NEU: Die schwedische Halbinsel der Zugvögel

Falsterbo

Montag, 3. Juli 2023

Von Warnowo nach Ustronie Morskie

Wie komme ich weiter rein nach Polen? Erst mal muss ich den Bogen über die Insel Wolin fertigfahren und zur Ostsee zurückkehren. Leider war dieser Bogen einer der miesesten Abschnitte des Tages, ach was, der ganzen Tour. Dahinter steckt aber keine Radfahrerfeindlichkeit, denn auch die Straße war in einem tragischen Zustand. Was ist denn das bitte für ein Flickenteppich aus Asphaltfetzen?

Bei so einer Straße erwartet man ein total heruntergekommenes Dorf, aber die Häuser selbst sahen eigentlich völlig in Ordnung aus. Jedes Dorf ist mit einem vergleichsweise kleinen Jesus an einem vergleichsweise großen Kreuz ausgestattet, jedes Mal ein bisschen anders dekoriert mit Blumen, bunten Bändern oder künstlerischen Elementen. Marienfiguren habe ich dagegen, anders als im katholischen Süddeutschland, nirgendwo am Weg gesehen - Polen konzentriert sich voll und ganz auf seine Kreuze. Ein Dorf hatte noch Bilder aufgehängt, die zeigen, wie die Orte früher aussehen (nämlich viel schwarzweißer).
Später am Tag entdeckte ich ein Dorf, das zweisprachig stolz Details über seine deutsche Geschichte verriet: Es kann wundern, aber 90 % der Einwohner im Jahr 1871 konnten lesen und schreiben. Anders als im Elsass stehen die Polen ganz offen dazu, dass das hier halt mal ein anderes Land war. (Die Betonung liegt natürlich auf war.)

Als irgendwann doch ein Radweg auftauchte, war der auch nicht gerade in besserem Zustand - die Pflastersteine ragten in allen möglichen interessanten Winkeln in die Höhe und schleuderten mich immer wieder als kleine Sprungschanzen ins nächste Schlagloch (nur nicht auf dem Bild, da geht's gerade). Aber Hauptsache, die brandneuen rotweißen Geländer funktionieren...
Eigentlich gibt es auf Wolin auch mehrere Seen, aber meistens versteckten die sich hinter einem Wald oder Privatgrundstücken.
Zwar sind die Wälder immer noch nett anzusehen, trotzdem beschleicht mich das Gefühl, gestern die bessere Hälfte der Insel gesehen zu haben.

Dann ist es wohl an der Zeit, Wolin zu verlassen! Eine grellrote Version der Wolgaster Klappbrücke bringt mich über die Dzwina, den dritten und kleinsten Mündungsarm der Oder. Und damit betrete ich zum ersten Mal nordpolnisches Festland.

Das Festland heißt mich aufs Herzlichste willkommen mit Waldwegen, die sofort sämtliche Pflastersteine Wolins übertreffen.
Am Wegesrand verbirgt sich ein geheimnisvoller Krater mit Fundamenten und Stellen, an denen Kreide abgebaut wurde. Das ist Kalkberg a.k.a. Wapno. Das Dörfchen wurde bei den Kämpfen im März 1945 völlig zerstört, sodass kein Pole Lust hatte, sich dort anzusiedeln.

Ganz anders in den nächsten Orten, die sich nicht über einen Mangel an Menschen beschweren können. Es ist Zeit für eine massentouristische polnische Seebäder-Kette und Erlebnisküste! Da muss ich jetzt durch.
Und am frühen Vormittag war das auch noch gar nicht so anstrengend. Hauptsächlich begegnete ich Menschen mit einem Wischmopp, die ihre Geschäfte bereitwischten für einen weiteren Touristentag in der Hochsaison. Und dann, nach und nach, ging es los.

