NEU: Die schwedische Halbinsel der Zugvögel

Falsterbo

Samstag, 8. Juli 2023

Von Swarzewo nach Sopot

Quietschend riss mich der erste Zug des Tages aus dem Schlaf. Das ist nur passend, schließlich hat mich der letzte Zug des Tages gestern Nacht in den Schlaf gewiegt. Verschlafen rieb ich meine Augen. Die Stelle war eigentlich ganz angenehm, aber das waren zu viele wilde Nächte in Folge. Ich brauche jetzt dringend eine richtige Unterkunft.
Wo bin ich überhaupt? Der Nebel hatte alles eingehüllt. Polnischer Nebel drückt auf die Landschaft wie eine fette feuchte Decke und lässt die Sonne sehr, sehr, sehr merkwürdig aussehen.

Unwetterwarnung: Im Bereich der Danziger Bucht ist mit dem Kugelblitz aus Umbrella Academy 3 zu rechnen. Passen Sie auf sich auf. Besonders Autofahrer und Schwäne bitten wir um erhöhte Aufmerksamkeit, da der Blitz es auf sie speziell auf sie abgesehen zu haben scheint.

Ich futterte mein Frühstück am Bodden auf einem merkwürdigen Rastplatz namens Punkt widokowy Kaczy Winkel, der offenbar sowohl für LKW-Fahrer als auch für Radler gedacht ist. Das Dixi-Klo stinkt mörderisch, und der Nebel hat alles Holz durchnässt, sodass ich mich nirgendwo hinsetzen kann.


Aber gerade mal eine halbe Stunde später sieht die Welt ganz anders aus: Ich erreiche Puck, und der Himmel strahlt. Im 12. Jahrhundert marschierten dort die Kreuzritter ein und zeigten sich eher bürokratisch als kämpferisch, indem sie einen Fischmeister als Beamten einsetzen, der den kompletten Fischfang im polnischen Korridor kontrollieren sollte. Für die Pucker war das ganz gut, denn so bekamen sie für Jahrhunderte das Recht, mit Schleppnetzen bis auf die offene Ostsee zu schippern. Als der polnische König zwischendurch die Stadt übernahm, übernahm er diese Rechte und erweiterte sie sogar, weil die Pucker so tapfer gegen die Schweden gekämpft hatten.
Aber wie ich ja gestern gelernt habe, bekam erst im Jahre 1918 die zweite polnische Republik endgültig diese Küste. Puck wurde Polens erster Seehafen, die Blaue Armee zelebrierte ganz feierlich Polens Vermählung mit dem Meer, und diese Feier wird bis heute wiederholt in der Hoffnung, dass das Meer irgendwann sogar "Ja, ich will" antwortet. Auf Deutsch hieß der Ort Putzig - endlich mal ein süßer deutscher Name, für den ich mir nicht an den Kopf fassen muss. Inzwischen ist der Hafen zwar nicht mehr wichtig, aber egal, die kurze Bedeutung reicht der Stadt, um mächtig stolz zu sein und sich ordentlich herauszuputzen, mit Flaggen, modernen Kunstwerken und stylischen Bodenplatten.
Und so langsam merke ich: Jetzt bin ich wirklich weit nach Osten gefahren. Es ist schwer in Worte zu fassen, aber diese Häuser sehen nicht mehr nach Norddeutschland aus, sondern irgendwie ein bisschen fremdartiger.

Das Hafenstädtchen hat auch seine eigene Steilküste.
Jetzt ist es wieder warm, da kann ich ja meine kurze Hose anziehen... komisch, wo ist die hin? Die war doch gestern noch da?

Während Deutschland eher höflich Rücksicht macht Wege breit auf den Asphalt pinselt, fordert Polen (gegebenenfalls sogar für seine Katzen) in weißen Großbuchstaben: ZWOLNIJ ! (MACH PLATZ!)

Kurz vor Rzucewo durfte ich dann wieder zwischen Wald und Wasser durchfahren. Das Dorf hat ein wehrhaftes Schlosshotel mit spitzen Zinnen, eine große Aussichtsplattform auf einem Hügel und ein Steinzeitdorf, in dem aber alle Hütten verschlossen, verrammelt und nur auf Polnisch beschriftet waren. Dementsprechend habe ich nicht viel darüber gelernt, wie die Slawen hier in grauer Vorzeit hausten.

