Also dann, heute kommt die zweitgrößte Insel an die Reihe! Während Saaremaa auf der Karte einfach aussieht wie ein riesiger Mikrororganismus, hat Hiiumaa die Form eines Kreuzes. Und von dem will ich heute drei Viertel umrunden. Als erstes bin ich das südliche Ende des Kreuzes hochgefahren. Das ging, dem Wunder des Nicht-Abbiegens sei dank, total fix. Geradeaus, Wiese, sumpfiger Birkenwald, trockener Nadelwald, zack, fertig.
Und selbst da kam ich mir vor wie ein Eindringling, als sich der Weg in einen Waldpfad auflöste, der ganz dicht an einer Strandvilla vorbeistrich. Aber er brachte mich tatsächlich zu einer ziemlich wilden Steinernen Küste. Die nächste Strandvilla hält ordentlich Abstand, hat ein Reetdach und einen Badesteg.
Es ist Zeit, dass ich endlich mal einen Leuchtturm des Baltikums besteige, und der von Kõpu ist etwas ganz Besonderes. Denn dieser weiße Riese (nicht das Waschpulver) ist alt. Es ist der drittälteste Leuchtturm auf diesem Planeten. Schon um 1490 wollte die Hanse hier einen haben, denn ein Riff namens Hiiu Madal hatte viele ihrer Schiffe aufgeschlitzt.
Erstmal wurde nur der untere Teil gebaut, und der leuchtete anfangs auch nicht, sondern war einfach durch seine Anwesenheit ein Wegweiser. Jedenfalls tagsüber. Er war auch noch nicht weiß, die Farbe kam erst 1805 dazu. (Also nicht unbedingt die aktuelle Farbe, die ist von 2012.) Der Turm brauchte diese vier komischen Dreiecke an der Seite, damit er überhaupt stand. Mit denen stand er dann aber richtig fest. So fest, dass ihm nicht mal 400 Jahre später deutsche Bomben etwas anhaben konnten - also Waffen, die zur Zeit seiner Erbauung so unmöglich klangen wie für uns das Zeitreisen.
Damit die Hanseefahrer auch nachts um Kõpu segeln konnten, kletterten ab 1649 Feuerwächter außen an Leitern hoch, zogen mit Seilen Feuerholz herauf und warfen es in die Mitte, wo das große Feuer brannte.
Obwohl er so alt war, war der Leuchtturm immer mal wieder für eine Innovation gut, zum Beispiel kriegte er eine Gas-Petroleum-Lampe von der Weltausstellung 1900 in Paris. Seit 1946 leuchtet er elektrisch mit Batterie und Generator, seit 1963 direkt aus der Stromleitung und seit 1996 vollautomatisch.
Als ich dann ganz oben rauskam, wurde der Turm wieder ungewöhnlich. Ganz nach oben zum Licht konnte ich nicht, auch wenn ich es schon von unten sehen konnte. Stattdessen wurde ich als Tourist auf ein breites, schwarzes Rechteck aus Blech geschickt, das in der Sonne rasch wärmer wurde und auf dem mich der Wind fast umwarf. Wäre da kein Geländer, hätte ich gedacht, ich sei einfach aus Versehen und verbotenerweise auf dem Dach gelandet.
Zwei Funktürme leisten dem Leuchtturm inzwischen Gesellschaft, und eine kleine Insel an Gebäuden. Ansonsten: Ein grünes Meer, das in einer schnurgeraden Linie vom blauen Meer abgelöst wird. Ein bisschen wie auf dem polnischen Leuchtturm von Stiło.
Wenn ich schon mal da bin, kann ich ja auch ein bisschen mehr von Kõpu ansehen. Aber erstmal Essen! Mit den Fertiggerichten war ich erstmal fertig, heute nahm ich mir etwas mehr Zeit und schnippelte Gemüse.
Dann nahm ich mir noch mehr Zeit und stieg die Treppe hinauf ins Naturschutzgebiet. Hier verbargen sich nämlich zwei Hügel mit hölzernen Aussichtstürmen, der Rebastemägi (Fuchshügel) und Kaplimägli (Kapellenhügel).
Vor 10 000 Jahren schmolz hier ein Gletschersee, und zum Vorschein kam eine einsame Insel - damals war Kõpu noch nicht mit dem Rest Hiiumaas verbunden, und das Wasser war viel näher. Der scharfe Wind türmte über Jahrtausende erstaunliche Dünen auf.
