NEU: Die schwedische Halbinsel der Zugvögel

Falsterbo

Sonntag, 2. Juli 2023

Von Wolgast nach Warnowo

Das Blaue Wunder - so nennen die Dresdner Wolgaster ihre neue Hubbrücke. Blau ist sie, das ist stimmt, aber ein Wunder? Eher das freundliche Pendant zum Rügendamm. Hier darf jeder auf die Insel, egal ob zu Fuß, zu Rad, zu Zug oder zu Auto. Willkommen auf Usedom, der Badewanne von Berlin und dem Finale der deutschen Ostseeküste!

Eigentlich bin ich ja gestern schon ein Stückchen neben Usedom hergefahren, aber da gabs halt keine kostenlose Brücke, nur eine Fähre. Als erstes mache ich also einen Bogen und hole den Norden der Insel nach. (Der Ostseeradweg macht diesen Bogen nicht mit, der Iron Curtain Trail und der Usedom-Rundweg schon.)
Also gut, dann eben den Peenestrom wieder hoch - auf dieser Seite sehe ich etwas mehr vom Wasser Ein Feldweg schwankt zwischen Kies, Asphalt und Beton, während hübsche Wiesen und Schilf vorüberziehen. Ganz kleine Moore und Seen sprenkeln das Land und bieten den Vögeln wichtige Rastplätze. Wie sind diese winzigen Gewässer wohl entstanden sind? Die Eiszeit mal wieder?
Nicht ganz.
Es sind Bombenkrater.

Denn was die Nordspitze so richtig prägt, ist: Bunker! Während sich das Militär während der letzten Tagesetappen eher zurückgehalten hat, ist es ab jetzt wieder da - und präsenter als je zuvor! Sogar der Deich wurde zu militärischen Zwecken erbaut - er sollte nicht nur vor dem Wasser, sondern auch vor neugierigen Blicken schützen. Man senkte den Grundwasserspiegel ab und legte die Sümpfe trocken (die dann später in Form von Bombenkratern zurückkehrten, schon irgendwie ironisch).
Viele Bunker sind einfach graue Bauklötze, aber manche haben richtige Bögen, die man aus der Ferne glatt für römische Ruinen halten könnte.

Natürlich haben die Römer Usedom nie erobert, ganz im Gegenteil, es waren die Schweden. Im Dreißigjährigen Krieg landete in Peenemünde Gustav II. Adolf, König von Schweden und komischer Typ, der seine Nummer mitten in seinem Namen versteckte. Er buchte sich bei booking.com erstmal direkt ein Zimmer in dem weißen Haus im Bild. Anschließend eroberte er ganz Vorpommern (inklusive der Abiturientenschlucht) und konnte es ganze 90 Jahre behalten.

Ob sich Gustav auch nur ansatzweise hätte vorstellen können, was Jahrhunderte später aus seiner Stadt über die Welt kommen sollte? Wohl kaum.
300 Jahre später begannen die Nationalsozialisten, in Peenemünde ein Spezialgelände für Spezialunternehmen abzuriegeln, denn sie brauchten dringend neue Waffen. U-Boote wie dieses hier reichen ihnen nicht. (In dem Ding ist heute das größte U-Boot-Museum der Welt, so ähnlich wie in Kiel, aber noch eine Nummer größer. Sprich: Man quetscht sich durch noch mehr Rädchen und Schaufensterpuppen in Uniformen.)

Die Nazis wollten nicht unter Wasser, sondern in die entgegengesetzte Richtung, und zwar mit Raketen! Ihr erstes Modell V(ergeltungswaffe)1 startete noch wie ein normales Flugzeug auf einer Startbahn. Berühmter wurde aber ihr Nachfolger V2 - trotz des eher einfallslosen Namens:
Am 3. Oktober 1942 schoss zum ersten Mal eine Rakete senkrecht nach oben - und durchbrach 85 Kilometer über Peenemünde (also etwa eine Tagesetappe, nur dass ich in diese Richtung leider nicht radeln kann) als erstes menschliches Objekt die Grenze zum Weltall.
Dieser Tag gilt als Beginn der Weltraumforschung. Zwar benutzen die Nazis die V2 erstmal nur, um London und Antwerpen mit klassischer Munition in Schutt und Asche zu legen, aber damals war schon längst allen klar, dass es nur eine Frage der Zeit ist, bis irgendeine Weltmacht mit diesem Antrieb zum Mond fliegt oder den Planeten in eine nukleare Wüste verwandelt (wahlweise auch beides).
Kein Wunder, dass die Alliierten versuchten, Peenemünde vorher in eine nichtnukleare Wüste zu zerbomben. Von da an mussten die Zwangsarbeiter die Raketen in einem Stollen bei Nordhausen am Harz unter den schlimmsten Bedingungen zusammenschrauben.
Werner von Braun, der clevere Leiter des Projekts, hatte damit kein Problem. Er hatte schon als Kind mit Treibstoff experimentiert und war praktisch bereit, mit jedem zusammenzuarbeiten, solange er nur weiter an seinen Raketen basteln durfte. Wobei, nach zwei verlorenen Weltkriegen machte er dann doch eine Einschränkung: Es wäre netter, mit den Siegern zusammenzuarbeiten. Also zog er mit seinem ganzen Team in die USA und schraubte unter anderem für Neil Armstrong eine Mondrakete zusammen. Präsident Kennedy hatte damit kein Problem und gab ihm sogar die amerikanische Staatsbürgerschaft, was bei ehemaligen SS-Mitgliedern eigentlich verboten war.

Wem das alles zu heftig ist, der kann das Historisch-Technische Museum auch überspringen und stattdessen über das Dach ins Phänomenta radeln.

