht. Aber naja, ich kam trotzdem ganz gut durch. Zwischen den Bäumen lugte ein mysteriöser weißer Turm hervor. Leuchtturm oder Grenzturm? Wahrscheinlich Leuchtturm, die Grenztürme sind hier doch alle nur Stahlskelette.
Am Ende des Strandwegs wartete dann noch ein Holzweg durch eine schöne Moosdüne. Natürlich ist die Sonne auch ein Vorteil, da sieht die Landschaft gleich viel vorteilhafter aus als gestern.
Der Pinienwald ist 200 Jahre alt, die Dünen von Plienciems sind die größten vom Wind gemachten in ganz Lettland, und in Plienciems wurden die neun größten Schiffe von Kurland gebaut. Solche Besonderheiten lockten prominente Besucher an, und so ließ sich Zarin Katharina die Große extra einen Weg durch die Dünen bauen, um bequemer an ihren Badeplatz zu gelangen.
So. Und dann wollte ich ein weiteres Mal der Karte folgen. Weniger aus Vertrauen, sondern aus Neugier. Denn was der Bikeline jetzt versprach, klang völlig verrückt für jeden, der nur deutschen Strandsand kennt.
36 Kilometer problemloses Radeln auf dem Strand. Nur bei starkem Wind solle man der Alternativroute auf der Straße folgen.
In Swinemünde hatte sich der Radelstrand bereits als Flop herausgestellt. Ich war also mehr als skeptisch, aber das konnte ich mir nicht entgehen lassen. Noch näher am Meer geht es nicht! Womöglich erwartete mich der ostseemäßigste Abschnitt des ganzen Ostseeradwegs. Also habe ich mich auf die Suche nach einem Strandzugang gemacht, kurvte durch ein Dorf hin und her, bis ich hinter einem Hotel eine Rampe entdeckte.
Und dachte bei den ersten Metern direkt: Näh. Was für ein Schwachsinn, der Sand ist doch genau wie ein Deutschland.
Aber dann, näher am Wasser, irgendwo am Übergang von Matsch zu Sand, entdeckte ich plötzlich eine geeignete Spur. Und zwar wortwörtlich: Da waren wirklich Reifenspuren von Fahrrädern im Sand. Und ein Radler kam mir sogar entgegen. Hatte er die 36 Kilometer geschafft oder aufgegeben und umgekehrt?
Ich stieg auf und stellte fest: Ja, es geht. Ich kam voran, nicht sehr schnell, aber auch nicht langsam. Das flache Wasser begleitete mich, und die Hotels wurden abgelöst von einem hübschen kleinen Küstenwald. Nur noch ein moderner Leuchtturm, der scheinbar ausschließlich aus orangen Gitterstäben bestand, guckte aus den Bäumen. Jetzt gab es kein Zurück.
Was ist das nun wieder für ein graues Türmchen? Strandaufsicht oder Grenzturm?
Obwohl gleich neben mir das Objekt meiner Reise sanft an den Sand platschte, fühlte ich mich seltsam abgeschnitten. Keine Ortsschilder, keine Kilometerschilder mehr, kein Wegweiser, die Dörfer waren durch den Wald entweder überhaupt nicht zu erkennen oder nur anhand einzelner Strandvillen. Einziger Bezugspunkt waren die sanften Kurven der Küstenlinie, aber die waren auch nicht so leicht auseinanderzuhalten. Wo war ich? Ohne digitale Karte schwer zu sagen, aber ich wollte ja Akku sparen. Egal, verfahren kann ich mich jedenfalls nicht. (Oh doch, konnte ich.)
Also: Radeln am Strand geht, aber problemlos, nein, Bikelines Definition des Wortes problemlos ist selbst ein Problem.
