NEU: Die schwedische Halbinsel der Zugvögel

Falsterbo

Samstag, 1. Juli 2023

Von Barth nach Wolgast

Bam! Bam! Bam! Allmählich erschüttern die Betonplatten nicht nur mein Rad, sondern auch meine Nerven. Ich weiche auf einen Streifen Asphalt aus, aber nach ein paar Metern hat er auf einmal eine schmale Lücke mit Warnbake drin. Und kurz darauf die nächste. Komische Baustelle.
Über meinem Kopf versuchen die ersten Sonnenstrahlen, sich zu mir nach unten zu zwängen. Mit mäßigem Erfolg. Seit Wochen herrscht Hitzewelle, aber ausgerechnet meine Sommertour beginnt natürlich mit Nieselregen. Willkommen zur Ostsee, Staffel 3!
So vieles hat sich geändert seit der zweiten Staffel: Ich fahre jetzt allein, bin viel schneller und rase dementsprechend nur so durch die absurd langen Tagesetappen dieser Staffel. Dennoch werde ich die Ostseetour nach dieser Staffel erst einmal nicht fortsetzen können.
Doch egal, es gibt auch Dinge, die vollkommen gleich geblieben sind: Die Wege, das Wetter, die Bahn und das sonstige Chaos der Welt bleiben unvorhersehbar.

Eigentlich ist die Strecke von Barth nach Stralsund auch richtig schön, sobald die Betonplatten aufhören. Sie ist das entgegensetzte Puzzleteil zur Ostzingst-Tour nach Pramort, die ich vor etwa 7,5 Milliarden Jahren gemacht habe. Auf der anderen Seite des Boddens ist die Halbinsel zu sehen. Besonders viele Einzelheiten, abgesehen von Da ist Wald und Da ist kein Wald, habe ich nicht wiedererkannt. Muss ich auch nicht, meine Seite sieht ja auch gut aus. Auch hier krümmen sich ab und zu kleine Küstwäldchen im Wind. Ansonsten: Grün. Das Gras und das Schilf haben fast denselben Grünton und schaffen es so, komplett unauffällig ineinander überzugehen. Stille und Frieden hüllen das Land ein, das ich komplett für mich habe. Das mag an der frühen Stunde liegen. Aber auch daran, dass ich mich heute gewissermaßen in der zweiten Reihe der Mecklenburger Ostseeküste bewege. Die weißen Sandstrände, die Touristenmassen, ja, sogar die DDR-Flüchtlinge und Grenzer damals, das alles liegt inzwischen nicht mehr auf dem Festland, sondern vorne auf den Inseln und Halbinseln. Was mir im Grunde nur recht ist.
Zumal die zweite Reihe in Mecklenburg immer noch viel, viel schöner ist als an der Nordsee.

Nach einer Weile musste ich das Wasser durch Dorfstraßen ersetzen. Eine trug den Titel Allee des Jahres 2014, eine andere hat einen weniger einladenden Namen...

Aber bevor ich runter nach Stralsund abbog, machte ich noch einen kleinen Umweg zur Nordspitze Barhöft. Diesen wunderbaren Weg habe ich am Rande einer Rügen-Radkarte entdeckt, eigentlich gehört er gar nicht zum Ostseeradweg. Zu Unrecht, das war so ziemlich der schönste Abschnitt des Tages! Ja, okay, zugegeben, man fährt ziemlich viel Straße für ein ziemlich kurzes Stückchen am Wasser. Und der Pfad wird auch deutlich schmaler. Aber: Das Wasser eben auch. Hinter dem Bodden erhebt sich die Insel Bock. Die wurde komplett künstlich aufgeschüttet, steht unter Naturschutz und ist gesperrt. Trotzdem kann ich deutlich mehr erkennen als vorhin von Zingst: Jede Menge Wald, zwei alte Leuchttürme und dürre Baumskelette im Sumpf. Das ganze Ufer sieht einfach ungezügelter aus, als hätte man den Bodden endlich von der Leine gelassen.
Aber Moment mal: Wo ist eigentlich der Bodden? Sehen Sie irgendwo Wasser auf dem Foto? Ist die Ostsee etwa schon wieder zu einem kleinen Bächlein zusammengeschrumpft, wie an der Insel Svinø?