Auf dem Kaplimägi soll mal eine Kirche gestanden haben. Angeblich war der Vikar so dick, dass er auf dem Weg zum Gottesdienst ordentlich ins Keuchen kam, und deswegen brannte sie der nicht ganz so gottesfürchtige Diener Gottes eines Tages frustriert nieder. Der Hügel soll auch als Standort für den Leuchtturm diskutiert worden sein, wovon eine erste Mauer (die ich aber nicht gesehen habe) zeugt.
Es soll hier mal eine Festung gegeben haben, von der nach feindlichen Schiffen gespäht wurde. Hm. Muss eine echt große Festung gewesen sein. Die Bäume überragen die beiden Aussichtsplattformen um Längen, sodass nicht sonderlich viel Aussicht da ist.
Nein, das echte Highlight ist der Wald selbst, mit dessen Holz St. Petersburg zusammengezimmert wurde. Es ist natürlich längst alles nachgewachsen und geschützt. Und so schön, dass ich spontan den ganzen Foxhill Study Trail gelaufen bin. Dabei hatte ich nun echt nicht vor, dermaßen viel Zeit hier zu verbringen, aber gegen die Magie dieses Waldes war ich machtlos.
Die Pinien hier wurden vor 70 Jahren nach einem Waldbrand gepflanzt. Heide wächst hier nicht, obwohl der Boden trocken und sandig ist. Die langen Dünenstreifen bilden tiefe Täler, und die alten Straßen da unten gehören längst völlig den Tieren und Pflanzen. Weiter oben am Rande des Abhangs wandert es sich eh am schönsten.
Auch Hiiumaa blühte in voller Pracht, aber nicht weiß-gelb, sondern blau-violett. Diese kleinen blauen Pünktchen nennen sich Blausternchen und schießen sogar in den schattigsten Ecken des Waldes aus der Erde.
So, danach wollte ich eine Abkürzung von Kõpu runter nehmen und geriet prompt auf eine miese Kiespiste - ja, okay, ich sehe es ein, es hatte seinen Grund, warum die Karte mir genau denselben Weg wie auf dem Hinweg empfohlen hat.
Die restliche Strecke um die nordwestliche Ecke Hiiumaas ging aber ziemlich flott, es gab sogar einen eigenen Radweg mit eigener Brücke über den Fluss von Kõrgessare.
500 Jahre lang lebten und saunierten Estnische Schweden auf Hiiumaa. Wer wissen will, was aus ihnen wurde, findet die Antwort ganz unten auf dem Tahkuna-Finger, neben der Hauptstraße.
Am 20. August 1781 hielten sie hier einen letzten Gottesdienst ab. Aus Gründen, die wohl nur sie selbst so richtig kapierte, hatte Katharina II. entschieden, dass die Schweden mitten im kalten Winter in die Südukraine umziehen sollten. Zum Abschied stellte jeder estnische Schwede ein Kreuz auf diese Hügel. Das Ergebnis war Ristimägi, der Hügel der Kreuze (nicht zu verwechseln mit dem größeren Berg der Kreuze in Litauens Hauptstadt). Die Sowjets erlaubten ihnen später, aus der Ukraine nach Schweden zurückzukehren, und so endete die Reise von einigen auf der gegenüberliegenden Seite der Ostsee, auf Gotland.
Naja, es gibt noch eine zweite, ziemlich bescheuerte Legende über Ristimägis Usprung: An dieser Stelle sind sich zwei Hochzeitszüge begegnet, und weil sie einander keine Vorfahrt gewähren wollten, gab es eine heftige Schlägerei. Jeweils eine Braut und ein Bräutigam starben, die beiden übriggebliebenen heirateten angeblich später. Ende. Ja, so habe ich auch geguckt.
Ein paar stabile Kreuze aus Metall stehen sozusagen als Basis herum, damit auf jeden Fall ein paar Kreuze Wind und Wetter widerstehen. Aber sie sind kaum zu erkennen unter einer Flut aus annähernd kreuzförmigen Stöckern (das auf dem Foto ist bei Weitem nicht alles). Ob da noch irgendein Kreuz der ursprünglichen Schweden druntersteckt? Schwer zu sagen, denn inzwischen ist es Brauch, dass jeder Besucher selbst ein Kreuz bastelt und hinterlässt. Das soll Glück und/oder einen neuen Partner bringen. Damit die Natur aber nicht mit Plastik zugekreuzt wird und das Ganze zu einer kleinen Challenge wird, darf man nur Naturmaterialien nutzen.