Das ist eines dieser Experimentier-Museen, wo Kinder in einer Seifenblase stehen oder ihren Kopf auf dem Silbertablett für ein Foto präsentieren. Das gibt es mittlerweile an allen möglichen Orten, aber das Phänomenta war für mich das erste Museum dieser Art und damit etwas Besonderes. Ich meine auch, es ist unter allen Experimentiermuseen besonders groß und umfangreich - obwohl das Gebäude in meiner Erinnerung größer aussah.


Die restliche Nordspitze ist von Wald und Bunkern bewachsen, hinzu kommen ein Flugplatz und die Reste eines Konzentrationslagers. Teile davon sind nur während Führungen zugänglich. Also trete ich lieber den Rückweg an der Meerseite an und schnurre schnurgerade zurück zum touristischen und nicht ganz so düsteren Usedom, durch viele Farnpflanzen und Seite an Seite mit Straße und Schienen, die auch das Bedürfnis nach etwas Strand haben.

Aber so schnell lässt uns die militärische Nordspitze noch nicht gehen! Erst einmal muss ich mitten über eine Betonplattform radeln. Hier sollte ein Materiallager für die Raketen entstehen, aber das einzige, was rechtzeitig fertig wurde, war der Gleisanschluss. Das Gleis, das heute Touristen heranbringt, transportierte damals Raketen ab und brachte später fertige Raketen aus Nordhausen zum Überprüfen.

Erst in Trassenheide bin ich dann wieder in der ersten Reihe angekommen, wo die letzte deutsche Seebäderkette beginnt. Und tatsächlich wollte ich hier zwei total touristische Attraktionen besuchen, zu denen eigentlich jeder Einheimische jede Menge Abstand hält und wo einem im Grunde jeder sagt: Mach das nicht, das ist überteuert und gar nicht mal so toll.
Mir egal, ich wollte es trotzdem probieren und mir eine eigene Meinung bilden, nachdem ich diese Dinger schon so oft vor meiner Nase gehabt und ignoriert hatte. Das war eine gute Entscheidung, denn indirekt sollte eine der Attraktionen den ganzen Rest meiner Reise prägen.
Zum einen wollte ich eins von diesen Kopfüber-Häusern besuchen. Es stand abgelegen am Stadtrand zwischen anderen platzfressenden Touristenfallen wie Schmetterlingshalle und GoKart-Bahn.
Und was soll ich sagen? Ist echt witzig. Der ganze Körper ist verwirrt, während die Augen immer mehr Einzelheiten entdecken. Der Kühlschrank lässt sich aufklappen und ist voller umgekehrter Lebensmittel (bei Ketchup ist es ja sowieso sinnvoll, ihn so auf den Kopf zu stellen, insofern hätte die Ketchupflasche eigentlich wieder richtig herum sein müssen), das Kinderzimmer voller Spielzeug und die Regale voller Bücher - manche sind sogar echt, andere bloß Attrappen aus Pappe. Also sehr detailliert, aber manche Details kommen etwas billig daher.
Und es ist auch nicht so, wie ich es bei anderen Kopfüber-Häusern zuweilen gehört habe, dass gesetzlich vorgeschriebene Dinger wie Feuerlöscher und Notausgangsschilder richtig herum stehen und damit die Echtheit zunichte machen. Das einzige, was wirklich falschherum (also richtigherum) eingebaut wurde, sind Tür und Treppe - sonst wär das etwas schwierig für die Besucher.

Endlich habe ich den einhändigen Handstand geschafft!
Natürlich haben all die Leute einen Punkt, die sagen: Neun Euro für die paar Räume? Also, ich weiß nicht...
Damit das nicht ganz so viele Leute sagen, hat man rund um das Haus noch ein paar kleine Leuchttürme und andere Modelle aufgestellt (diesmal richtig herum). Eigentlich lautet das Thema Leuchttürme der Ostsee, aber es waren ausschließlich deutsche Leuchttürme - bis auf einen einzigen aus Polen, und sogar der steht fast direkt hinter der deutschen Grenze. Manche erkannte ich wieder, andere (vor allem an den Buchten Schleswig-Holsteins) waren mir immer noch fremd. Dabei fielen mir ganz überraschend zwei Tatsachen auf, die sich ineinanderfügten wie zwei Puzzleteile.
1. Verdammt, ich habe bisher auf meinen Ostseetouren erschreckend selten einen Leuchtturm bestiegen! Eigentlich nur die beiden am Kap Arkona, und den Warnemünder kenne ich natürlich auch. In Dänemark überhaupt keinen.
2. Oha, ich komme heute noch am höchsten Leuchtturm der Ostsee vorbei!


Bis dahin ist es aber noch ein gutes Stück. Ein breiter Radweg brachte mich durch die Seebäder-Kette, rechts blicken Strandvillen aufs Meer, links krümmen sich Parks und kleine Wäldchen über den Spielplätzen und Strandaufgängen. Die Strecke erinnerte mich sehr an Kühlungsborn und gefiel mir sehr gut. Solange die jetzt nicht auf die Idee kommen, Radler und Fußgänger zusammenzuwerfen.

Im Seebad Zinnowitz erwartete mich die andere Attraktion, von der praktisch alle abraten, nämlich die Tauchgondel. Tatsächlich ist das sogar die erste Gondel ihrer Art, ein Ingenieur aus Zinnowitz hat sie erfunden.
Drei Gondeln habe ich an der Ostsee vorüberziehen lassen, aber diesmal wird es klappen. Oder? Ja, sie ist abgetaucht, trotz des kräftigen Windes. Das ist schon mal ein gutes Zeichen. Und tatsächlich, 30 Minuten später durfte ich einsteigen. Im Inneren kassierte ein launiger Kassierer neun Euro und ließ alle auf merkwürdigen Barhocker-Drehstühlen Platz nehmen. Wir warteten. Und schließlich schloss sich die Tür und langsam, ganz langsam, rutschte die Glocke an ihrer Stange immer weiter runter. Unterdessen bekamen wir eine launige Begrüßung. Gäste tuschelten, ein Kind plapperte.
Bis hierhin war es noch ungefähr so, wie ich es mir vorgestellt hatte.