Eine Plattform im Schilf und ein echt großer Metallturm beantworten meine Frage: Nee, ganz so schmal ist das Meer dann doch nicht. Muss wohl einfach am Blickwinkel gelegen haben.
Die Nationale Volksarmee der DDR hatte neben diesem Turm ein Raketensilo gebaut. Mittlerweile benutzt statt der NVA der NABU das Gelände. Seine Ausstellung war noch geschlossen, aber der Turm stand mir offen. Zumindest, nachdem ich nach nur wenigen Stunden eine Euromünze fürs Drehkreuz aus den Untiefen meines Portemonnaies ans Tageslicht befördert hatte.

Eine anderes Überbleibsel des Sozialismus ist dieser Vollpfosten mit DDR-Emblem. Sollten Sie also mal am Barhöfter Hafen anlegen und das Symbol sehen: Keine Panik, Sie sind weder durch die Zeit noch zu weit nach Osten gesegelt.

Alles in allem: Die Boddentour Barth-Stralsund inklusive Barhöft ist klar zu empfehlen.
Die Einfahrt nach Stralsund hat mich stark an die nach Wismar erinnert: Grauer Asphalt auf grüner Steilküste, die zwischen den Hecken nur sporadisch zu erkennen ist. Irgendwo darunter ab und zu Strand, der Blick auf die Rügenbrücke und den riesigen weißblauen Werftkasten, der kürzlich leider endgültig pleiteging.

Willkommen in Stralsund, der einst zweitwichtigsten Hansestadt nach Lübeck! In der zweiten Reihe konnten die Stralsunder ihre Schiffe sicher vor Stürmen parken, Deutschlands größte Insel war ein zuverlässiger Schutzschild. Außerdem entdeckte der Apotheker Carl Scheele hier den Sauerstoff, was den Menschen das Atmen ungemein erleichterte.
Das Stralsunder Rathaus sieht aus, als hätte man dem Kopenhagener Rathaus den Turm abgeschnitten, um zu verhindern, dass jemand an die Turmuhr gehängt wird.

Am Wasser besteht Stralsund aus Fisch(brötchen)kuttern, einem Kanal und rotbraunen Häusern. Hier legen Fähren nach Rügen und Hiddensee ab.
Mittendrin erhebt sich ein seltsam geformtes, weißes Ding, das aussieht wie ein Kraftwerk. Es ist das berühmte Ozeaneum. In düsteren Räumen leuchten Aquarien, so groß, dass die Scheiben dicker sein müssen als die neugierigen Arme, die dagegenklopfen.

Zum Beispiel ist da ein riesiges Brandungsbecken, wo in regelmäßigen Abständen eine künstliche Welle auf die Fische bricht, ein Gezeitenbecken, in dem sich der Wasserstand etwas langsamer ändert, das Hamburger Hafenbecken, wo sich Aale in Röhren verstecken, und natürlich das riesige Atlantikbecken, wo ein großer Schwarm Heringe seine endlose Runde dreht. Ein Bereich widmet sich komplett der Ostsee. Ebenso eindrucksvoll ist der Bereich mit den Modellen der vier Walfische in Originalgröße, obwohl dort nichts lebt. Bevor das Ozeaneum eröffnet wurde, gab es in Stralsund schon ein Meeresmuseum, das für die damalige Zeit auch schon sehr sehenswerte Aquarien bot. Das ist inzwischen ziemlich in den Hintergrund gerückt. Ich sollte da mal wieder hinfahren, eigentlich war ich seitdem nur noch im Ozeaneum...

Eine andere Sehenswürdigkeit ist ein Segelschulschiff der Bundeswehr namens Gorch Fock. Nee, nicht das teure Skandalschiff aus Kiel, das so oft in den Nachrichten war - das hier ist die ältere Version, die zwar ausgerechnet aus dem Jahr 1933 stammt, aber trotzdem deutlich weniger Ärger macht als ihr Namensvetter von 1985.

Und nicht zuletzt hat Stralsund auch den besten und schönsten Wasserpark der deutschen Ostseeküste. Der legendäre Wildwasserfluss im Hansedom strömt so gnadenlos stark, dass er mir das Armbänchen vom Arm riss.

Aber nicht alle Gewässer der Stadt sind in so gutem Zustand. Die Altstadt ist im Prinzip fast eine Insel, eingeschlossen vom Bodden, Dämmen und Teichen. Und einer dieser Teiche stinkt. Es sind so viele Schadstoffe drin, dass er zu kippen droht. Ein Tretbootverleiher, der das Problem offen ansprach, machte sich damit in der Stadtverwaltung zu Unerwünschtem No. 1.