VORSICHT! WIR HABEN GUTES EIS! – „MAN SAGT, HIER GIBT ES DAS BESTE EIS!“ – „EIS WAFFELN KAFFEE GEBRATENER FISCH“ Aus allen Ecken blinken die roten polnischen Pünktchen herab, stumpfe Sprüche jagen über die altmodischen Displays und verkünden, welches Futter vorhanden ist. Die Heilige Dreifaltigkeit eines jeden polnischen Strandimbiss' besteht aus LODY GOFRY KAWA (Eis, Waffeln, Kaffee - komischerweise nie Eis auf Waffeln). Die Nachfrage ist hoch, aber das Angebot noch höher. Im maritimen Gedränge kämpft jeder Stand um Aufmerksamkeit - denn, seien wir ehrlich, wo genau man nun sein 08/15-Eis isst, macht geschmacklich jetzt nicht so den Riesenunterschied, man nimmt einfach den nächstbesten Stand, der einem ins Auge springt.
Ich weiß ja nicht. Unsere deutschen Seebäder sind ja auch total massentouristisch, aber irgendwie bewahren sie sich trotz allem einen gewissen Stil (außer Haffkrug). Ihr Polen habt eine wunderbare Küste, warum verkauft ihr sie so billig? (Damit meine ich nicht die tatsächliche Preise, dir sind von der deutschen Küste nicht mehr so weit entfernt).

Wie dem auch sei, das erste Seebad in der Kette nennt sich Trzęsacz (Gesundheit!) a.k.a. Hoff und hat jenseits von LODY GOFRY KAVA auch eine richtige Attraktion zu bieten - eine Kirche. Wann genau sie gebaut wurde, ist nicht so ganz klar, auf jeden Fall stand sie damals etwa 2 Kilometer von der Ostsee entfernt. 1874 war diese Entfernung auf gerade mal einen Meter zusammengeschrumpft, die Fenster waren längst zugemauert, weil die Wellen den Gottesdienst zu sehr störten, und die Gemeinde beschloss, ihre Gottesdienste doch lieber woanders abzuhalten. Es dauerte dann aber noch bis 1901, bis die halbe Kirche in die Ostsee stürzte. Wem das alles bekannt vorkommt - ganz genau, Trzęsacz ist das polnische Højerup. Plus ein paar Jahrzehnte, denn anders als in Dänemark plumpste seitdem noch mehr Kirche ins Meer, sodass sich bloß noch ein kleiner Teil der Südwand einsam eingezäunt und etwas verloren auf der Steilküste behauptet. Wie die komplette Kirche aussah, lässt sie nicht mehr richtig erahnen. Aber damit man die Ruine aus allen Richtungen bewundern kann, ragt direkt daneben eine Plattform über die Steilküste hinaus.

Die Steilküste selbst ist dicht bewachsen und aus der Nähe betrachtet gar nicht mal so hoch - gefühlt drei Treppenstufen runter, zack, schon stand ich am Strand.

Das zentrale, aber auch uninteressanteste Seebad der Kette ist Rewal, das sich ebenfalls eine Panoramaplattform über dem Steilküstchen gegönnt hat, aber ohne Kirchenruine. Das skurrile Klettergerüst in Form eines riesigen rostigen Vogelskeletts kann diese nicht wirklich kompensieren, obwohl es eine ähnliche Farbgebung hat. Auch nicht der Platz mit dem Boot, obwohl der gelbe Kahn im Zentrum von Sonnenstrahlen-Wegen schon ganz hübsch aussieht.

In der Seebäderkette durfte ich nicht am Wasser fahren, dazu musste ich vom breiten Radweg an der Straße in jedes einzelne Seebad abbiegen.
Am meisten Zeit verbrachte ich in Niechorze a.k.a. Horst. (Alle Klischees stimmen: Die früheren deutschen Ortsnamen klingen wie ein griesgrämiger schnauzbärtiger Preuße, die polnischen Namen klingen nach einen Niesanfall.) Denn Niechorze war einfach das perfekte Seebad für diesen Tag - als wäre es nur dazu gemacht, damit ich die zwei Attraktionen nachholen kann, die ich gestern nicht geschafft habe. Welche waren das nochmal? Der Leuchtturm von Świnoujście und der Baltic-Modellpark.
Der Niechorze-Leuchtturm wurde nämlich vom Turm in Świnoujście inspiriert. Er ist rot-weiß gestreift, aber anders als üblich mit Längsstreifen (die bekanntlich schlank machen). Rote Ziegel und weißer Putz wechseln sich ab.