Viele haben es sich ganz einfach gemacht, und zwei gekreuzte Stöcker auf den Boden gelegt. Ja, okay, streng genommen hat keiner gesagt, dass das Kreuz stehen muss - aber das ist nun doch ein bisschen zu simpel. Zumal diese Stolperfallen mitten auf dem Weg sicher keine große Halbwertzeit haben. Andere waren geschickt und haben ihr Holz irgendwie mit Gras und Blättern verknotet, doch das wollte bei mir nicht so recht klappen. Da fiel mir eine ideale Lösung ein: Ich muss nur einen Stock mit zwei Astgabeln finden, die so günstig liegen, dass ich den zweiten Stock dahinterklemmen kann.
Der Beobachtungsturm musste nachträglich um ein Stockwerk aufgestockt werden, weil die verdammten Bäume gewachsen waren - Russland war ebenfalls im Kalten Krieg mit dem Wald. Die großen Batterietürme konnten 25 Kilometer weit schießen. Sie waren aber schon nach dem Zweiten Weltkrieg zu großen Teilen explodiert, mit Wasser geflutet oder einfach Schrott, der zu Altmetall zerschnippelt wurde. Offenbar glaubten die Sowjets doch nicht so sehr an einen Krieg mit der Nato, dass es ihnen die Mühe wert war, sie wieder aufzubauen.
Überall gehen Betontunnel in die moosbedeckten Hügel hinein.
Wenn ich schon so weit oben bin, dachte ich, dann fahre ich auch noch die letzten Meter bis zur Sackgasse. Der Leuchtturm wurde 1874 in Frankreich gebaut, keine Ahnung, wie die den dann hierher gekriegt haben. An seinem Fuß kapitulierten im Oktober 1941 die letzten sowjetischen Soldaten der Insel. Nun hielt am Fuß gerade ein Reisebus, aus dem die Touristen drängen. Dabei ist das Kap Tahkuna eigentlich nicht soo spektakulär. Die Küste ist flach und steinig, der Leuchtturm geschlossen.
Folgendes konnte ich nicht sehen, weil es sich in viel zu großen Maßstäben abspielt: Ungefähr hier teilt sich die Ostsee. Im Norden hat sie nicht ein Ende, sondern zwei, und zur großen Freude aller pubertären Witzbolde heißen sie Meerbusen. Hier geht der Finnische Meerbusen los, der kürzere von beiden. Der Name ergibt nicht wirklich Sinn, denn der Bottnische Meerbusen hat eine viel längere finnische Küste als der Finnische.
Trotzdem liegt ab jetzt Finnland auf der gegenüberliegenden Seite. Ein estnisches Paar soll auf der Flucht aus der Sowjetunion einmal komplett nach drüben geschwommen sein. Für die meisten war Finnland aber abschreckend, denn es hatte ein Auslieferungsabkommen mit den Sowjets. Wenn Esten in Booten ankamen, fragten sie direkt, ob sie in Schweden und Finnland waren. War die Antwort Finnland: Nix wie weiter Richtung Westen. War die Antwort Schweden: Erstmal ausruhen, aber dann trotzdem lieber weiter Richtung Westen, nach Norwegen oder Amerika, wer weiß schon, ob die Schweden nicht auch noch so ein Abkommen schließen.
Eine Sache haben die DDR und Estland unter allen Ostblockstaaten gemeinsam: Quer über den Meerbusen konnte man finnisches Westfernsehen empfangen. Das hatte Folgen. Einem anderen Ostseeblog zufolge unterschieden sich die baltischen Sowjetrepubliken stark: Litauen platzierte seine Landsleute in die Partei, um Investitionen ins Land zu holen, Lettland duldete die Herrschaft am passivsten, Estland aber blieb am westlichsten orientiert.
1994 fuhr hier die die Fähre Estonia, die die Meyerwerften in Papenburg für die Strecke Tallinn - Stockholm gebaut hatten. Ein Sturm riss das Visier (also diesen Teil, der vorne aufklappt) auf, und Wasser flutete das Autodeck. 989 Passagiere fuhren mit, und 852 davon (aus 70 Ländern) kamen ums Leben. Die Gesichter auf der Glocke sollen besonders an die verstorbenen Kinder erinnern. 852! Das klingt nach der Titanic und nicht nach den 90ern! Ich war verstört. Von all den Tragödien, deren Spuren ich an der Ostsee begegnet bin, ist das für mich die lebensnächste, immerhin sind die Fähren heute grundsätzlich immer noch so aufgebaut. Ich dachte, seit der Titanic seien die Schiffe alle gut für Notfälle ausgerüstet?!