Am Ausgang Stralsunds kann ich einfach nicht anders, als den Kopf in die Höhe zu recken - wie denn auch, wenn eine derart riesige Brücke über besagten Kopf hinwegzieht? Nicht ganz so auffällig ist der kleinere Rügendamm, aber für Radler ist er das Tor zu folgenden Inseln: Rügen natürlich, aber auch Dänholm, Ummanz, Hiddensee und sogar Bornholm. Ja, hauptsächlich ist Stralsund immer noch so was wie eine zentrale Insel-Drehscheibe.
Kenne ich alles schon. Heute will ich lieber das Festland meiner Heimat sehen, denn da habe ich noch erstaunlich große Lücken.

Ob das klappt? Der Radführer flößte mir jedenfalls leichte Nervosität vor dem nächsten Abschnitt ein und empfahl, die nächsten 40 Kilometer am besten direkt per Bahn zu überspringen, denn: Zwischen Stralsund und Greifswald droht Kopfsteinpflaster. Und damit es ja nicht aus Versehen durch irgendwas Asphaltiertes ersetzt wird, ist es auch noch denkmalgeschützt. O weh!
Naja. Alles in allem ist das eines der freundlichsten Kopfsteinpflaster, die ich kenne (übertroffen nur von allen Pflastersteinen, die oben zu einer glatten Fläche abgeschmirgelt wurden). Die grauen Steinchen fügen sich ineinander wie die Schuppen einer uralten, schnurgeraden Riesenschlange. Unter meinen Rädern holperten sie nicht, sondern schnurrten eher vorwärts. Und wem das immer noch zu unruhig ist: Ein Teil der Strecke hat sogar Asphaltränder.

Aber ich musste es ja unbedingt besser wissen. Ich fürchtete, das Pflaster könne sich verschlechtern, und ich wollte unbedingt Meer sehen. Am Rande der Rügenkarte war ein wilder Waldweg direkt am Ufer verzeichnet. Vorhin bei Barhöft war es eine gute Idee, dieser Landkarte zu folgen.
Diesmal nicht.
Überhaupt nicht.
Oje, wo bin ich hier gelandet? Aber ich wollte nicht aufgeben, vielleicht wird es ja bald besser. Also steuerte ich freiwillig immer tiefer hinein in einen brennenden Albtraum aus Schilf und Zecken, Gras und Wald, Dornen und Brennnesseln, Sand und Matsch, der meine Waden aufs Übelste malträtierte. Was immer das hier sein soll, es taugt höchstens als Wanderweg. Nur ganz kurz, am Fähranleger nach Stahlbrode auf Rügen, wurden die Wege gut.
Immerhin: Es gibt Brücken über die Bäche. Auch wenn sie sehr gut versteckt sind.

Am Ende dieser Tortour lauert Deutschlands gefährlichste Insel: Riems. Jeden Tag fahren Mediziner vom sicheren Festland über die Brücke, tauchen durch ein Schwimmbecken aus Desinfektionsmittel (hab ich jedenfalls so gehört) und erforschen tödliche Krankheitserreger.
Ich denke, diese Insel lasse ich lieber aus.

Ein Schiff mit Regenbogenflagge zeigt an: Willkommen in Greifswald! Der Marktplatz erinnert erstmal an eine weiße, weniger verschnörkelte Version von Wismar. Aber tatsächlich ist diese Hansestadt im Grunde so was ähnliches wie das Göttingen (oder, um an der Ostsee zu bleiben, das Flensburg) von MV. Also die junge, hippe Fahrrad- und Studentenstadt. Ist jedenfalls mein Eindruck, allerdings war ich vorher auch nur einmal da. 1456 entstand hier die älteste Uni von Deutschland Schweden, denn denen gehörte das hier nach dem Dreißigjährigen Krieg.
Dass von der Greifswalder Altstadt so viel mehr übrig ist als von Rostock, ist der Verdienst von Oberst Petershagen. Der handelte 1945 eine kampflose Übergabe mit den Russen aus.

Zu dieser Altstadt gehört auch der Lange Nikolaus. So wird der Dom genannt, weil er 100 Meter waagerecht misst. Darin kann man seine Gebete (oder auch Wunschzettel an den Nikolaus) an eine seltsame Kurbelmaschine hängen.
Oder man betritt die Aussichtsplattform im Turm durch eine winzige Katzenklappe, die im Gegensatz zum Dom ruhig etwas größer sein könnte. Au, Fahrradhelm nicht vergessen!