Auf dem Radelstrand von Apšuciems nach Jūrmala treten selbst bei optimalem Wetter folgende Probleme auf:
- überhaupt erstmal durch den weichen Sand zum festen Sand schieben (und irgendwann wieder zurück)
- die optimale Spur halten (nicht zu weit ins Nasse, nicht zu weit ins Trockene)
- große Äste auf dem Weg
- dicke Reifenspuren irgendwelcher Strandfahrzeuge
- Mündungen. Die waren das größte Problem. Normalerweise suche ich auf Flussradwegen nach ihnen, aber heute gingen sie mir einfach auf den Senkel. Der erste Bach war so flach, dass ich einfach hindurchfahren konnte. Beim ersten größeren Fluss dachte ich: Och, da schiebe ich durch. Schuhe und Strümpfe aus, Lenker greifen und los geht's. Das Wasser war dann doch tiefer als gedacht. Als es meine Pedale umspülte, hoffte ich sehr, dass ich nicht ausrutschen würde. Wenn man meine Taschen unter Wasser taucht, sind sie bestimmt nicht mehr wasserdicht! Aber mein erstes Bad in der baltischen Ostsee ging gut.
Bei der zweiten Mündung dachte ich, ich mache es schlauer und gehe den Umweg, da soll ja kurz hinter dem Strand eine Brücke sein. Der Umweg war ein Trampelpfad, und die Brücke ein extrem schmales Wehr, über das ich mit Fahrradtaschen kaum drüberpasste.
- Als nächstes folgte eine Stelle, an der zwischen spitzen Hecken und Wasser praktisch null Platz für den Strand übrig war.
Ich hatte viel Geduld mit dem Radelstrand bewiesen, aber in dem Moment reichte es mir echt. Nichts wie zurück zur Straße!
Hier hatten sich inzwischen langgestreckte Seebäder ausgebreitet. Rote Holzhütten verkaufen Fisch, aber (wenn ich das richtig verstanden habe) nur in roher oder geräucherter Form, sodass man sich den zu Hause in Ruhe zubereiten muss. Fischbrötchen habe ich nicht entdeckt.
Die Seebäder haben richtige Fahrradwege, mal schmal und im Zickzack um Bäume gewunden, dann wieder breit und mit Fahrradampeln.
Trotzdem wollte ich dem Radelstrand noch eine zweite Chance geben - jetzt sagte schließlich sogar die digitale Karte, dass man darauf fahren kann. Und tatsächlich, diesmal waren die Mündungen zum Teil unter dem Sand in einem Tunnel versteckt. Was aber immer noch heißt, dass ich sie umrunden und jedes Mal durch weichen Sand schieben musste. Der Strand wurde immer breiter, die Algenhaufen zahlreicher, Umkleidekabinen wie in Polen standen herum, die Spaziergänger nahmen zu (ich meine natürlich ihre Anzahl) und aus dem Wald schälen sich wieder Villen.
Ich näherte mich dem berühmtesten Seebad Lettlands! Neben einem gestuften Hotel hebt das historische Kurbadehaus seine grauen Türmchen, als würde es darauf hinweisen, dass es auch noch da ist.
Was den Ventspilsern ihre Kuh, ist den Jurmalern ihre Schildkröte. Wie passend: Das entspricht ungefähr meinem Tempo auf den letzten Kilometern Radelstrand.
Auch nach der Wende gönnten sich die neuen russischen Oligarchen trotz der strengen Visaregeln eine Villa in Jūrmala. Inzwischen dürfte ihre Anzahl nachgelassen haben, aber wichtig aussehende Menschen in Ledermänteln waren immer noch in den Straßen unterwegs. Entspannt wie nach einem Strandtag sahen sie nicht gerade aus, vielmehr schienen sie am Handy ständig überaus wichtige und eilige Dinge zu besprechen.
Noch eiliger haben sie es, sobald sie in ein Auto steigen - so starken Verkehr gab es bisher nirgendwo. Ich fühlte mich nicht gerade wohl dabei, hier durchzufahren, aber zum Glück konnte ich bald abbiegen, auf Grün warten und die Gleise im Drängelgitter überqueren. Sogar die Bahn zischt hier andauernd durch.
Die Rückseite Jūrmalas ist dann wieder überraschend angenehm. Ein paar sympathischere Reiche haben sich Waldvillen direkt am Radweg gegönnt.
Im Abendrot überquerte ich die Lielupe neben Lettlands größtem Wasserpark. Der Fluss vermischt sich irgendwann mit der großen Daugava und mündet in die Ostsee, aber dort kommt man nicht rüber - keine Brücke, keine Fähre, und Durchschieben wäre da definitiv keine gute Idee.