Kärdla wurde in die Grube eines Meteoriten gebaut, der vor 400 Millionen Jahren von Hiiumaa angezogen wurde - irgendwas macht diese Inseln unwiderstehlich für kosmische Geschosse (die von Kaali und Kärdla sind bei Weitem nicht die einzigen).
Am Fluss ragt ein Fabrikschornstein auf. Robert von Ungern-Sternberg hat hier 1830 eine Tuchfabrik gebaut. Die Sowjets machten ein Kraftwerk draus und holten sich acht Dieselgeneratoren, einen davon von Škoda aus Tschechien. Nicht gerade nachhaltig, aber für die Arbeiter gab es immerhin ein eigenes Gebäude, um ihre Fahrräder unterzustellen. Erst 1977 bekam Hiiumaa einen normalen Stromanschluss über ein Unterwasserkabel von Saaremaa.
Im weißen Gebäudekomplex steckt das Inselmuseum, und joa, diese Stelle ist im Prinzip auch schon das Highlight von Kärdla. Oder?
Rund um die Finger spalten sich immer mehr kleine Inselchen ab. Außer den drei großen gehören noch etwa 500 Mini-Inselchen zu den Moonsund-Inseln.
Unvermeidlich ist natürlich, dass ich auf den Inseln auch mal auf einen Flughafen treffe. Dafür, dass ich noch nie auf eine Insel geflogen bin, habe ich schon echt viele Insel-Flughäfchen gesehen. Der Radweg macht eine komplizierte Schleife um den Hiiumaa-Flughafen, dann geht es verwinkelt weiter durch Wälder und Dörfer.
Diese Windmühle macht einen genickten Eindruck. Sie ist traurig, weil sie nur noch zwei halbe Flügel hat.
Als ich keine Lust mehr auf Zickzack hatte, bin ich auf die Hauptstraße nach Suuremõisa abgebogen. Das ist quasi die ehemalige Inselhauptstadt, denn im Herrenhaus herrschte einst die Familie Stenbock, der die ganze Insel als Privatbesitz gehörte. Auch die Ungern-Sternbergs (die mit der Fabrik in Kärdla) lebten hier zwischenzeitlich.
Die heutige Version des Hauses hat Gräfin Ebba-Margaretha Stenbock 1760 mit einem Vorarbeiter namens Peter Opel (keine Ahnung, ob dessen Nachkommen Autos gebaut haben) bauen lassen, als der Familie nicht mehr die komplette Insel gehörte. Seit 1920 ist das Ding eine Schule, wobei so gut wie jede existierende Schulform darin ausprobiert wurde.
Das Gut ist ebenso gut erhalten wie die Kirche, die älteste der ganzen Insel. Nur die holländische Windmühle liegt in Trümmern.
Der Besitz der Familie Stenbock ist von der kompletten Insel auf ein paar Gräber auf dem Friedhof zusammengeschrumpft.
Und damit wäre es auch schon wieder Abend. Ich hätte zwar noch die letzte Fähre nehmen können, aber dann wäre ich erst im Stockfinstern angekommen.
Das Wilde Campen wird im Baltikum meines Wissens geduldet, also weder ausdrücklich erlaubt noch verboten. Aber ich wollte Begegnungen wie in der zweiten Nacht mit der Polizei von Liepāja dennoch vermeiden - allein schon, um in Ruhe durchzuschlafen. Seit ich also ab Rīga das Wildcampen wiederaufgenommen habe, habe ich möglichst noch abgelegenere Plätze gesucht. Das war nicht immer einfach - außer auf den Inseln, die sind dafür super.
Estnische Naturschutzgebiete sind durch so ein kleines weißes Schild mit einem Blatt drauf markiert und leicht zu übersehen. Aber auch außerhalb dieser Blattgebiete gibt es jede Menge schützende Wälder mit relativ weichem Boden. Ein besonderer Traum ist dieser helle Buschwald heute Nacht, in den sich das Rad problemlos reinschieben ließ und in den sich offenbar nie jemand verirrt. Auf der Straße, die ihm am nächsten ist, fährt im Schnitt vielleicht ein Auto pro Nacht.
Äh, ja. Und erst jetzt, wo ich das hier zusammenschreibe, lese ich, dass auch Braunbären auf der Insel leben sollen.
Uff.
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