Direkt am Ostseeradweg steht ein Turm, der zu den ältesten Gebäuden der Stadt zählt. Der war aber viel kürzer, dicker und zudem gerade abgeschlossen. Der Fangenturm war einerseits Teil der Stadtmauer, aber bei so einem fetten Koloss ist natürlich noch Platz für viel mehr Funktionen. Zuerst waren im Keller Gefangene angekettet (daher der Name), später wurde der Turm zum Lager, zum Pulverturm und die Universität baute ihn zur Sternwarte aus. (Die Sterne wurden nicht angekettet, sondern bloß bespannt.)

Greifswald lässt sich wirklich ganz angenehm durchqueren. Der Radweg folgt dem Fluss Ryck (das ist einfach nur ein slawisches Wort für Fluss) zurück ans Meer. Es wird wieder grüner, die Häuser und Bootsclubs verschwinden.

Kurz vor der Mündung kehren sie aber nochmal zurück. Eine historische Klappbrücke führt ins Fischerdorf Wieck. (Wieso heißen eigentlich so viele Fischerdörfer Wiek? Langsam wierkt das einfallslos.) Das Dorf selbst sah gar nicht mal so historisch aus, abgesehen von den Schilfdächern.
An dieser Brücke starteten einst Schiffer, dann Fischer (das Dorf hat Zungenbrecher-Potential) und irgendwann nur noch Freizeit- und Sportboote.

Die Segelschiffer hatten damit zu kämpfen, dass ihr Hafen versandet. Deshalb verschlossen sie einen Mündungsarm des Ryck und machten den anderen tiefer und gerade. Mittlerweile wird er von einem knallbunten Sperrwerk im Steampunk-Look verschlossen (hinten rechts). Oder wie die zuständige Behörde schreibt: Entwickelt wurde ein Konzept, das im Spannungsfeld von Sicherheit, Funktionalität, städtebaulicher Wahrnehmung und Kosten ein Optimum bildet.
Davor ist zu sehen, wie die Fischer frischen Fisch gefischt haben: Mit einer Bügelreuse (ganz links) oder, falls die Ostsee zugefroren war, mit einem Peekschlitten (vorne links). Der Schlitten wurde per Stange abgestoßen oder per Segel vorwärtsgeweht. Damit kamen die Fischer auf ein ordentliches Tempo, weshalb es auch Wettrennen mit den Dingern gab.

Das ist aber nicht das, wofür diese Ecke am berühmtesten ist - die bekannteste Attraktion wartet am anderen Flussufer.
Im Jahr 1199, also bevor die meisten Städte in MV überhaupt existierten oder richtige Städte waren, bauten ein paar Zisterziensermönche (was anscheinend die einzige Art von Mönchen ist, die hier im Norden überleben konnte) ein Kloster. Und weil in jener grauen Vorzeit der Immobilienmarkt noch nicht so angespannt war, schenkten ihnen die Herzöge jede Menge Land dazu. Dafür wollten sie nichts weiter als mit jeder Menge Pompom unter besagtem Kloster beerdigt zu werden, was die Mönche auch brav taten.

Ein paar Jahrhunderte später machte die Reformation allen Klöstern ein Ende und die Herzöge übernahmen ihren Friedhof selbst, machten daraus ein Amt und benutzten die prächtigen Hallen für ihre Veranstaltungen. Zumindest, bis der Dreißigjährige Krieg und der Zahn der Zeit ihre neue Mehrzweckhalle demolierten. (Ein Jazzfestival findet trotzdem bis heute darin statt, Jazzfans sind da halt nicht so pingelig.)
Die Zeit des Klosters Eldena war vorüber. Kaum jemand wäre wohl auf die Idee gekommen, dass es erst jetzt, im halbverfallenen Zustand, so richtig berühmt werden sollte. Nicht einmal der Maler Caspar David Friedrich, der sich heftig in die malerischen Ruinen verliebte und sie wahnsinnig gern in romantischen Bildern festhielt.
Dass sie heute noch genauso aussehen wie damals, ist aber einem anderen Friedrich zu verdanken: Friedrich Wilhelm IV, König von Preußen. Der stand anscheinend auch auf die Klosterruine und ließ sie schützen, lange bevor es so etwas wie Denkmalschutz gab. Dank ihm kann ich durch die Steinbögen spazieren und Fotos knipsen, die nicht im engeren Sinne an die Gemälde des Maler-Friedrichs heranreichen. Es ist viel übrig, aber nicht genug, dass so richtig klar wird, wie sich die einzelnen Mauern damals ins Kloster eingefügt haben. Ohne Funktion scheinen die ziellosen Ziegel aus dem Boden zu wachsen, und ich schätze, genau das macht den Reiz solcher Ruinen ja aus - Ziegel ohne Kontext.