Wie in Świnoujście wächst er aus einem rechteckigen Haupthaus heraus, das ein bisschen an eine Schule erinnert. Anders als in Świnoujście ist hier aber kein Museum für Leuchtturmwesen drin, sondern bloß eine Kasse, an der man seine Zloty entrichtet, um mit vielen Neugierigen eine endlose weiße Wendeltreppe zu erklimmen.
Komischerweise ist bis heute ungeklärt, wie viele Stufen die Treppe hat. Die Quellen geben 207 bis 210 an. Man sollte meinen, es sei nicht so schwer, mal nachzuzählen, aber mir steht es nicht zu, so etwas zu sagen: Kaum war ich im Treppenhaus, hatte ich (insbesondere meine Beine und Lungen) plötzlich besseres zu tun.
1863 stellte das deutsche Seefahrtsministerium fest: Zwischen Swinemünde und Kolberg ist es nachts stockfinster, die Schiffe können sich nicht orientieren. Darum bekam das eher kleine Örtchen einen derart hohen Turm. Im zweiten Weltkrieg landete ein Treffer im Turm, acht deutsche Minen rundherum konnten gerade noch rechtzeitig entschärft werden, bevor sie ihn endgültig zerstörten. So leuchtet sein Licht bis heute 37 Kilometer auf die Ostsee hinaus. Ganz so weit reicht mein Blick nicht, aber immerhin kann ich bis zum nächsten See mit dem witzigen Namen Niechorze Livia Luza sehen.
Und bis zur nächsten Attraktion.

Unten am Leuchtturm rührte eine Werbetafel die Werbetrommel für den Park Miniatur Latarnich Morskich. Dass Latarnia Morska, also Meereslaterne, die polnisch-poetische Umschreibung eines Leuchtturms ist, wusste ich schon. Also ein Modellpark über Leuchttürme der Ostsee? Das gibt's doch gar nicht. Ich radelte umgehend die paar Meter weiter.
"You want a guided tour?", sprach mich ein junger Mann an, kaum dass ich bezahlt hatte. Ich stimmte verwirrt zu, nicht ganz sicher was er meinte: Einen Audioguide oder eine richtige Führung? Die Antwort lautete: Ja. Nachdem er meine Sprache erfragt hatte, verschwand er und kehrte mit einem MP3-Player am Gürtel zurück. Die Führung sah dann so aus, dass er zu jedem Modell mitging und dort auf den Knopf drückte, woraufhin der Lautsprecher Informationen auf Deutsch preisgab. Anschließend gab mein MP3-Führer ein paar Bonus-Fakten auf Englisch preis, bediente verschiedene Schalter oder zerlegte das Modell der Kirchenruine von Trzęsacz: Ein Hebel ließ das Gotteshaus in zwei Schritten auseinanderfallen.

Natürlich ist auch der der Niechorzer Turm vertreten. Ich konnte das Modell im Maßstab 1:10 (links) direkt mit dem Original (hinten in der Mitte) vergleichen, aus demselben Blickwinkel auch eine Modellmühle (vorne rechts) mit dem Original (hinten, rechts vom Modellleuchtturm). Ergebnis: Die Originale sind wesentlich schüchterner und verstecken sich hinter Bäumen. Ansonsten: Praktisch kein Unterschied.
Die Windmühle ließ sich in alle Richtungen verstellen, um Wind abzubekommen. Echte historische Windmühlen sind in Polen sehr selten, ich habe auf meiner Reise bloß diese eine gesehen.

