NEU: Die schwedische Halbinsel der Zugvögel

Falsterbo

Freitag, 7. Juli 2023

Hel

Polen hat (außer in der Odermündung) keine großen Ostseeinseln wie Rügen oder Fehmarn. Wo fahren die Leute dann hin, wenn ihnen das normale Festland zu leicht erreichbar ist?
Hierhin.
Auf Polens größte Halbinsel: Hel (früher Hela).
Mein Abstecher auf die Helbinsel startete am größten Fischereihafen Polens, in Władysławowo, was klingt, als hätte der Verfasser des Namens versehentlich dieselben Silben mehrmals eingetippt, aber immerhin einfallsreicher ist als der deutsche Name: Großendorf (gähn).
Wenn wir Hel mit Deutschlands größter Halbinsel vergleichen würden, dann entspräche Władysławowo Dierhagen - dem Tor zur Halbinsel. Allerdings ist Hel mit Fischland-Darß-Zingst nur sehr, sehr eingeschränkt vergleichbar (und das nicht nur, weil sein Name sehr viel kürzer ist). Hier also stattdessen ein etwas gewagter Vergleich: Władysławowo ist das Kopenhagen Polens.

Ich weiß, ich weiß. Passt nicht so hundertprozentig. Aber: Man kann mitten in der Stadt, mit Blick direkt auf den Rathausturm, Achterbahn fahren (und zwar die ganze Sommersaison über, nicht nur wenn Jahrmarkt ist). Und wem das zu rasant ist, der kann stattdessen umgekehrt vom Rathausturm auf die Achterbahn gucken. So ein Zentrum kenne ich sonst nur aus Kopenhagen.
Die Bahn steht im Lunapark, der zwar an den Kopenhagener Tivoli nicht ganz herankommt, aber dafür ein viel unkomplizierteres Preissystem hat: Ich durfte einfach so reinspazieren und kaufte mir in dem einen Häuschen in der Mitte einen Fahrchip, den ich bei einem Fahrgeschäft meiner Wahl einlösen durfte.
Durch enge Kreisel und witzige Kurven rattert die Bahn vorbei an den weißen Rathaussäulen. Der Bodden und die Ostsee sind in der Ferne als blaue Ränder zu erkennen, dazwischen die Halbinsel, ein geheimnisvoller grüner Streifen, dessen Ende nicht abzusehen ist.

Außerdem durchsuchte ich den Ort nach einem neuen Ersatzschlauch für mein Rad, für den Fall, dass die Reparatur nicht mehr lange hält. Die App zeigte drei Fahrradverleihe in Władysławowo an, da wird sich ja wohl was finden.
Fahrradverleih Nr. 1 und 2 existierten nicht und Nr. 3 war eher ein Gokart-und-sonstiges-Zeug-Verleih, wo man mich genervt abwimmelte. (Hat der Massentourismus die berühmte polnische Gastfreundschaft eigentlich völlig abgewürgt? Ich vermute mal, die Bahnmitarbeiterin am Danziger Hauptbahnhof würde in ihrer unnachahmlichen Freundlichkeit folgendes antworten: "NO!") Erst als ich die Stadt verließ, stieß ich gleich am Ortsausgang auf ein passendes Geschäft - manchmal ist aufgeben eben doch eine Lösung.
An diesem Fahrradzähler beginnt Hel. So ungefähr. Irgendwo rechts hinten im Bild müsste der Knick sein, wo Hel auf das Festland trifft und die Danziger Bucht beginnt. Die Stelle versteckt sich aber inmitten von Salzwiesen und ist etwas kamerascheu.