Dann trafen wir auf die Meeresoberfläche. Und mir wurde klar, dass ich mir eine Sache völlig anders vorgestellt hatte: Die Wellen. In meinem Kopf war die Gondel fest an der Stange verankert und von Wind und Wellen völlig unbeeindruckt.
Tja, das ist sie ganz sicher nicht. Die Gondel steckt in einer Art Metallkäfig, und die Befestigung an der Stange lässt ihr eine Menge Spielraum. Genug, damit jede einzelne Welle sie volle Kanne gegen die Käfigstäbe schleudert. BONG! Alter! All die Jahre bin ich durch genau diese Wellen geschwommen, und doch hatte ich keinen blassen Schimmer, welche Kraft sie haben! BONG! Allein diese Erkenntnis war die neun Euro fast schon wert. BONG! Mein Stuhl erbebte, mein Gleichgewichtssinn meckerte, und es kostete mich etwas Anstrengung, nicht noch tiefer in Richtung Fußboden abzutauchen. BONG!
Ein Kind begann zu weinen. BONG!
"Das wird wieder ruhiger, wenn wir ganz untergetaucht sind.", versprach unser Führer. (Dieses Versprechen erwies sich als ungefähr so wetterfest wie eines der Bundesregierung.) Und beruhigte uns dann gleich, indem er erwähnte, dass die Gondel erst letzte Woche mitten während der Fahrt evakuiert werden musste, wegen Stromausfall. Das geht ganz einfach: Per Leiter durch ein Loch aus dem Dach klettern, das die ganze Zeit über aus der Ostsee ragt. Fasziniert schaute ich zu, wie der Meeresspiegel immer höher stieg. BONG!
So, und was ist denn nun zu sehen unter Wasser? Grün. Alles grün. Und ich hatte noch Glück, immerhin saß ich ausgerechnet vor dem Fenster, an dem tatsächlich einmal eine (ungewöhnlich kleine) Qualle vorbeipaddelt. BONG! Wir wurden gefragt, ob jemand die Art erkennt. Ich konnte sie als einziger als Ohrenqualle identifizieren. Diese Quallenangabe machte mich offenbar zum Experten, sodass mir direkt ein Job angeboten wurde - auch die Tauchgondeln suchen dringend Leute. An den anderen Fenstern bekamen die Gäste gar keine Meeresbewohner zu Gesicht. Wobei das streng genommen nicht korrekt ist, denn das Grün ist ja selbst auch ein Meeresbewohner: Algen. Ich befand mich immer noch mitten in der Odermündung, ergo mehr Süßwasser, ergo mehr Algen, ergo ist es eine schlechte Idee, ausgerechnet hier eine Tauchgondel hinzubauen, selbst wenn es zufällig der Heimatort ihres Erfinders ist. BONG! Um Werbung für die anderen Standorte zu machen, verriet uns der Experte auch gleich, wo es eine bessere Idee ist: Je weiter westlich, desto mehr Salz, also gibt es die idealen Sichtbedingungen an der Grömitzer Gondel und/oder an einem klaren, kalten Wintertag: "Dann kann man sogar (!) manchmal die Stützpfeiler der Seebrücke sehen." BONG!
Aber eins muss man dem Tauchgondel-Team lassen: Sie taten alles, um die Enttäuschung (und das ständige BONG!, das mich mittlerweile eher nervte als faszinierte) zu kompensieren. Etwa, indem sie Gehäuse von Schnecken und Muscheln vorzeigten. Oder, indem sie einen bestimmten Moment des Auftauchens als "Entenblick" vermarkteten. (Endlich können Sie die Ostsee mal aus der Höhe einer Ente erleben!) Vor allem aber, indem sie eine süß gemachte, ausgiebige 3D-Doku über alle möglichen Bewohner der Ostsee zeigten. Dabei wurden dann auch konsequent die Rollos runtergefahren, damit die echte Ostsee den Ostseefilm nicht störte.
Kein Wunder, dass das Kind beim Aussteigen plapperte: "Wir haben unter Wasser Fernsehen geschaut!"
"Aber du hast doch auch mal aus dem Fenster geguckt, oder?", fragte der Vater verwirrt, der nicht mitgefahren war.
Wir haben es versucht.

Hinter Zinnowitz rückt für einen kurzen Moment der Bodden mit seinen Salzwiesen ganz nah heran, die Insel wird eng. Für Häuser ist kein Platz mehr, und alle Verkehrswege müssen eng zusammenrücken. Für mich die Gelegenheit, um nochmal zu gucken, wie Usedom von hinten aussieht.
Grün. Sehr grün. Erinnert mich irgendwie an die Tauchgondel.

Mittendrin wird Usedom richtig wild und steil. Zuerst am Streckelsberg, und später dann am Langen Berg. Die Namen sind etwas irreführend, denn der Streckelsberg ist eigentlich viel langgezogener und hat dementsprechend auch mehr steile Kilometer als der Lange Kurze Berg.
Außerdem ist er 58 Meter hoch, ragt weit in die Ostsee und war früher komplett waldlos. Damit das Meer den Berg den Berg nicht abrasiert, hat ihn Oberförster Schrödter mit Buchen bepflanzt, schon damals hauptsächlich für die Touristen.
Keine Ahnung, ob es am Zinnowitzer Fischbrötchen lag oder ob die Karte bei den Steigungen einfach übertrieben hat, jedenfalls bin ich ziemlich gut über die Berge rübergekommen und konnte dabei die knorrigen Bäume, die frische Waldluft und nicht zuletzt die guten Waldwege genießen - den Teil hatte ich mir schwieriger vorgestellt.