Der Park beschränkt sich auf Leuchttürme polnischer Nationalität und kommuniziert das (anders als das deutsche Pendant in Trassenheide) auch so. Von der russischen Grenze bis Świnoujście, von Ost nach West und damit genau in die entgegengesetzte Richtung meiner Tour, sind sämtliche Türme aufgereiht, darunter total viele aus Danzig. Und es ist erstaunlich, aber tatsächlich gibt es zu jedem einzelnen Leuchtturm Polens irgendwas Faszinierendes (gelegentlich auch Grausames) zu erzählen, das nicht nur Seefahrts- und Architektur-Nerds interessiert. Im Geiste erstellte ich direkt eine Liste, welche ich eventuell noch besteigen möchte.
Dass der Park nur polnische Türme zeigt, heißt übrigens nicht, dass er sich auf die Ostsee beschränkt! Polen hat auch zwei Leuchttürme in viel kälteren Gewässern, und zwar bei polnischen Forschungsstationen, damit die Forscher stets sicher den Weg zu ihrer Forschung finden. Der eine steht auf dem King George Island in der Antarktis (hinten auf dem Felsblock), der andere auf Spitzbergen im Polarkreis (vorne). Letzterer ist der jüngste Leuchtturm Polens, erst 2006 haben sie ihn aus Benzinfässern zusammengeschweißt.

Wie haben sich die Seefahrer eigentlich orientiert, bevor man so hohe Türme bauen konnte? Das durfte ich am eigenen Leibe erleben. Zuerst habe ich mich von der Statue eines Trompeters antrompeten lassen. (Damals benutzt man natürlich keine Statuen, sondern echte Menschen, denn die haben in der Regel einen längeren Atem.) Anschließend durfte ich per Flaschenzug einen scheinbar federleichten Käfig mit Holz drin hochziehen. Der brannte und baumelte damals an einem komischen Ding, das entfernt an ein Katapult erinnert (hinten links im Bild). Besonders gut waren diese primitiven Leuchttürme nicht: Wehte zu viel Wind, war der Brennstoff schnell verbrannt, und wehte zu wenig Wind, war das Feuer zu schwach. Kein Wunder, dass sich die Leuchttürme langfristig durchsetzten - auch unter touristischen Gesichtspunkten boten sie deutlich mehr Potential, denn an den Holzdingern ließ sich nur schwer eine Aussichtsplattform anbringen.
Die Schweden auf der nebligen Insel Kobba Klintar fanden eine ganz andere Lösung, um ihre Schiffe in den Hafen von Marieham zu lenken: Sie schmiedeten das größte Nautophon der Welt. Im Prinzip ist das ein gewaltiges Horn, das 12 Kilometer weit tuten kann. Das polnische Modell ist immerhin halb so stark und kann damit die halbe Seebäder-Ketter aus dem Schlaf aufschrecken.
Bevor der Typ das Horn aktivierte, sollte ich sicherheitshalber ein Stück über die Wiese gehen. Und dann lieber noch ein paar Schritte. Und natürlich ein Stück zur Seite, nicht direkt vor das Horn stellen. Ich gehorchte.
TUUUU...
Trotz der Sicherheitsvorkehrungen fühlte ich mich, als würde mich das tiefe Tuten gleich umwerfen. Oder von der Klippe wehen.

Ganz hinten dampft auch eine Modellbahn durch den Park. Das ist die Greifenberger Kleinbahn, also so was wie die polnische Molli, die all diese Seebäder miteinander (und mit normalen Zügen im Hinterland) verbindet.
Auf dem nächsten Kilometer fuhr ich ein Stück neben ihren echten Gleisen her, leider ließ sich die echte Dampflok nicht blicken. Für historische Museumsbahn gibt es im Polnischen übrigens ein wahnsinnig tolles Wort: Ciuchcia Retro.

Schließlich knickt die Bahn ins Hinterland ab, das letzte Seebad ist zu Ende, und es wird wieder ruhiger. Ich glitt auf einem traumhaften Weg durch die Dünen, zwei kleine Militärsperrgebiete störten nicht weiter.