Und mal im Ernst, praktisch jeder Radler will doch eh durch Rīga fahren - also entfernt sich der Ostseeradweg auf den nächsten 16 Kilometern ein Stück von der Ostsee. Die Einfahrt in die Hauptstadt ist relativ angenehm. Die meiste Zeit bin ich den Gleisen gefolgt, während der Asphalt immer heiler wurde.
Im Stadtgebiet war der Weg dann etwas verwinkelter und baustelliger, aber irgendwann bin ich an der Daugava herausgekommen.
Es heißt, Lettland habe keine einzige Insel. Dabei stimmt das gar nicht: Inseln können schließlich auch in Flüssen liegen. In Lettlands längstem Fluss liegt eine sehr moderne Insel namens Kipsala. (Jedenfalls heißt der Stadtteil darauf so.)
Ziemlich futuristisch kommt übrigens auch die Nationalbibliothek daher - als wäre ein sehr belesenes Raumschiff am Flussufer gelandet.
Über Kipsala bin ich der großen Brücke gefolgt, und erst jetzt konnte ich die Skyline der Altstadt sehen. Das ist also das "Paris des Ostens", in dem die Hälfte aller Letten lebt.
Das Weiße links ist die Festung von Rīga, wo der Präsident sitzt, daneben folgen die Kirchen.
Die große Petrikirche könnte, vom Namen bis zu den Ziegelsteinen, so auch aus Norddeutschland stehen - bis auf den ungewöhnlichen achteckigen Turm vielleicht.
Die Architektur passt damit zur Religion, denn Lettland hat sich mit eigenen Predigern den Protestantismus von Martin Luther importiert, welcher in der Kirche auch sein eigenes großes Porträt hat. Oben hängt eine goldene Uhr dänischer Art, und die Sowjets steuerten einen Aufzug bei.
Was den Ventspilsern ihre Kuh und den Jurmalern ihre Schildkröte ist, ist den Rigaern ein... Gürteltier?
Am exotischsten ist aus westlicher Sicht aber sicherlich die orthodoxe Kirche. Schon von außen sieht die Wiedergeburtskathedrale mit den roten Streifen und Goldkuppel teuer aus, aber von innen glänzt sie erst richtig los. Da wurde alles vergoldet, was nicht bei drei auf der Säule war. Als ich in den Vorraum hineinschaute, fand gerade irgendein Gottesdienst statt und der Priester beräucherte fleißig all die Menschen und das Gold. Da wollte ich nicht weiter stören und ging wieder raus. (Dieser Vorgang wiederholte sich im Prinzip bei allen orthodoxen Kathedralen, an denen ich auf der Reise vorbeigekommen bin. Da ist immer irgendwas los.)

Egal, Kirchen sind eh nicht das, wofür Rīga am bekanntesten ist. Rīga ist eine Handelsstadt. Die Kaufleute handelten dermaßen fleißig, dass ein paar von ihnen keine Zeit zum Heiraten hatten, und aus irgendeinem Grund bekam ihr Kopf dadurch eine andere Farbe. Zumindest nannte man die unverheirateten jungen Kaufmänner Schwarzhäupter. Die schlossen sich zu einer Bruderschaft zusammen und trafen sich im Schwarzhäupterhaus.
Wahrscheinlich schmiedeten sie schon damals den Plan, wie sie ihr Haus so schick ausbauen konnten, dass es zum Symbol schlechthin für Rīga wurde, so wie der Eiffelturm für Paris, die Freiheitsstatue für New York City oder der Kletterphallus für Bad Segeberg. Noch mehr Bögen! Noch mehr Statuen! Und, ach was soll's, nehmt den Namen einfach wortwörtlich und pinselt einen schwarzen Mann vornedrauf. Sympathisch finde ich, dass sie nicht so was Angeberisches wie GEBAUT FÜR DIE EWIGKEIT draufschrieben, sondern realistisch blieben. Das Haus bittet ganz höflich: Sollt' ich einmal fallen nieder, so erbauet mich doch wieder. Was 1999 auch erfüllt wurde, nachdem die Nazis es beschossen und die Sowjets gesprengt hatten.