Wenn hohe Berge das Meer berühren, bedeutet das in der Regel: Steilküste. Die habe ich auch ab und zu zu Gesicht bekommen. Sie ist ziemlich zugewachsen, und die üblichen Holztreppen bahnen sich im Zickzack durch das Gestrüpp in Richtung Strand.

Zwischen den wilden Bergen verbirgt sich noch Ückeritz, ein Seebad, das fast ausschließlich auf Holzstege gebaut wurde. Nach all dem Auf und Ab hatte ich das Gespür für meine Höhe verloren und dachte, da hinten führt bestimmt wieder so eine ewig lange Holztreppe zum Wasser.
Diese Treppe war fünf Meter hoch. Naja, das schaffe ich, also ab ins Wasser. Es ist Zeit für das erste Bad in der Ostsee! Hm, der Seebrückentyp hatte recht, es ist wirklich weniger salzig hier. Aber in meine Flasche fülle ich das Zeug trotzdem nicht.

Tja, und damit ist alles, was von der deutschen Küste noch bleibt, die Dreifaltigkeit der drei Kaiserbäder. In diesen Seebädern badete Kaiser Wilhelm II. sowie alle anderen, die einen Adelstitel oder zumindest ordentlich Geld hatten.
Das erste, jüngste (gerade mal von 1896) und langweiligste Kaiserbad heißt Bansin. Die Häuser und die Seebrücke sehen eher standardmäßig aus. Außerdem ist Bansin das einzige Kaiserbad, das als reiner Badeort gegründet wurde, und das einzige, das keinen Fisch im Namen hat. Stattdessen haben die Bansiner einfach den Namen eines Bauerndorfs weiter hinten übernommen.

Fahrradfreundlich ist Bansin auch nicht gerade. Wer kommt denn auf die Idee, die Zielgerade von einem der beliebtesten Radfernwege Deutschlands ohne Grund (der Platz würde für Rad- und Fußweg reichen) plötzlich in eine Fußgängerzone umzuwandeln, und erwartet, dass die Radler dann wirklich alle absteigen?
Antwort: Die Bansinerin, die allen Radlern (immerhin halbwegs höflich) zurief, sie sollten absteigen und Rücksicht auf die Kurgäste nehmen.

Heringsdorf ist das zweite, modernste, aber trotzdem, nanu, das älteste Kaiserbad?! Damit hätte ich nun echt nicht gerechnet. Gläserne Scheiben und moderne Fassaden, soweit das Auge reicht! Die Bühne an der Promenade sieht aus wie eine Muschel aus Glas und Stahl, und sogar die Hecken wurden in unnatürliche Glockenformen (beziehungsweise Tauchgondelformen) zugeschnitten.

Zumindest was die Seebrücke angeht, habe ich eine Erklärung, warum sie mit modernen Glaspyramiden überdacht ist: Die Brücke brannte in den 50ern ab. Aber schon das Original war eine Brücke der Superlative: 400 Meter waren den Heringsdorfern nicht genug, sodass sie nachträglich nochmal 100 Meter anhängten. Bis heute ist das mit 508 Metern die längste Seebrücke Deutschlands. Sie ragt nicht nur superweit ins Meer, sondern auch ins Land rein: Anders als bei anderen Seebrücken konnte ich nicht einfach am Start vorbeiradeln, sondern musste in einem Tunnel untendurch.

Eine Glaswand teilt die Besucherströme in zwei Spuren, damit es nicht zu Kollisionen kommt (außer zwischen der Glaswand und Leuten, die nicht sehen, dass da eine Glaswand ist). Die Brücke bietet dem braven Besucher folgende Aktivitäten: Souvenirs kaufen und am Anfang der Brücke in einem Eiscafé Eis essen, weil es ziemlich cool ist, auf Deutschlands längster Seebrücke einen Eisbecher gegessen zu haben, nur um später festzustellen, dass es genau dasselbe Eiscafé auch mitten im Meer am anderen Ende der Brücke gegeben hätte, was natürlich noch cooler gewesen wäre.

Bei der dritten Seebrücke in Ahlbeck stellt sich so ein Problem nicht, hier gibt es nur ein Restaurant zur Auswahl, also heißt es ganz klar: Jetzt wird gegessen, sonst kann ich sehr, sehr ungemütlich werden.
Im Grunde bestand die Seebrücke praktisch nur aus diesem Restaurant (und tut es immer noch für alle, die Loriot kennen), bis sie irgendwann auch nach hinten verlängert wurde. 

Auch hier spiegelt die Seebrücke den Ort wieder: Ahlbeck ist das klassische, villenartige und möglicherweise beliebteste der drei Kaiserbäder. Auch wenn es überraschenderweise nicht das älteste ist, lebten hier immerhin schon seit dem 12. Jahrhundert ein paar Fischer, nur halt nicht sehr viele. Das wollte Kaiser Wilhelm gern ändern und er ließ den Ahlbecker See ab, um neue Siedler anzulocken. Der Plan ging nicht auf, denn das Land war trotzdem zu sumpfig zum Bauen.
Nichtsdestotrotz wurde Ahlbeck ein sehr beliebtes Reiseziel, und stünde der trockengelegte See nicht unter der Naturschutz, dann wäre ein Stück davon, egal wie schlecht der Boden auch sein mag, mittlerweile nur noch für Fantastilliarden zu bekommen.
Und außerdem ist Ahlbeck der letzte deutsche Ort.