Aber wie war das früher, in der sozialistischen Volksrepublik Polen? Wie bewachten die ihre Ostsee-Grenze? Versuchten Polen, über die Ostsee zu fliehen? Da ich nach wie vor auf dem Iron Curtain Trail unterwegs bin, würden mich diese Fragen schon interessieren. Aber offenbar interessieren sie sonst niemanden. Im Park vorhin stand das Modell eines U-Boots, mit dem polnische Soldaten im Zweiten Weltkrieg von Tallinn nach Großbritannien flohen - doch nach dem Jahre 1945 schweigt Polen zum Thema Flucht. Sicher war das ein viel kleineres Thema als in Deutschland, schließlich lagen allerhöchstens Bornholm und ganz im Westen ein bisschen Schweden in Reichweite. Die Grenztruppen haben sich vermutlich tendenziell mehr mit normaler Landesverteidigung beschäftigt als in der DDR. Aber war das der einzige Grund, oder gibt es hier irgendetwas zu verschweigen?
Warum ich gerade jetzt auf das Thema komme? In den Dünen verbirgt sich das graue Skelett eines Wachturms und lugt vorsichtig über die Dünen aufs Meer. Eine Infotafel verrät Details über das Eschen-erlen-wiesenland und wie der sumpfige Wisenwald kleine Enklaven in den Dünen bildet, doch ich erfuhr nichts darüber, wer auf dem Turm da oben was getan hat - die Ruine fungiert ausschließlich als Abstellplatz für leere Bierflaschen. Abgerissene, rostige Röhren ragen aus den Wänden wie aufgerissene Adern - wozu mochten sie gedient haben? Das ganze scheußliche Teil sieht aus, als hätten die Grenzsoldaten beim Architekten folgendes bestellt: "Wir hätten gerne so etwas wie einen Hochsitz für Jäger - aber so, dass jedes Reh bei dem Anblick sofort Selbstmord begeht."

Ebenfalls grau, aber nicht ganz so grässlich (und weniger gefährlich für Rehe), ist diese Aussichtsplattform am Strand.
Für die schamhaften Polen stehen extra orangeblaue Umkleidewände bereit, in denen sie die Badehose überstreifen können. Ich habe meine schon längst angezogen, denn bei dem Sommer bleibt mir kaum eine andere Wahl, als mich regelmäßig abzukühlen. Also dann, auf ins polnische Wasser! Komisch, es schmeckt immer noch fast süß, obwohl die Odermündung jetzt weit hinter mir liegt. Hat der Salzgehalt generell so stark abgenommen?
Ich fand es immer albern, dass die Ostsee Brackwassermeer genannt wird - schließlich ist sie viel salziger als das Brackwasser in Flüssen. Aber hier ergab die Bezeichnung zum ersten Mal Sinn. Das Mecklenburger Salzwasser ist die Ausnahme und nicht die Regel.

Klingt komisch, ist aber so: In Polen kommt das Salz nicht aus dem Meer, sondern aus dem Land. Ich bin per Brücke über die sogenannte Salzinsel gefahren, wo einst Solequellen aus dem Boden sprudelten. Heute sprudelt nur noch eine, der Rest der Insel ist von Kirmes-Fahrgeschäften bedeckt.
Zwischen den Armen des Flusses Parseta hatten die Kaschuben, ein Untervolk der Pomoranen/Pommern, ihre Hauptsiedlung. Aber erst das Salzwasser machte aus der Siedlung eine reiche Kurstadt, die Perle der Hanse und eins der Top 3 nobelsten Urlaubszielen im deutschen Kaiserreich (zusammen mit Berchtesgarden und Garmisch-Partenkirchen). Willkommen in Kołobrzeg! 

Endlich mal wieder eine richtige Stadt, nicht nur Ansammlung von vollen LODY-GOFRY-KAWA-Buden! Seit Świnoujście hatte die Küste so etwas nicht mehr, denn die meisten Städte liegen im Hinterland statt an der Küste.
Auf der Karte ist Kołobrzeg ist eigentlich auch nicht so groß, das Stadtzentrum scheint für eine deutlich größere Stadt gemacht. Ausgedehnte Parks erstrecken sich bis auf den Marktplatz und eine Marienkirche mit krummen Säulen ragt über den Bäumen auf. Besonders das Rathaus (links) erscheint gewaltig, viel größer ist das Rote Rathaus in Berlin auch nicht, oder? Die Ähnlichkeit täuscht nicht: Der Berliner Architekt Schinkel hat es entworfen, aber eher an das Lübecker Rathaus angelehnt. Unter seinen roten Mauern gab ein Straßenmusiker den Ton an, während sich seine Zuhörer in Liegestühle fläzten.