Nicht alle Kaufleute waren so sozial. Herr Palme wurde von beiden Gilden abgelehnt. Er baute sein eigenes Haus und stellte auf die Ecktürme Katzen, die ihren Buckel zeigt. Als Zeichen, dass ihm alle mal am, also, den Buckel runterrutschen konnten. Damals war das Katzenhaus wahrscheinlich der Gipfel der Unverschämtheit, heute würden die Leute den Diss wahrscheinlich nicht mal kapieren und nur reagieren mit: "Och wie süß, ne Katze!"
Rīga ist wie bereits Liepāja eine breite, prachtvolle Jugendstil-Stadt. Wenn die Stadt trotzdem versucht, mittelalterliche Gässchen zu bilden, sieht das ungefähr so aus. Die Häuser sind bunt und süß, aber so richtig, richtig eng wird es meistens nicht.
Im Zentrum steht eine leicht bedröppelte Version der Bremer Stadtmusikanten. Denn Bischof Albert von Buxhoeveden, der die Stadt gegründet hat, war ein waschechter Bremer. Während sich Handel und Kirche an der Weser öfter zofften, bekam es der Bischof hier draußen in der Kolonie ganz gut hin, die Macht friedlich mit dem Rat der Kaufleute zu teilen. Und hatte offensichtlich Heimweh, oder er wollte sich einfach nicht an den Grundriss einer anderen Stadt gewöhnen, denn das Zentrum von Rīga ist ganz ähnlich aufgebaut wie Bremen: Am gewundenen Fluss beginnt eine halbkreisförmige Altstadt, gesäumt von einer schlichten Uferpromenade, und links und rechts flankiert von größeren Straßen und Brücken.

Auf der anderen Seite begrenzt ein Halbkreis aus Wallanlagen die Altstadt, der Graben geht im Zickzack hin und her. Hier lässt es sich auch schön Radfahren, wenn man bereit ist, öfter mal für Gruppen an Spaziergängern abzusteigen. Am prächtigsten sieht der Stadtwall beim Springbrunnen vor der Nationaloper aus.
Dahinter beginnt das hohe, nicht mehr ganz so historische Zentrum, und dahinter kommt irgendwo der Bahnhof. Sehen Sie? Bremer werden sich hier ganz automatisch zurechtfinden.
Das Freiheitsdenkmal wurde 1935 von Volksspenden in die Wallanlagen gebaut und erinnert an die Unabhängigkeit der Ersten Republik. Die Sowjets haben es überraschenderweise stehengelassen. Auf der Säule zeigt eine Frau drei Sterne für die drei historischen Regionen Lettlands (Livland, Kurland, Lettgalen). Auf dem leeren Platz drumherum marschieren sogar bunt uniformierte Wächter im strengen Stechschritt auf und ab - ich dachte, solch eine Show gibt es nur in Monarchien.
So, was werde ich mir in Rīga noch ansehen? Die kleinen Museen waren bisher auf der Reise ja ziemlich verschlossen, vielleicht ist es Zeit für so ein großes Hightech-Riesenmuseum wie das Solidarność-Zentrum in Danzig. Gleich neben dem Schwarzhäupterhaus wurde ein dicker grauer Quader als Okkupationsmuseum platziert. Das Labyrinth aus Gitterwänden darin erzählt Lettlands Geschichte im 20. Jahrhundert, in der kein Mangel an Gittern herrschte. Ganz so anschaulich wie das Museum in Danzig ist es zwar nicht, aber auch ganz ordentlich gemacht. Schon die Preisliste ist ein Statement: Politisch Unterdrückte und Ukrainer kommen gratis rein.
Ein Beamer wirft die Artikel der Verfassung nach dem Ersten Weltkrieg an die Wand. Sie sind auffallend kurz und bündig. Schon Präsident Kārlis Ulmanis setzte sie 1934 außer Kraft und regierte autokratisch weiter (was die Letten aber nicht soo störte, denn der Wohlstand stieg), aber weder er noch die Sowjets schafften sie endgültig ab. Also holte Lettland (ganz anders als Deutschland oder Polen) 1991 einfach die alte Verfassung wieder aus der Schublade, passte sie an - und wählte Ulmanis' Großneffen zum neuen Präsidenten.