Ich musste nur noch ein Stück durch den Wald radeln, dann erreichte ich eine orangene gepflasterte Fläche. Wobei, komplett orange ist sie nicht: Eine kleine graue Linie verrät, das hier das nächste Ostseeland beginnt. Und wer sie übersieht, für den wurde das ultimative Symbol der Völkerverständigung aufgestellt: Eine Hose aus Stahl. Nee, Spaß, das Ding soll eine Klammer darstellen, die Deutschland mit Polen verbindet. Solaranlagen saugen die Sonne ein, und dahinter erstreckt sich ein ziemlich breiter, gerodeter Grenzstreifen, über den sich ein Wanderweg aus Sand zieht. Nanu, der Eiserne Vorhang verlief doch gar nicht auf dieser Linie? Stimmt, aber trotzdem war das noch lange keine grüne Grenze. Man sollte nicht vergessen, dass an dieser Stelle bis 2007, also vor dem Schengen-Abkommen, immer noch kontrolliert wurde. 2011 machten sich die beiden Länder dann daran, aus dem ehemaligen Übergang die längste Strandpromenade Europas zu machen, und dazu die einzige internationale (und noch dazu am längsten Strand Deutschlands). Wobei, wenn ich ehrlich bin, der letzte Kilometer hatte eher wenig von einer Strandpromenade, sondern war halt einfach nur ein Fuß- und Radweg im Wald. Aber die Symbolik ist natürlich nett.

In Richtung Ostsee muss man nicht auf dem Sand latschen. Hier windet sich ein hölzerner Steg im Zickzack hin und her. Da war kein Betrunkener am Werk, sondern das ist Absicht: Die Leute sollen eben gerade nicht wissen, in welchem Land sie gerade sind, in der (bislang meist unerfüllten) Hoffnung, dass die Menschen Grenzen in Zukunft nicht überbewerten. Nur hin und wieder verraten solche Grenzpfosten, dass man gerade genau zwischen zwei Staaten steht.
Am Strand selbst ist die Grenze dann überhaupt nicht mehr zu erkennen.

Neues Land, neues Glück! Mal sehen, was die Republik Polen für mich bereithäl... Moment mal, was? Rote Radwege, noch mehr rote Radwege, so viele Radwege? Wo kommen die auf einmal alle her? Ein Radweg an der Straße, und parallel dazu noch einer an der Promenade?
Verflixt.
Ich muss irgendwo falsch abgebogen und aus Versehen in den Niederlanden gelandet sein.
Das hier kann auf keinen Fall das Land sein, dessen Regierungschef gesagt hat, er wolle keine Nation von Vegetariern und Fahrradfahrern haben.

Aber ausgerechnet der Ort, über den ich gehört habe, dass man da angeblich Radfahren kann, war völlig ungeeignet: Der Strand.
Womöglich denken Sie jetzt: Wo hat der Trottel denn so einen Quatsch gehört? Aber ja, Menschen haben mir versichert, sie hätten gesehen, wie Radfahrer fröhlich über den Swinemünder Strand radeln. Und als ich vor ein paar Jahren im Januar (ohne Rad) zum ersten Mal hier war, da war der Strandsand so fest, dass ich mir das sogar vorstellen konnte.
Im Juli aber nicht. Da hatte der Strand eine ganz normale Konsistenz, die sich wie bei jedem Strand zum Radeln ungefähr so gut eignet wie eine Wüste zum U-Boot fahren. Man kann höchstens bis zum Rand des Betonplattenfeldes radeln, welches einen barrierefreien Weg in Richtung Wasser darstellt.
Die Mülleimer sind übrigens hervorragend gegen Sturmflut gesichert.

Die Strandpromenade sah zunächst sehr modern und edel aus. Sie hat sogar ein Gratis-Gradierwerk, um das jeder herumlaufen und gesunde Salzluft einatmen kann, während Salzwassertropfen das Schilf runterrinnen. Die meisten genossen die gesunde Luft jedoch lieber aus einem Meter Sicherheitsabstand, sitzend auf einer Parkbank.
Aber je weiter ich meinen Weg fortsetzte, desto mehr fiel mir die Eigenheit der polnischen Seebäder ins Auge. Immer mehr Stände tauchten auf, es wurde lauter und greller. Ich hob erst einmal einen Batzen Złoty-Scheine ab, Geldautomaten gab es ja mehr als genug. (Kartenzahlung ist ähnlich wie in Deutschland manchmal nicht möglich.)

Świjnouście a.k.a. Swinemünde war mal das drittgrößte deutsche Ostseebad und wurde von den Amerikanern im Zweiten Weltkrieg komplett plattgebombt, wobei die Zivilisten zu den am wenigsten geschützten im ganzen Krieg gehörten. Hinterher mussten die überlebenden Deutschen ausziehen, und die Polen stellten fest, dass ihre neue Stadt eingezwängt war zwischen dem Wasser, der DDR und der sowjetischen Armee, die immer noch im Kurviertel abhing, ohne jede Verbindung zum polnischen Festland. Erst als die Sowjets in den 50ern abzogen, wurde die Schwäche auf einmal zur Stärke. Polen hat sonst kaum Inseln, also kamen gerade wegen der abgeschiedenen Lage die Polen gern zum Baden rüber, und nach der Wende auch immer öfter die Deutschen auf einen Tagesausflug aus den Kaiserbädern.
Als ich die Stadt das erste Mal besucht habe, stellte ich überrascht fest, dass dieser Ort quasi die Mischform aus meinen beiden Heimatwelten ist: Glatte Promenaden der Mecklenburger Seebäder und die schäbige Schönheit ostböhmischer Städte ergeben zusammen ganz genau diese Innenstadt, die sich von gläsernen Hotels oben an der Strandpromenade kaum stärker unterscheiden könnte. Obwohl beide gleich stark belebt sind.