Zwischen den Ziegeln  verbergen sich Details und Geheimnisse, die mir nur aufgefallen sind, weil ich davon auf einer Tafel gelesen habe. An der nordöstlichen Ecke versteckt sich ein Eckstein mit ein paar Säulen, die letzten Überreste des mittelalterlichen Rathauses. Aus einer Säule schreit ein steinernes Gesicht heraus, als hätte jemand Edvard Munchs Schrei in 3D (aber in Schwarzweiß) nachgemeißelt. Darf ich vorstellen: Das ist Jukub Adebaras, der 1524 eine Revolte gegen den Stadtrat anführte und dafür genau hier hingerichtet wurde.
Warum steht eigentlich das mittelalterliche Rathaus nicht mehr? Und wieso sieht Schinkels großer Ersatzbau fast so trotzig wie eine Festung aus? Weil Kołobrzeg damals, als es noch Kolberg hieß, halt nicht nur eine Kurstadt, sondern auch eine Festungsstadt war und ständig belagert wurde (wie sich das auf die Entspannung der Kurgäste ausgewirkt hat, weiß ich nicht), 1758, 1760, 1761 und 1807 - in diesem Jahr versuchte Napoleon, die Stadt in die Knie zu zwingen, aber Kolberg hielt entgegen aller Wahrscheinlichkeit durch.
1943 glaubten die Nazis noch, wenn sie nur weiterkämpften, würden sie genauso durchhalten. Um das ihrem Volk einzutrichtern, verfilmten sie Napoleons Belagerung superaufwändig am Originalplatz in Kolberg und in den Potsdamer Studios. Als Kolberg ins Kino kam, war der Film bereits widerlegt - die Sowjets hatten Kolberg längst eingenommen und standen 60 Kilometer vor Berlin.

Sogar der Leuchtturm ist total wehrhaft, er wird eingekreist von mehreren Mauern wie eine kleine Festung. Oder ist es eine Festung? Jap. Schon 1627 bauten die kaiserlichen Soldaten für den Dreißigjährigen Krieg ein einfaches Blockhaus als Bunker. Weil sich Blockhäuser aber gar nicht mal so gut als Bunker eignen, erhielt es nach und nach Upgrades, bis daraus irgendwann das Fort Münde wurde. Der Leuchtturm stand damals noch daneben. Die Deutschen sprengten ihn 1945, und danach entschieden die Polen, ihn mitten im Fort wieder aufzubauen, weil das irgendwie cooler aussieht. Dazu benutzten sie als nachhaltigen und günstigen Baustoff die Ziegel der kaputten Festung. Und sie hängten Gedenktafeln für die Opfer des Faschismus an die wehrhaften Mauern.
In so einen dicken Turm passt eine Menge Zeug rein, sogar ein Café und ein Musikclub. Ich wollte aber bloß ganz klassisch für ein paar Münzen nach oben, um meinen Leuchtturm-Tag perfekt abzurunden. Dabei musste ich auf jedem Stockwerk einen neuen Souvenirshop passieren, der mich dazu verleiten wollte, noch mehr Münzen auszugeben.

Ah, da hinten mündet also die Parseta in die Ostsee! Aber was ist das denn? Wieso ist da rechts ein kleiner Kanal abgetrennt? Sind das Schleusen? Wozu? Wenn doch nur meine Sehstärke besser wäre. Irritiert und neugierig stieg ich wieder abwärts in der Absicht, gleich ein Stück auf die Mole zu laufen und das Geheimnis zu lüften.
Und tappte mitten hinein in eine Falle.