Was unterscheidet Lettland sonst noch von Westpolen oder Ostdeutschland?
Erst einmal, dass sie gleich dreimal überrannt wurden: Stalin, Hitler und noch mal Stalin. Und beide Seiten zwangen Letten in ihre Armee, um auf ihre Landsleute zu schießen. Ulmanis kapitulierte angesichts der sowjetischen Übermacht. Viele Letten fanden Stalin dann aber so schlimm, dass sie Deutschland als Befreier herbeisehnten und die Deutschen überzeugen wollten, ihnen wieder Unabhängigkeit zu geben. Diesen Irrtum erkannten sie relativ schnell. Kein Wunder, dass ihnen die Enthüllung des Hitler-Stalin-Pakts sehr wichtig war - dieses kleine Blatt Papier, das die Welt in den Abgrund stürzte, bildet quasi das Zentrum des Museums.
Zweitens machten die Sowjets Lettland nicht zu einem Satellitenstaat, sondern direkt zu einem Teil ihres Staates (wenn auch auf dem Papier mit ein bisschen föderaler Selbstständigkeit). Wahrscheinlich, weil es vor nicht allzu langer Zeit ja schon mal zum Zarenreich gehört hatte. Die Unterdrückung war dadurch eher noch heftiger. Vor allem legte Stalin großen Wert darauf, Menschen zu bewegen. Russen rein nach Lettland, Letten raus nach Russland - das erschien ihm als der beste Weg, um die Idee eines unabhängigen Lettlands möglichst schnell im Schnee zu verwirbeln. Wer möglicherweise irgendetwas Verbotenes gemacht hatte, kam in die gefürchteten Gulags nach Sibirien. Ein Holzturm, Kreidezahlen an den Wänden und ein Beamer, der marschierende Menschen im Schneegestöber an die Wand wirft, versuchen darzustellen, wie es dort aussah, aber so richtig konnte ich es mir in dem wohltemperierten Raum nicht vorstellen. Wer nicht zu den zuverlässigsten Genossen zählte, ohne dass man ihm etwas Verbotenes unterschieben konnte, der bekam eventuell die mildere Variante der Deportation: Zwangsumsiedlung auf einen Bauernhof am eisigen Hinterteil Russlands, den er ab jetzt zu bewirtschaften hatte. Unter Chruschtschow durften die ersten Umgesiedelten zurückkehren, falls sie wollten. Obdachlos und entfremdet von einem Heimatland, das sich dramatisch verändert hatte.

Wie wehrt man sich gegen solch ein Regime?
Strategie Nummer 1, mit der Armee gegen die Invasion kämpfen, scheiterte.
Strategie Nummer 2, als Partisanen im Wald versteckt weiterkämpfen, hatte etwas länger Bestand. Im Bild sind ein Fahrradsattel, ein Fahrradschlauch und andere Gegenstände der Waldbrüder zu sehen. Ansonsten wird dieser Teil der Geschichte durch Lederstreifen in Tarnfarben, die von der Decke hängen, dargestellt. Ihre Hoffnung war, dass es eh bald zu einem direkten Krieg von West gegen Ost kommt. Polizisten, Förster und Lehrer organisierten den Widerstand, wechselten oft den Standort, lebten in getarnten Bunkern, sabotierten und griffen aus dem Hinterhalt an. Sie passten sich an die sowjetische Brutalität an und töteten irgendwann sogar Familienangehörige von Parteikadern. 1953 waren sie fast ausgelöscht - da starb Stalin, und den letzten Waldbrüdern wurde Amnestie angeboten.
Strategie Nummer 3, in die ganze Welt auswandern und dort lettische Traditionen pflegen, war da schon erfolgreicher, um die Idee eines lettischen Nationalstaats einzutuppern für bessere Zeiten.