Mit meinen Tschechischkenntnissen kann ich etwas Polnisch verstehen. Die Betonung liegt auf etwas.
Hauptsächlich geschriebenes Polnisch. Die Aussprache scheint nämlich zwei Regeln zu folgen:
1. Egal, was du denkst, wie es ausgesprochen wird, es wird anders ausgesprochen.
2. Nuschle, was das Zeug hält.
Das machte diese ganze Reise zu einem faszinierenden Dauerrätsel. Es war ein bisschen, als hätte ich vor ein paar Wochen begonnen, eine neue Fremdsprache zu lernen, aber viel chaotischer, unsystematischer und unvorhersehbarer. Mal schnappte ich auf der Straße eine längere Wortfolge auf, bei der mir sofort absolut klar war, was das bedeutet. Und dann wieder stand ich vollkommen ratlos vor zwei ganz simplen Worten und hatte absolut keinen Plan, so, als hätte ich noch nie auch nur ein einzige Silbe irgendeiner slawischen Sprache gelernt.
Die meiste Zeit aber verbrachte ich mit dem Mittelding: Vor einem Schild grübeln mit einer realen Chance, die Bedeutung herauszufinden.
Zum Beispiel glaubte ich in Świnoujscie folgendes zu lesen: Ein Haus des Berges mit den Beinen? Wat? Eine Art Bergwanderhütte - hier im Flachland?
Nein, es ist ein Haus mit den Beinen nach oben - also wieder ein Kopfüber-Haus! Die Dinger sind in Polen genauso verbreitet wie in Deutschland und meistens ganz hübsch mit Fachwerk gestaltet.

In Swinemünde mündet, wenig überraschend, die Swine a.k.a. Świna, der zweite Arm der Oder. Es ist der wohl verkehrsreichste Mündungsarm, und seine Mole wird ausnahmsweise nicht von einem Leuchtturm bewacht, sondern von einer Windmühle. Oder? Im Prinzip ist die Stawa Młyny schon ein Leuchtturm, denn sie wurde von Anfang an gebaut, um den Schiffen den Weg zu weisen, und nachts kann sie auch kräftig blinken. Die Mühlenflügel zermahlen nichts, sie drehen sich nur dekorativ im Wind, damit der Turm auch tagsüber aus der Ferne besonders gut zu erkennen ist.

Egal, ob die Schweden, Polen, Preußen, Russen oder Deutschen die Stadt gerade unter ihrer Kontrolle hatten, sie alle wollten unbedingt die Mündung des großen Flusses verteidigen. Deswegen ist das Ufer der Świna gesäumt von Festungen. Das Fort Zachodni, nanu, Toilettenfort, ach nee, Westfort, wurde von Preußen gebaut und kommt als großer grüner Bunker eher modern-martialisch daher. Die Soldaten aus diesem Fort gehörten zu denen, die den Zweiten Weltkrieg starteten - wie genau, werde ich am Ende dieser Reise herausfinden. Als die Sowjetarmee das Haus aufgab, kehrte endlich Frieden ein und die brutale Batterie wurde zum Gemüselager.
Das Fort Aniola, also Engelsburg, sieht dagegen fast schon antik aus, und tatsächlich ist es an das Grabmal von Kaiser Hadrian in Rom angelehnt.

Alles schön und gut, aber wie komme ich jetzt über den Fluss? Mit einer großen Fähre, die eine recht ungewöhnliche Auswahl unter ihren Fahrgästen trifft. Radler und Fußgänger können komplett gratis fahren, Autofahrer dagegen dürfen, selbst wenn sie bezahlen, nur dann drauf, wenn sie ein Swinemünder Kennzeichen haben, außer nachts.
Online hagelt es wütende Bewertungen für diese Fähre von verärgerten Touristen, die einen Umweg machen und bei der anderen Fähre weiter südlich lange anstehen mussten: Diskriminierung! Fähre nur für Polen! Was ja an sich nicht stimmt, denn 99,9 Prozent aller Polen dürfen auch nicht mit ihrem Auto drauf, weil sie in irgendeiner anderen polnischen Stadt leben (während Deutsche, die sich dank der EU-Freiheit in Świjnouście niederlassen und ihr Auto dort anmelden, die Fähre nutzen dürfen). Und trotz dieser Regel und obwohl die Fähre alle 20 Minuten ablegt, war sie sehr gut gefüllt - ich will nicht wissen, wie es dann ohne die Regel aussähe. Ab diesem Monat soll sowieso der brandneue Swinetunnel das Problem lösen, sodass sich niemand mehr diskriminiert fühlen muss. Laut EU-Kommission ist es der längste Unterwassertunnel Europas, was ich nicht so recht glauben kann - was ist denn mit dem Eurotunnel? Die Kommission scheint eine eigenwillige Definition des Wortes Unterwassertunnel zu haben.

Die Mühle vorhin war übrigens nicht das Einzige, was Świjnouście leuchtturmmäßig zu bieten hat. Im 12. Jahrhundert entfachten die Swinemünder auf einer Anhöhe ein fettes Feuer, um die Schiffe den Fluss runterzuleiten. Das war aber nicht nur brandschutzrechtlich heikel, sondern auch eine sehr fehlerhafte Methode, denn immer wieder lockten falsche Irrfeuer die Schiffe auf die nächstbeste Sandbank. Nach dem Motto klotzen, nicht kleckern stapelten die Swinemünder also beigefarbene Ziegel 68 Meter hoch und schufen den höchsten Leuchtturm der kompletten Ostsee. Schon während der Fährfahrt konnte ich einen ersten Blick auf den fernen Riesen zwischen den Kränen werfen. Noch wusste ich nicht, dass es auch der einzige Blick sein würde.