Wie geht es weiter? Ah ja, immer auf dem Radweg an der Straße lang. Statt der Ostsee wogen goldene Weizenfelder, und von oben brennt die goldene Sonne.
Also, manchmal zumindest.

Am Naturschutzgebiet Lanken fuhr ich nochmal einen Bogen zur Steilküste. Dasselbe Seeungeheuer, das schon bei Kühlungsborn ein Stück Ostseeradweg probierte, hat auch hier wieder zugebissen. Trotzdem ist der Pfad durch den Mini-Wald in gutem Zustand.

Auf dieses Mini-Steilküste folgt mal wieder ein richtiges Seebad: In Lubmin blockiert zur Abwechslung mal keine Insel das Wasser, sodass ich hier (wenn auch nur kurz) in der ersten Reihe gelandet bin. Sprich: Es gibt einen weißen Sandstrand mit Seebrücke. Die Brücke (bzw. ihr Vorläufer) war sogar die Keimzelle des Seebads: 1886 stellten die Lubminer erste Badeanstalten auf Holzpfählen ins Wasser, und damit man da auch hinkommt, bauten sie einen 60 Meter langen Steg.
Der Tourismus reichte damals aber noch nicht als Einnahmequelle, man musste auch fischen. Was 1928 schwierig wurde, weil der Fischfang einfach mal für drei Jahre verboten war. Der Landrat in Greifswald schlug vor, die Fischer könnten doch statt Netzen Teppiche knüpfen. Klingt erstmal ein bisschen nach einem kaltherzigen Vorschlag a la Sollen sie doch Kuchen essen, funktionierte aber tatsächlich: Pommersche Fischerteppiche wurden ein Exportschlager.

Das ist aber nicht das, wofür Lubmin am bekanntesten ist: Kurz hinter der Stadt ragt ein graues Gelände in die Höhe, wo die eben noch vorhandene Urlaubs-Strand-Idylle plötzlich vollständig verfeuert wird. Daraus lässt sich aber leider keine Energie gewinnen. Deswegen schloss die DDR mit den Sowjets einen Vertrag - ihr bislang einziges Kernkraftwerk in Rheinsberg reichte nicht aus. Kurz darauf lieferten die Russen dicke Bauteile für einen zweiten Atommeiler. 1973 startete der erste Block.
Ein Jahr später zeigte ein Elektriker seinem Lehrling, wie man einen Stromkreis überbrückt. Der Lehrling lernte an jenem Tag: Nicht so.
Nicht so, dass die komplette Kühlung einen Kurzschluss bekommt.
Lubmin wäre 13 Jahre zu früh das erste Tschernobyl geworden, wäre nicht zufällig noch eine andere Pumpe angeschlossen gewesen. Ja, es war wirklich kompletter Zufall, der Deutschland davor bewahrt hat, seine eigene Todeszone zu bekommen - und, schlimmer noch, Katastrophentouristen aus aller Welt, die schon immer mal das gespenstisch leere Lubmin sehen wollen.
Weiß nur keiner.
Die DDR hat es wahnsinnig gut verheimlicht. Mit Wirkung bis heute.
Nach der Wende waren der BRD die ganzen kyrillischen Buchstaben auf der Anlage suspekt und sie knipste das Kraftwerk sicherheitshalber komplett ab. Der Abbau hat bisher vier Milliarden verschlungen, sodass das Hauptgebäude lieber erstmal 50 Jahre rumstehen soll in der Hoffnung, dass die Strahlung dann zurückgegangen ist. Bis dahin werden Führungen angeboten.
Das Kraftwerk mag tot sein, aber die sehr effiziente Geheimhaltung des Beinahe-GAUs ist noch sehr lebendig: Immerhin wünschen sich einige diese Energieform zurück, weil man dann ja weniger weniger russisches Gas importieren muss. Für Atomkraft braucht man ja bloß ein Gestein namens Uran, und das stammt im Gegensatz zum Gas hauptsächlich aus einem völlig harmlosen Land namens, ähm, Russland.
Besagtes Gas stammt aus den berüchtigten Röhren Nord Stream 1 bis 2, die ebenfalls in diesem Hafen enden und deren Sprengung vermutlich das meistdiskutierte Rätsel des vergangenen Jahres darstellt, so umstritten, dass sogar schon Sherlock Holmes ermitteln musste.
Es scheint fast, als hätte man dieses Gelände hauptsächlich als ein Symbolbild für alle Energiedebatten von 2022/23 errichtet.