Denn als ich mich der Mole näherte, stand ich plötzlich vor einem Kassenhäuschen. Haben die da gerade Geld bezahlt? Kostet die verdammte Mole Eintritt? Frechheit, das habe ich ja noch nie erlebt.
Andererseits, 3 Zloty sind ja nun wirklich ein Kleckerbetrag. Und ich will jetzt wissen, was das für ein komischer Kanal ist - leider konnte ich ihn immer noch nicht sehen. Ich bezahlte.
Und stellte fest: Der "Kanal" ist einfach bloß ein Puffer, damit Schiffe nicht gegen die Steine scheppern. Ein paar Stahlstreben, an die jemand Autoreifen genagelt hat, mehr nicht. Ansonsten sah ich wenig Meer und viel Beton.
Und Schiffe. Sie verrieten mir, dass es eine teurere, aber höchstwahrscheinlich auch unterhaltsamere Möglichkeit gibt, die Mündung zu erkunden.

Und zwar ein Piratenschiff! Eine gewöhnliche Schiffsfahrt ist für polnische Touristen zu langweilig, außerdem haben sie offenbar zu viel Jack Sparrow geguckt. Die Käpt'n-Brass-Hafenrundfahrt in Warnemünde und die Segelschiffe der Hansesail können einpacken - in Polen wird jede Fahrt zum Spektakel mit detaillierter Piratengestaltung, Schauspiel und actiongeladener Musik, die man bis zum Festland hört. Jede Küstenstadt mit einer Mündung hat mindestens ein Piratenschiff. Aus den Lautsprechern trommelte die Werbung für eine Bootsfahrt jedoch nur auf Polnisch, sodass ich mich nicht wirklich angesprochen fühlte.
Kostenlos dagegen ist die Show des Messerjongleurs. Nur wer sich freiwillig meldet, um sich unters die Messer zu legen, während er über einen rüberjongliert, der bezahlt eventuell mit ein paar grauen Haaren.

Die nächsten Kilometer sind nochmal richtig traumhaft. In kleinen Hügelchen radelte ich die Dünen rauf, manchmal sogar mit vollem Blick aufs Meer. Auf der anderen Seite leuchtete mir die polnische Version des Nienhager Gespensterwaldes entgegen, eingetaucht in die orangefarbenen Sonnenstrahlen und alles andere als gespensterhaft.
Nach eine Weile wurde der Wald durch einen kleines Sumpfgebiet abgelöst, und ich konnte gleichzeitig auf Meer und Moor blicken.

Und dann, auf einmal, wurde es düster. Nicht nur die Lichtverhältnisse, sondern auch meine Umgebung, denn aus dem dichten Dickicht der Brennnesseln schälten sich Betonpfähle. Manche standen allein herum, andere waren mit dicken Betonplatten lückenlos verbunden. Das ist doch definitiv eine alte Grenzmauer, oder? Aber wieso gerade hier?

Fest steht: Die Mauer hat eine Nachkommenschaft. Im Seebad Ustronie Morskie riegeln spitze schwarze Zäune eine Gated Community von Ferienhäusern ab, und nur wer eine Schlüsselkarte dabeihat, für den öffnet sich das Tor.
Kaum zu glauben, dass hier einst nur einfache Fischerkaten standen. Aber ziemlich schnell galt es unter den Wohlhabenden als schick, von Kołobrzeg aus noch ein paar Bahnstationen weiter zu fahren und hier zu übernachten, obwohl das Dorf damals noch den wenig einladenden Namen Henkenhagen trug.
Ich blieb draußen beim einfachen Pöbel und schlängelte mich dazwischen hindurch: Irgendwie mussten wir alle durch den engen Kanal zwischen Hotelfassaden und der kleinen Steilküste durchpassen. Das bremste mich nochmal stark aus, weshalb ich schließlich in aller Eile in fast dunkler Dämmerung eine passende Zeltstelle ausfindig machen musste. Anders als bei meiner Radtour am bayrischen Eisernen Vorhang ging diese Strategie (nennen wir es mal so) nicht tierisch in die Hose und ich fand ein schönes verstecktes Stück Waldboden, gar nicht weit vom letzten Hotel.

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