Der Turm inklusive Leuchtturmwesen-Museum macht 18 Uhr dicht, schaffe ich das noch? Wird schon.


Ich folgte also flott der Straße aus dem industriellen Ostteil der Stadt raus. Nun hatte ich Usedom verlassen und befand mich auf einer polnischen Insel namens Wolin. Jetzt musste ich im Bogen diese Brücke hoch und dann wieder Richtung Norden... wie, die App sagt, das ist alles gesperrt? Quatsch, das muss ein Fehler sein, die werden ja wohl nicht den kompletten Stadtteil sperren.
Moment, und was macht dann das Fahrradverbotsschild da? Das gilt bestimmt nur für die Fahrbahn und nicht für den Radweg, alles andere würde doch gar keinen Sinn ergeben.
Zuversichtlich strampelte ich über die Brücke und stand vor dem dritten Verbotsschild - ein Haufen polnischer Text, von dem ich nur wenig begriff. Aber die Straßensperre mit dem Pförtnerhäuschen, die völlig leere Straße und die tiefschwarzen Autos dahinter verunsicherten mich dann doch. Was geht denn hier ab? Ich fragte Google Übersetzer nach der Bedeutung des Schilds, doch noch ehe mir das EU-weite kostenlose Datenroaming eine Antwort heranschleppte, brauste eines der schwarzen Autos vor. Ein junger Mann textete mich höflich, aber ernst, mit einem polnischen Sermon zu, und ich musste erstmal deutlich machen, dass ich nichts verstand. (Merke: Polen switchen durchaus gern zum Englischen, sofern sie es können, aber es ist ihnen gesetzlich verboten, ein Gespräch auf Englisch zu beginnen. Auch dann nicht, wenn dein Äußeres 10 Kilometer gegen den Wind Tourist! schreit.) Daraufhin erhielt ich zunächst die erfreuliche Anrede "Sir" und anschließend die weniger erfreuliche Auskunft, das hier wirklich nicht, auf gar keinen Fall, ein Durchkommen sei. Warum auch immer. Eine Militärübung? Oder hat es was mit dem Ausbau des Hafens zu tun? Lange bevor Deutschland auf solche Ideen kam, hat Polen hier schon ein LNG-Terminal für Flüssiggas aus Katar gebaut, um unabhängiger von Russland zu werden. Nun bauen sie auch den Containerhafen aus und wollen kein zweistaatliches Umweltgutachten machen. Das sorgt für Streit mit der deutschen Seite, die um ihre Natur fürchtet.
So oder so, es ist ärgerlich, denn so bleiben mir sowohl der Leuchtturm als auch der Ostseeradweg verwehrt. Ich blieb notgedrungen noch eine Weile auf der unteren Straße, mittlerweile ohne Radweg, bis es eine Möglichkeit gab, die Schienen zu überqueren und ich wieder auf dem richtigen Waldweg landete.

Es handelt sich um einen jungen und schlanken Küstenwald, durchstrahlt von jeder Menge Sonnenlicht. Aber zugleich auch um einen Militärwald, unter dem sich eine komplette unterirdische Stadt erstreckt, in die kein Sonnenstrahl dringt, sondern ausschließlich künstliches Licht.
Der älteste Teil der Anlage stammt noch von den Deutschen aus den 1930ern. Der eigentliche Hauptbunker ist nur mit einer Führung zugänglich, aber was ist das? Der kleine Bunker da in den Dünen sieht offen aus, kann ich da etwa reinspazieren? Kann ich, sofern mein Handy genug Strom für die Taschenlampe hat oder sofern ich kein Problem damit habe, mich ständig zu stoßen. Die weißen Zimmer sind voller Müll und mit seltsamen, fast schon gotisch-spitzen Durchgängen verbunden. Etwas beklemmend, wenn auch längst nicht so sehr wie die Straßensperre vorhin.

Noch weißer und ungewöhnlicher ist der Dzwon. Das bedeutet Glocke, und mit ein bisschen Fantasie sieht der Feuerschutzturm aus dem Jahr 1939 tatsächlich so aus. Leider kann man ihn allem Anschein  nicht besteigen, und überhaupt ist alles fast an diesem Turm gleichgültig und abweisend. Nur an die eine Ecke hat irgendwer ganz überraschend ein paar Fahrradständer drangeschraubt.

Der polnische Ostseeradweg hat dieselbe Nummer wie der europäische: Sein Name ist R10. Die Polen malen sein Schild am liebsten auf Baumrinde.

Auch das europäische Symbol taucht immer öfter auf, jedoch sind diese reflektierenden gelben Schilder sehr schambehaftet: Sobald der Weg irgendwie schlechter wird, ist ihnen das peinlich und sie verziehen sich für die nächsten 20 Kilometer. Alles in allem ist die Beschilderung lückenhaft, aber hier im Westen noch am besten.

Das zweite polnische Seebad heißt Międyzydroje (früher Misdroy), das heißt zwischen den Maschinen? Nee, keine Ahnung. Die gläsernen Hoteltürme sind phantasievoll verdreht.

Hier gibt's eine Modellausstellung, die im Grunde ein perfekter Ausgangspunkt für eine Ostseeumrundung wäre. Oder ein Ersatz, falls einem die echte Ostsee zu weit ist. Im Bałtzcki Park Miniatur (das braucht keine Übersetzung, denke ich) wurde ein Teich in Form der Ostsee angelegt und mit Modellen berühmter Gebäude aus allen neun Ostseeländern umgeben. Auch hier darf der Swinemünder Leuchtturm nicht fehlen, und MV wird durch das Schweriner Schloss repräsentiert.