Das überrascht mich, denn Hel ist schmal. Richtig schmal. Die Halbinsel ist eigentlich eine Nehrung, die halt noch auf ihre Fertigstellung wartet. Eines Tages wird die Ostsee so viel Sand angespült haben, dass sich Hel komplett um Danzig schließt und die Stadt von der Ostsee abschneidet.
Auch wenn ich nie von einem Ufer zum anderen sehen konnte, bekam ich doch auf andere Weise mit, wie verdammt schmal diese Halbinsel ist. Es ist Platz für einen gepflasterten Fuß- und Radweg, eine Straße und ein Bahngleis. Das wars. Und durch dieses Nadelöhr wollen sämtliche Verkehrsteilnehmer durch. Alle. Ufff... es war eventuell keine gute Idee, an einem Sonntagabend auf diesen Highway to Hel abzubiegen.

Immerhin entfernen sich die Pflastersteine irgendwann von der Straße. Erst fuhr ich durch einen kuschligen Baumtunnel und kam dann am Bodden heraus, der sich in Schilf und Kartoffelrosen einbettet.

Jetzt interessierte mich aber doch, wie die andere Seite aussieht - immerhin stand ich seit dem Kap Rozewie heute morgen nicht mehr an der offenen Ostsee. Da, die Stelle sieht aus, als käme man da durch! Ich stellte mein Rad ab, eilte über die Straße und die Bahngleise und landete auf einem supersandigen Wanderweg. Kaum war ich die kleine Düne hoch, sah ich auch schon den Ostseestrand. Wie lange habe ich dafür gebraucht - eine Minute?
Selbst die höchste Düne von Hel misst gerade mal 12,5 Meter. Sie markiert die Grenze der Fischereigefilde zweier Dörfer und heißt Góra Libek - auf den ersten Blick ein fremdartiger Name, auf den zweiten aber nicht: Der Hügel wurde nach dem Schiff Lübeck benannt. Es transportierte Wodka nach Danzig und verunglückte an dieser Stelle. Der Kapitän holte Hilfe, doch als er zurückkam, lagen alle Matrosen tot am Strand - sie hatten die Ladung ausgesoffen und waren erfroren.

Die ersten Kilometer sind noch unbesiedelt. Dann aber wird es noch enger: Plötzlich wollen die Menschen nicht nur durchfahren, sie wollen sich auf der Halbinsel auch aufhalten. Um Gottes Willen!
Und sie halten sich bevorzugt auf Campingplätzen auf. Dicht an dicht drängen sich die Wohnmobile auf dem knappen Rasen, eingepfercht wie weiße Urlauber-Verpackungen auf knappem Lagerraum. Egal, ich möchte heute endlich eine richtige Unterkunft. Diesmal habe ich dazugelernt und treffe deutlich vor um acht ein.
Campingplatz Nummer eins nimmt keine Zelte.
Campingplatz Nummer zwei auch nicht, verwies mich aber immerhin freundlich auf Campingplatz Nummer vier.
Auf Campingplatz Nummer vier verlangt bereits das Schild am Eingang lautstark MINIMUM STAY 4 NIGHTS. (Wenigstens kommunizieren die klar und deutlich, bei den anderen muss man alles nachfragen.)
Campingplatz Nummer fünf schickte mich wiederum zu Campingplatz Nummer vier.
Campingplatz Nummer sechs wies mich derart rüde ab, als hätten sich alle meine bisherigen Anfragen immer wieder an ihn gerichtet.
Kaum zu glauben, aber was Toleranz gegenüber Zelten angeht, ist Hel sogar noch schlimmer als Cuxhaven-Sahlenburg.

Nach Nummer sechs hatte ich keine Lust mehr, denn das Rumgefrage kostete eine Menge Zeit. Zeit, die ich nun plötzlich umso dringender brauchte, da ich offenbar noch weiter musste.
Irgendwann sind die Zeltplätze nicht mehr das einzige Zeichen der Zivilisation. Ein Flugplatz drängt sich in den Wald, und schließlich sogar richtige weiße Ostseebäder. Ob der Platz dafür ausreicht? Es ist knapp, aber ja. Was wollen die Leute denn alle hier? Ich weiß, die Natur sieht gut aus, aber mal ehrlich, auf dem Festland war die Küste doch genauso schön - und da ist, im Gegensatz zu hier, Platz.