Eine Nummer kleiner, insbesondere in weltpolitischer Hinsicht, ist das Ostseebad Freest. Am Freester Ostseestrand treffe ich zum ersten Mal auf einen richtig, richtig großen Fluss, der in die Ostsee mündet. Die Oder ist dermaßen dick, dass ich ihre Mündung erst übermorgen überquert haben werde. Das ist eine andere Liga als die Warnow oder Trave, wo ich in fünf Minuten per Fähre rüberkomme!
Der erste Mündungsarm der Oder ist der Peenestrom. Es ist auch der größte, 60 Prozent des Wassers nehmen diesen Weg. Das Wasser der Oder und der kleineren Peene ergießen sich am Strand von Freest in die Ostsee. Ansonsten besteht Freese aus Fischerhüten in abweisendem Beige.

Freest mag nicht so sehr im Zentrum des Weltgeschehens stehen wie Lubmin mit seinen Pipelines. Das heißt aber nicht, dass es dem politischen oder technischen Zeitgeschehen hinterherhinkt! Im Gegenteil: Am Hafen beschweren sich die Poster empörter Fischer über EU-Fangquoten, die ihren Job unmöglich machen. Und auch der aktuelle Personalmangel wurde hier mutig gelöst: Freest ist ein vollautomatisiertes Seebad. Aus dem Automaten gibt's nicht nur Eis, Snacks und Souvenirmünzen, sondern sogar heiße Pizza!
Zusätzlich waren ein paar Fischbrötchenstände mit echten Menschen geöffnet. Ausgerechnet ein Geldautomat fehlte jedoch, und ich hatte aber nicht mehr genug Bargeld, also blieben nur die Futterautomaten - die akzeptierten als einzige Karte. Der Pizza-Automat nahm sich ordentlich Zeit für die Zubereitung. Und was soll ich sagen, die Pizza ist wirklich nicht schlecht, auf jeden Fall viel besser als Tiefkühlkost!
Da soll noch einer sagen, in Mecklenburg passiert alles 100 Jahre später.

Kurz vorm Ziel führte mich der Radweg nochmal an den Peenestrom heran, wo mir ein Wegweiser ins Auge sprang: Gustav-Adolf-Schlucht. Nanu? Neugierig folgte ich dem Pfad durch Pferdekoppeln und Löwenzahn. Schluchten sind in MV ja generell nicht direkt eine häufige Landschaftsform, und was hat wohl der schwedische König in einer davon getrieben?
Offensichtlich hat er dort Abitur gemacht. (Nein, hat er natürlich nicht, er wurde hier bestattet.)
Die gesamte Schlucht ist übersät von dicken Findlingen, in die ABI 09 oder ABI 2023 eingraviert wurde. (Zum Glück nur die Jahre und nicht die dazugehörigen bescheuerten Abimottos. Ansonsten wäre die Schlucht ein zeitgeschichtlicher Ort, dessen Besuch man niemandem guten Gewissens empfehlen kann.) Jedes Jahr rollt die Abiklasse ihren Stein gemeinsam über die Kante.
Und die Schlucht selbst? Naja, eine Schneise im Wald, die ein paar tiefer Meter ist als der Rest. Kann man sich schon geben, aber so was gibt es in MV tatsächlich recht oft. Wenn auch in der Regel ohne Abitur machende Könige.

Die ganze Gegend gehörte ja tatsächlich mal zu Schweden, darunter auch das kleine Wolgast. Später gründeten die Sowjets eine Peenewerft, damit ihnen das kleine Hansestädtchen Schiffe als Reparationszahlung baute. So richtig aus dem Tee kam die Stadt aber trotzdem nicht. Auch die Innenstadt sieht eher blass und unauffällig aus. Um das zu ändern, werden zur Sommersaison immer 10 Bildtafeln vors Rathaus gestellt, auf denen man die Stadtgeschichte angucken kann.
Theoretisch jedenfalls.
Entdeckt habe ich die Dinger leider nicht, eventuell wurden sie vor dem Regen in Sicherheit gebracht oder diese Saison einfach vergessen, keine Ahnung.

Außerdem ist Wolgast, genau wie Stralsund, ein Inseltor. Morgen betrete ich von hier aus Deutschlands letzte Insel.
Und verlasse mein Land.

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