Der Park macht 19 Uhr dicht, schaffe ich das noch? Ah, nein, verdammt, zu spät. Schaaade.


Dann finde ich stattdessen halt heraus, wie eine polnische Seebrücke aussieht. Ergebnis: Anders. Um genauer zu sein, voll, laut, bunt und kalorienreich. Am Anfang steht eine gläserne Markthalle, in der lauter gesundes Gebäck wie zum Beispiel Baisers mit Schokolade, Streuseln und Marshmallows drauf verkauft wird. Schon das Angucken erhöht das Risiko eines Herzinfarkts in medizinisch messbarer Weise.
Der offene Teil sieht aus, als hätte irgendwer eine dieser Kinderspielhallen im amerikanischen Stil vom Rande der Stadt genommen und über der Brücke ausgekippt. Feuerwehrautos und Plastikpferdchen drängen sich aneinander, und die Kleinkinder wissen gar nicht, welcher Figur sie das Gewicht ihres soeben verzehrten Marshmallow-Baisers zuerst anvertrauen sollen.

Weiter hinten folgen noch mehr Geschäfte, Automaten und dazwischen vibrieren immer stärker ohrenbetäubende polnische Schlager. Trotz dieser fast schon militärischen Abwehrmaßnahme gelang es mir, bis nach hinten vorzudringen. Mit großer Begeisterung schwangen die polnischen Paare das Tanzbein. Bei mir verweigerten dagegen schon die Trommelfelle ihren Dienst. Ich bin damit sozialisiert, dass Seebrücken einfach ein paar halbwegs ästhetische Bretter sind, auf denen Rentner ruhig ins Meer flanieren - an diese grelle Art von Brücke müssen sich meine Augen und Ohren erst noch gewöhnen.
Aber die Ruhe der Natur ist schon in Sichtweite. In der Ferne ragt die Steilküste 95 Meter in den Himmel und erinnert mich entfernt an die Klippen Bornholms. Irgendwo dort verbirgt sich Polens zweitniedrigster und gleichzeitig (durch die hohe Klippe) höchster Leuchtturm mit dem plattdeutschen Namen Kikut. Treppen, alte Grenztürme und schöne Aussichten soll es in dem Gebiet geben, aber leider keine Radwege. Das Gelände zu Fuß zu erkunden, wäre eine Halbtageswanderung, und dieser Tag ist definitiv mehr als halb rum. Macht nichts, denke ich, Polen wird ja noch viele erstaunliche Steilküsten haben.
Hat es nicht. Tatsächlich ist Polen deutlich weniger Steilküsten-Land als Deutschland oder Dänemark. Spoiler: In diesem Land ist die spektakulärste Ostsee-Landschaft erstmals keine Steilküste, sondern etwas anderes.

Die Radler umgehen die Steilküste im Nationalpark Wolin. Das hölzerne Tor verkündet, dass jedermann gefälligst eine Eintrittskarte lösen soll. Auch dann, wenn die Kasse schon geschlossen ist - scannt gefälligst den QR-Code. Mir egal, dass dein Internet nicht reicht, jede Person ist selbst dafür verantwortlich ein Ticket zu kaufen!
Diesen Satz konnte der Nationalpark problemlos ins Deutsche übersetzen, danach war er mit den Übersetzungen eher geizig. Deutsche erfahren zwar, dass die Fledertiere (vermutlich die genderneutrale Bezeichnung der Fledermaus) zu den Tire des Waldes gehören, aber mehr auch nicht, vollständige Sätze bleiben den Polen vorbehalten. Auch das Wisentgehege hatte seine Pforten längst geschlossen.
Doch wen kümmerts? Der Wald ist Attraktion genug. In der Abenddämmerung steigt ein ganz leichter Nebel aus den Hügeln auf, und ganz, ganz allmählich löst sich der Nationalpark und die Bildqualität meiner Fotos immer mehr auf. Aber auf eine fotogene Weise.

Still und gepflegt liegt das Dörfchen Warnowo am Rande des Nationalparks. Über dem hölzernen Nationalparkschild flattern die EU-Flagge und die polnische Flagge einträchtig nebeneinander.
Ich wartete etwa eine Stunde am Bahnübergang, bis aller Züge durchgezogen waren, und steuerte dann meine Übernachtung an.

Warum meine Tour ausgerechnet in diesem Dörfchen endet?
Wegen Corona.
Eigentlich ist in Polen wildes Zelten generell verboten, es wird halt nur nicht verfolgt, außer in Nationalparks. Angeblich wurde seit 30 Jahren kein Bußgeld mehr deswegen ausgesprochen.
Im ersten Lockdown wollte die Regierung dann dafür sorgen, dass die Polen zumindest in der eigenen Wildnis völlig legal Urlaub machen können. Und sie wählte dieselbe Lösung, die Dänemark seit Langem praktiziert: Auf einer Onlinekarte kann man nachgucken, welche Flächen zum Zelten freigegeben sind. In erreichbarer Nähe des Ostseeradwegs sind es bloß zwei, eine davon halt südlich von Warnowo.
Vor Ort wies kein Schild des Umweltministeriums (wie in Dänemark) und auch sonst nichts auf die Legalität hin. Nichts, abgesehen von der Tatsache, dass der flache Boden mit kurzen Gewächsen drauf wirklich gut geeignet war, um sich dort hinzubetten.
Aber ich bezweifelte, dass alle Anwohner die Regel kannten, und weil ich keine Lust auf eine Diskussion hatte, verbarg ich mich zur Sicherheit hinter schützenden Ästen einer Tanne.
Es dauerte nicht lange, da hatte mich zusätzlich der Nebel eingehüllt.
Und der Schlaf.

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