Polnische Prominente und Politiker fahren mit ihren Limousinen nach Jurata, um in Luxushotels zu relaxen. Allein der polnische Präsident hat eine Sommerresidenz, für die extra zwei Kilometer Strand gesperrt sind. Dort empfängt er Staatsoberhäupter aus aller Welt. Aber immerhin, ein Stück durfte ich trotzdem an der Strandpromenade radeln.
Das Seebad mag ein elitärer Ort sein, aber sein Name Jurata entstammt eigentlich einer anti-elitären Romeo-und-Julia-Geschichte. Jurata war eine Meeresgöttin der Kaschuben und wohnte wenige Kilometer entfernt in bester Lage auf dem Meeresgrund in einem Bernsteinpalast. Eines Tages stellte sie fest, dass die Fischpopulation um ihren Palast rapide abnahm, weil ein armer, aber ehrgeiziger Fischer namens Kastytis sie alle wegfing. Jurata schwamm zu seinem Boot, um ihm die Leviten zu lesen, stellte aber fest, dass Kastytis ausgesprochen attraktiv war und Überfischung folglich vielleicht doch nicht soo ein großes ökologisches Problem darstellte. Eine Weile hatten die beiden was miteinander im schicken Bernsteinpalast. Dann bekam Juratas Papa, der Gott Gork (ja, der hieß so), das mit und war natürlich stinksauer. Seine Reaktion: Todesstrafe für Kastytis, lebenslange Haftstrafe durch Anketten am Meeresgrund für Jurata und eine Abrissverfügung gegen den Bernsteinpalast, welchen er in tausend Stücke zerschmetterte. Und deswegen findet man an der Ostseeküste Bernstein (wissen viele gar nicht, die glauben immer noch, das sei Baumschweiß). Laut einer anderen Version sind die Bernsteine Juratas Tränen.

Falls der polnische Präsident Lust auf einen Spaziergang unters Volk hat, kann er sich auf eine überaus christliche Seebrücke begeben: Das Bauwerk hat ganz klar die Form eines christlichen Kreuzes. Falls das Absicht war, ist sie das größte der zahlreichen Wegkreuze, die ich unterwegs gesehen habe: Ich marschierte 320 Meter weit bis zur Spitze (also da, wo normalerweise INRI dransteht) und ließ meinen Blick über die Danziger Bucht schweifen.
Ist das da hinten schon Danzig? Nee, wahrscheinlich erst Gdynia, oder? Aber was ist das dort? In regelmäßigen Abständen ragen kleine Betonwürfel aus dem Wasser. Wenn ich vorhin geschrieben habe, Hel legt sich wie ein schützender Arm um die Stadt Danzig, dann ist das gar nicht soo sprichwörtlich gemeint - Danzig wurde und wird auf Hel verteidigt. Und Hel wiederum wird anscheinend auf diesen Mini-Bunkern verteidigt.

Danach wird die Halbinsel endlich etwas breiter - und ruhiger. Tausend Warnzeichen warnen vor einem brandgefährlichen Kiesweg. Vorsicht, da sind Kurven! Und kleine Hügel!
Was für ein Unfug. Das Unfallrisiko ist wahrscheinlich viel, viel niedriger als auf dem Highway to Hel vorhin - aus dem einfachen Grund, dass ich nicht mehr alle fünf Sekunden knapp an einem Fußgänger oder Radler vorbeischrammen muss.
Aaaah, ist das schön hier. Niemand steht mir im Weg. Ich bin umgeben von wunderschönen Nadelbäumen, die erfreulicherweise alle ihre Schnauze halten.