Stattdessen haben ein paar polnische Spaziergänger gelernt, wie seltsam die Deutschen doch sind. Und zwar von mir. Aus folgendem Grund:
Als ich gerade durch das Steinzeitdorf rumpelte, gab der Flicken wieder nach und mein Schlauch verlor seine letzte Luft. Kein Problem, ich hatte ja jetzt Ersatz. Nur: Gerade eben war ich anscheinend durch irgendwelche Tierexremente gefahren, die jetzt an meinem Mantel klebten (also am Mantel vom Vorderrad, zum Glück nicht an meiner Kleidung). Wie soll ich das reparieren, ohne mich einzusauen?
Und so kam es, dass ich zum ersten Mal auf einer Radtour gemeinsam mit meinem Vorderrad baden ging. Ohne Zweifel ein merkwürdiger Anblick. Im flachen Wasser trieb ein dichter Algenteppich. Einige Algen verfingen sich in meinen Speichen und unternahmen so eine unerwartete Reise nach Danzig und Deutschland.

Soo, das hat gedauert, jetzt starte ich aber durch.
Oder auch nicht. Die nächste Tafel erklärt mir auf Polnisch und Englisch, welche Sehenswürdigkeiten das Seebad Rewa zu bieten hat. Und die klangen beide so verlockend, dass ich sie mir angeschaut habe, obwohl die Radroute eigentlich gar nicht durch Rewa ging.
Da wäre einerseits der Cypel Rewski (der Rewa-Zipfel, ich liebe Polnisch). Das ist im Prinzip eine superlange Zunge aus Sand. Auf den ersten Metern wachsen noch Pflanzen, und Bodenplatten sowie ein Kreuz erinnern an verunglückte Matrosen. Kurz darauf verschwindet das letzte Grasbüschel und es bleibt nichts weiter als ein zwanzig Meter breiter Streifen total zerlatschter Strandsand mit Algen an den Rändern. Dieser Streifen trennt das warme süße Wasser der Putziger Bucht (der Bodden, an dem ich bisher langgefahren bin) vom kühlen salzigen Wasser der Danziger Bucht.

Der Ort ist wahnsinnig beliebt bei Wassersportlern und Strandspaziergängern. Wann kann man denn schon auf dem Strand ins Meer reinspazieren? Wie weit genau, das hängt wahrscheinlich auch von Wind, Wetter und Wasserstand ab. Und davon, wie sehr man seine Füße nassmachen will. Manche Spaziergänger waren in der Hinsicht sehr bereit und schon weit in die Bucht hinausspaziert. Aus der Ferne schien es, als wären sie Jesus auf dem See Genezareth (oder, wie man in Polen vermutlich sagt, Jezioro Genęczjsaredz). Irgendwann taucht der Sandstreifen nämlich ins Wasser ein und schlängelt sich heimlich unter ein paar wenigen Zentimetern Wasser weiter.
Ich bin bloß ein paar Meter in diese nasse Zone vorgedrungen. Nicht aus Sicherheitsgründen: Auch wenn das Ganze etwas von einer Wattwanderung hat, hier gibt es keine Gezeiten, die mich töten können, und auch sonst sah das nicht besonders gefährlich aus. Nur schien es, als wäre solch eine Wasserwanderung ein Halbtagesprojekt, und dafür hatte ich nicht die Zeit.
Wie weit mag es wohl noch rausgehen? Laut dem Schild einen Kilometer. Die Kartenapps dagegen sind von diesem Zipfel komplett verwirrt und zeigen an, dass am Cypel Rewski mitten im Wasser ein Radweg beginnt und bis kurz vor die Halbinsel Hel führt, um dort plötzlich wieder abzubrechen.

Die andere Sehenswürdigkeit war die Steilküste von Mechelinki. Staubige Straßen mit verfallenen Häusern führen hinauf, und in ein paar Sandstufen gehts wieder zum Strand abwärts. Ganz nett, hätte ich notfalls aber auch weglassen können.

Wow, was für ein großzügiger Radweg! Und da vorne bin ich dann auch schon am Ziel der Reise. Also, mehr oder weniger. Zumindest bin ich schon mal im richtigen Ballungsraum. Rewa war nur der Anfang - die nächsten Stadtteile scheinen alle mit R zu beginnen und mit A zu enden.