Damit auch die Kinder mitkommen, hatten die Museumspädagogen eine eigenartige Idee: Ein lettischer Teddybär namens Mike, der einem Teddy aus dem Gepäck eines deportierten Mädchens nachempfunden ist, durchlebt alle Epochen und Strategien gleichzeitig. Mike lebt glücklich in der erste Republik, Mike kämpft im Zweiten Weltkrieg, Mike wird als Oppositioneller inhaftiert, Mike kämpft mit den Waldbrüdern, Mike reist ins Exil (wie auch immer der das alles gleichzeitig gemacht hat)... in orangen Kästen wird der Bär in jeder Szene platziert, aber immer nur mit einem knappen Satz darunter, der für ein Kind wahrscheinlich mehr Fragen aufwirft als beantwortet.
Strategie Nummer 4, der klassische gewaltfreie Widerstand, verbotene Bücher verstecken und heimlich Westradio hören, existierte auch hier.
Den Erfolg brachte aber Strategie Nummer 5: Singen und Händchenhalten.
Als das Sowjetsystem schwächelte, mit Gorbatschow der Druck von Osten nachließ und sich ein Zeitfenster für die Unabhängigkeit öffnete, da begann die Singende Revolution.
Alle Balten fassten sich an den Händen und bildeten eine Kette zwischen ihren drei Hauptstadt-Parlamenten, von Tallinn bis Vilnius. Es war die längste Menschenkette, die es je auf diesem Planeten gab, und ihre Mitte kam hier vorbei - an der Saeima, einem Parlament, das aussieht wie ein hellbraunes Gymnasium, ursprünglich als Haus der livländischen Ritterschaft gebaut wurde und dessen Fenster gerade, als ich vorbeikam, mit extralangen Stangen geputzt wurden. Am 4. Mai 1990 erklärte der Rat der Lettischen Sowjetrepublik hier seine Unabhängigkeit.
Gorbatschow wollte aber noch nicht aufgeben und schickte Truppen zu den wichtigsten Stationen in Vilnius und Riga (Tallinn hatte er anscheinend vergessen): Parlamente (um zu regieren) und Fernsehstationen (denn wenn die Leute nicht wissen, dass man die Regierungsmacht hat, hat man sie ja eigentlich auch nicht wirklich). Die Letten bauten Barrikaden und stellten sich unbewaffnet in den Weg. Und Gorbatschow sah ein, dass er die nicht alle niederschießen konnte - das brächte halt wirklich schlechte Schlagzeilen. Dafür war die Menschenkette sehr nützlich gewesen, sie hatte die Augen und Kameras der Welt auf die drei kleinen Staaten gelenkt. Aber erst mit der Auflösung der Sowjetunion ein Jahr später gestand Russland offiziell ein, dass das Land nicht mehr ihres war.

Rīga ist also eine schöne Stadt mit faszinierender Geschichte, nur irgendwie... erwischen ich und Rīga uns immer auf dem falschen Fuß. Schon mein erster Besuch in der Stadt lief nicht wie vorgestellt. Und der zweite... auch nicht.
Weil ich nicht wusste, ob ich es wirklich schaffe, habe ich erst spät und eilig ein Zimmer gebucht. Mit Frühstück, und so günstig? Super. Gegen 22:45 Uhr kam ich dann in der Merķeļa iela (ja, das heißt Merkelstraße - ob denselbe Professor Merkel wie in der Göttinger Merkelstraße gemeint ist?) an, und zwar mit ordentlich Hunger. Ich dachte, in der Hauptstadt wird es um die Zeit ja wohl noch einen Döner oder so geben. Aber das einzige, das um die Zeit noch lebte, war ein McDonalds. Dieser hatte McBöseBlicke im Angebot für alle, die sich erdreisten, kurz vor Feierabend noch etwas zu bestellen.
Das Hostel ein paar Stockwerke darüber erwies sich als eine ziemlich abgeranzte Miefbude, tapeziert mit Rauchverbotszetteln, die mich umso skeptischer machten, ob dieses Verbot in der Vergangenheit eingehalten worden war. Wohlweislich hatte schon jemand das Fenster im Zimmer geöffnet, wodurch der Geruch erträglicher wurde, aber der volle Verkehrslärm der Merkelstraße eindrang.
Nur bedingt erholt fragte ich am nächsten Morgen nach dem Frühstücksbuffet. 9:30, hieß es zuerst. Um 9:45 waren dann endlich alle unten abgebildeten Lebensmittel erfolgreich aufgestellt.
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