Auch wenn die Insel breiter wird, gibt es nach wie vor nur diesen einen Weg. Der Rest der Fläche gehört nämlich wieder mal dem Militär. Die Deutschen bauten hier sogar die Batterie Schleswig-Holstein, das war damals die größte stationäre Geschützanlage der Welt.
Damit das Militär seinen Militärkram gut transportieren kann, schlängeln sich kleine Loren-Gleise kreuz und quer durch den Wald. Diese Waldeisenbahn machte es damals deutlich leichter, die große Bahnstrecke für Polens Waffenlieferungen (siehe letzter Beitrag) zu bauen, man konnte die Trasse mancher Minigleise benutzen.

Auch hier haben die Polen ihren eigenen Umgang mit der Armee: Ein Museum in einem hübsch begrünten Bunker, ein Wanderweg mit Panzerlogo und ein Restaurant mit Kriegs-Theming, vollbehängt mit Soldatenfiguren, Fahrzeugen und Tarnfarben.

Damit wären wir auch schon in der Stadt Hel. Der letzte und größte Ort auf der Helbinsel begrüßt mich mich einladend mit einem Park am Bahnhof, in dem holzgeschnitzte Damen in eventuell leicht zweideutigen Posen traditionellen Tätigkeiten wie dem Weintreten und Butterstampfen nachgehen.

Es mag an der späten Stunde liegen oder auch daran, dass hier mehr Platz ist, aber ich fand Hel schöner und längst nicht so anstrengend wie den Rest von Hel (klingt komisch, ist aber so). Klar, in der Fußgängerzone musste ich auch aufpassen, niemanden umzunieten, doch ich hatte immerhin nie den Impuls, genervt zu stöhnen.

Und südlich der Stadt wird es noch ruhiger. Ein erdiger Weg bricht sich durch Wald und Wurzeln, und düstere Bunkertürme bröckeln auf den Dünen vor sich hin, abgesperrt mit rostigen Drähten und schiefen Schildern.
Sogar Hels Leuchtturm war mal bewaffnet: Wenn der Nebel aufzog, schoss der Leuchtturmwärter eine Kanone ab, damit die Schiffe sich anhand des Geräuschs orientieren konnten. Diese Methode war leider nicht ungefährlich: Eines Tages explodierte die Kanone und tötete den Leuchtturmwärter.

An der Spitze Hels steht dagegen bloß ein unförmiges, kleines Gebilde, das offenbar Solarstrom produziert und irgendwelche Signale sendet. Ein Holzweg führt durch die Dünen, dahinter erstreckt sich ein feiner Sandstrand. Die Städte der Danziger Bucht versteckten sich im Nebel der Abenddämmerung.

Das waren die 34 Kilometer von Hel in einem höllischen Turbo-Durchlauf. Tja, wenn ihr mich nicht Hel-zelten lassen wollt, dann kann ich mir leider auch nicht mehr von eurer Halbinsel zu Gemüte führen.
Was jetzt? Der Iron Curtain Trail sagt, ich soll mit der Fähre direkt nach Gdynia, Sopot oder Danzig weiter. Für den Ostseeradweg dagegen ist die ganze Halbinsel bloß eine Variante und ich kann per Rad oder Bahn zurückkehren.
Aber wo soll ich dann schlafen? Wildcampen ist nicht drin: Jeder Quadratmeter auf der Halbinsel ist entweder bebaut, Militär- oder Naturschutzgebiet. Ich könnte jetzt noch gerade so mit dem letzten Zug nach Swarzewo zurückfahren, aber wohin dann? Auch dort ist die Küste Naturschutzgebiet, bis zum nächsten ungeschützten Wald wäre ich noch einige Stunden im Stockfinstern unterwegs.
Zum Glück kam mir die rettende Idee: Was, wenn ich ein Stückchen auf der Bahntrasse zurückfahre? Da hinten war da doch eine recht einladende Heckenlandschaft. Dann soll es halt so sein, ein letztes Mal in die Wildnis. Ich suchte den Bahnhof nach einem Schalter oder Automaten ab, fand aber nichts. "Kann man im Zug Fahrkarten kaufen?", frage ich zur Sicherheit nach. Ja, kann man, und es kostet gar nicht mal so viel.

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