Der erste Bereich des Ballungsgebiets sieht eigentlich ganz nett aus. Klar, viel Verkehr, aber auch viel Grün, Radwege, Bürgersteige, Kreisverkehre und freundliche Vorstadthäuser. Damit das alles hinpasst, sind die Straßen superduperbreit. Schließlich sind wir hier nicht auf Hel.
In Rumia bin ich in den Vorort Reda abgebogen. Dort befindet sich nicht der größte, aber vermutlich der beste Wasserpark Polens mit einer irren Innovation. Ein Wasserrutschen-Hersteller und ein Riesenrad-Hersteller haben sich zusammengetan und ein Knäuel Rutschröhren in ein Riesenrad gesteckt, das sich die ganze Zeit dreht. Wer da einmal reinrutscht, verliert jeden Überblick, wo oben und unten ist. Ich pendelte unkontrolliert herum und hatte das Gefühl, permanent bergauf zu rutschen. Weil das, wo ich hinrutschte, vor wenigen Sekunden ja auch wirklich bergauf war.

Leider sind nicht alle Vororte so einladend. Hinter Rumia folgt ein grässlich-graues Gewirr aus Gleisen, Brücken und Wohnblocks, garniert mit unübersichtlichen Ampeln und Bahnübergängen.

Was das Industriegebiet angeht, hatte mich der Reiseführer vorgewarnt - genau deswegen überspringen viele diesen Teil mit der Fähre ab Hel (wodurch sie aber auch das putzige Puck, den Cypel Rewski und die Riesenradrutsche verpassen - nein danke). Was mich aber überrascht hat: Das Zentrum der Stadt, zu der dieses ganze Gekröse gehört, sieht auch nicht viel besser aus. Damit ich gar nicht erst nach Gdynia reinkomme, war der Zugang gut versteckt, der einzige Weg hinein führte durch die Unterführung des Hauptbahnhofs. Der Bahnhofsvorplatz erinnerte mich frappierend an das tschechische Hradec Kralové, Grau in Grau in Grau.
Und genau wie in Hradec setzt auch diese Stadt auf Elektro-Busse im Nahverkehr. In Gdynia können die sich jedoch auch ohne ein Spinnennetz an Oberleitungen fortbewegen. Dazu fahren sie einen Arm aus und laden sich an blauen Masten auf, die oft den einzigen Farbtupfer in der brutalistischen Ödnis darstellen.

Hat der letzte Weltkrieg hier besonders hart zugeschlagen oder waren die Architekten ganz einfach depressiv? Eine Ursache war vermutlich ganz einfach, dass Gdynia zu schnell wachsen musste. Polen merkte nämlich bald, dass Puck für einen richtigen Überseehafen zu klein war. Ein größerer Industriehafen musste her, mit Werft, und dazu möglichst viele Häuser für möglichst viele Hafenarbeiter! 1920 lebten hier gerade mal tausend Menschen. Zehn Jahre später waren es 125 000, und Gdynia hatte die freie Stadt Danzig überholt, was die Anzahl der Schiffsladungen angeht.
Der deutsche Name der Stadt war eigentlich Gdingen, aber den Nazis klang sogar das zu polnisch (da folgt ein D auf ein G, höchst verdächtig), weshalb sie die Stadt nach ihrer Eroberung in Gotenhafen umbenannten.
Im Sozialismus ereignete sich hier der wahrscheinlich östlichste Fluchtversuch aus der DDR. Eine Familie hatte sich einen superkomplizierten Plan überlegt, wie sie verschiedene Visa, Genehmigungen und Einladungen kombiniert, um ganz legal aus dem Hafen zu lossegeln und dann, upsi, wegen eines leider, leider plötzlich auftretenden technischen Problems Bornholm anzusteuern. Leider wurden die Hafenbeamten misstrauisch und riefen zur Sicherheit nochmal bei den deutschen Genossen an. Am nächsten Tag kehrten die Flüchtlinge in ihre Land zurück, und zwar in Gefängniswagen.
Mittelpunkt von Gdynia ist der Skwer Kósciuszki. Dieser Platz ist 600 Meter lang und geht direkt in die Mole über. Man sollte also meinen, dass er die Tristesse der Stadt etwas auflockert. Zu diesem Zweck hat man ihn sogar dekoriert mit einer abstrakten Skulptur (grau) und einem Springbrunnen (grau). Selbst die modernen Hoteltürme enthalten mehr grau als Glas.

Nichts wie weg hier! Kaum fuhr ich aus der Stadt raus, wurde es wieder grüner. Sage und schreibe 600 Apfelbäume wurden hier gepflanzt. Sie sollen den Garten Eden symbolisieren. Wenn alle Polen davon probiert haben, würde das auf jeden Fall die Abwesenheit von FKK-Stränden erklären.

Und es wird noch grüner. Ein steiler Wald erstreckt sich an der Küste und gibt sein Bestes, der grauen Stadt etwas entgegenzusetzen. Mit Erfolg! Da macht es mir auch nichts aus, ein bisschen bergauf zu radeln.

Ein kurzer Blick über die nächsten Stadtteile: Nee, so richtig ist es noch nicht besser geworden. Ich tauche lieber wieder ab ins Holz - diesmal abwärts. Zwischen den Bäumen und unter den Bäumen schoss ich in Orłowo aus dem Grün und war wieder guter Dinge.

Am Rande des Waldes ragt eine Steilküste 50 Meter über der Bucht auf, die konnte ich aber nur mit etwas Abstand von unten bewundern.

Die nächste Grünanlage war etwas flacher und geradliniger, die Schluchten der kleinen Flüsschen werden überbrückt. Am Ende dieses Parks stehen die attraktivsten Fahrradständer Polens neben einer absolut genialen Therme.

Damit wäre ich in Sopot, der zweiten Stadt der Trójmiasto (Dreistadt). Wobei das eine seltsame Zählweise ist. Ja, Sopot ist im Prinzip die drittgrößte Stadt des Ballungsraums, aber als ich so durchfuhr, erschien sie mir eher wie ein sehr, sehr großes Strandhotel, das zwischen die Metropole Gdańsk und ihren zweieiigen Zwilling Gdynia geschoben wurde. Aber immerhin ein wirklich prächtiges Hotel. Allein der Springbrunnen ist doppelt so groß wie das Kinderbecken in der Schwimmhalle Gehlsdorf (es geht doch nichts über einen anschaulichen Vergleich, mit dem jeder etwas anfangen kann).
Den ganzen Kurbetrieb hat ein gewisser Jan Jerzy Haffner begründet. Er stammte ausgerechnet aus dem entgegengesetzten ehemaligen Teil Deutschlands: Elsass. In Sopot gefiel es ihm so gut, dass er hier einheiratete und Parks und Bäder anlegte, die seine Nachkommen weiterbetrieben und irgendwann an den Staat verkauften.

Der Strand ist über und über bedeckt mit weißen, zusammengebundenen Sonnenschirmen, was ihn ein bisschen so aussehen lässt, als würde der Ku-Klux-Klan hier seinen alljährlichen Sommerurlaub verbringen.
Dazwischen ragt eine der größten Seebrücken Europas ins Meer. Wie es da wohl... warum sind da Drehkreuze?
Antwort: Diese Seebrücke kostet Eintritt. Sie ist nicht die erste, irgendwo in Polen gab es schon mal eine kostenpflichtige (habe vergessen, wo), aber da durfte man zumindest abends ab um neun kostenlos drauf, wenn die Kassenhäuschen dichtmachten.
Hier dagegen leuchten die Drehkreuze die ganze Nacht über tiefrot, bis man ihnen ein passendes Kärtchen präsentiert. Wächter in Warnwesten achten darauf, dass niemand drüberklettert. Um 22 Uhr gilt gerade mal ein reduzierter Nachtpreis, wie gnädig. Damit hat Sopot echt den Vogel abgeschossen.

Nicht alle Häuser kommen mit dem Hitzesommer gut zurecht. Das Krzywy Domek (Schiefe Haus) ist anscheinend halb geschmolzen und darüber todunglücklich.
Nee, Spaß beiseite, zwei Künstler haben das Haus 1993 mit Absicht so entworfen. Es ist vermutlich das, was in Polen einem Hundertwasserhaus am nächsten kommt. Was sich wohl darin verbirgt? Ach so, bloß eine kleine Shoppingpassage, deren Geschäfte bereits schließen und deren Wände schon nach wenigen Metern vergessen, schief zu sein.


Irgendwie war mir nicht danach, noch einmal wie auf Hel einzelne Campingplätze abzuklappern. Stattdessen schaute ich unterwegs einfach mal auf booking.com, was es in Sopot so spontan gibt. Und siehe da, ein Platz im Hostel ist für läppische 20 Euro zu haben. Rein da! Die Unterkunft verbirgt sich unauffällig im Erdgeschoss einer Stadtvilla: Einfach ein paar Räume mit Doppelstockbetten vollstellen, Küche, Bäder, fertig. Ein idealer Ort, um Kontakte mit Reisenden zu knüpfen, die aus den unterschiedlichsten Gründen sparsam unterwegs waren. Manche sogar aus Polen, die meisten aber aus allen Ecken Europas.

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