NEU: Die schwedische Halbinsel der Zugvögel

Falsterbo

Mittwoch, 5. Juli 2023

Von Rowy nach Białogóra

Rowy, ein Fischerdorf an einer Brücke, und der letzte Außenposten der Zivilisation. Naja, eigentlich nicht wirklich, aber es klingt so schön abenteuerlich. Und zumindest steckt ein kleiner Kern Wahrheit darin.

Willkommen im Slowinzischen Nationalpark! Wie auf Wolin sollte ich eigentlich am Kassenhäuschen Eintritt zahlen, aber was kann ich dafür, wenn die Kassierer so früh am Tag noch schlafen?

Was dahinter kommt, wäre durchaus ein paar Münzen Eintritt wert. Dieser Weg folgt dem Nordufer vom Jezioro Gardno (früher Garder See - liegt aber trotzdem nicht in Italien).
Der Weg ist das genaue Gegenteil des Plattenwegs nach Jaroslawiec: Der Karte sagt, er sei schlecht befahrbar, dabei war er richtig gut. Der achtgrößte See Polens ist zwar vom Weg aus nicht wirklich zu erkennen, aber immer wieder zweigen Plattformen ab und bieten eine herrliche Aussicht auf die spiegelglatte Wasserfläche. Welch traumhafter Ort für ein Frühstück.

Dann verließ ich das Gebiet des Nationalparks erstmal wieder und umrundete ihn außenrum, mit einem Tempo von oF km/h, wie mir eine Messstation freundlich mitteilte. Steht das für OberFix?Hoffentlich ist das noch innerhalb der erlaubten Höchstgeschwindigkeit innerorts.

Ein Plattenweg umschlang einen winzigen Waldsee und fächerte sich dabei zu einem großen Lochplattenplatz auf. An einem anderen Plattenweg wurde noch gearbeitet, doch die netten Bauarbeiter waren fast fertig und ließen mich fast sofort vorbei. Sogar so weit draußen im Nirgendwo fährt es sich gut. Bisher.
In diesem Land lebten die Slowinzen, ein komplett ausgestorbenes Volk von Bauern, Torfstechern und Fischern. Wie genau sie lebten, das zeigt ein Freilichtmuseum. Aber nicht mir, ich habe keine Lust, dafür dieselben 10 Kilometer hin und zurück zu fahren. (Am Museum direkt weiterfahren kann man angeblich nur, wenn es lange trocken war - aber in den letzten Tagen gab es immer mal wieder Regen.)

Ab und zu bieten kleine Plattformen einen tieferen Einblick in den Nationalpark - mal auf eine Heidefläche, mal in einen Sumpfsee. Auch wenn ich solche Landschaften auch aus Deutschland kenne, fielen mir immer mal wieder Pflanzen ins Auge, die irgendwie fremd erschienen. Ich kann aber nicht sagen, ob sie es wirklich sind.

Kennen Sie diese Reparaturstationen, an die man sein kaputtes Rad hängen kann und wo Luftpumpe und Werkzeug an Stahlseilen dranhängt? In Polen gibt's die auch - und zwar immer genau da, wo a) man am wenigsten damit rechnen und b) nicht da, wo ich eine Panne habe.
Man sollte meinen, so etwas steht immer dort, wo auch die Radwege und Schilder tipptopp ausgebaut sind. Das Gegenteil ist der Fall: Diese grüne Reparatursäule markierte den möglicherweise schlimmsten Teil des gesamten Ostseeradwegs.

Er beginnt hinter den Dörfern Izbica und Gac. Izbica klingt ein bisschen nach Ibiza, und beide Orte haben wirklich eine Gemeinsamkeit: SAND. Aber in Izbica liegt der nicht am Strand, sondern auf dem Weg. So viel Saaand. Meine Reifen sackten immer wieder ein oder rutschten zur Seite weg, bis mir keine Wahl blieb als zu schieben. Oder in diesen Sand zu stürzen.

Natürlich bin ich nicht der erste, den es auf diesen Weg verschlägt. Das macht das Ganze aber auch nicht besser. Am Wegesrand schlängeln sich immer mal wieder kleine Ausweichpfade durchs Gras, auf denen andere Radler versuchten, dem Sand zu entkommen. Stattdessen ermöglichten sie es dem Sand, sich noch weiter auszubreiten, denn mittlerweile waren die völlig zerfahrenen Pfade genauso schlimm wie der eigentliche Weg.
Kennen Sie den Begriff Desertifikation, also dass weltweit immer mehr Flächen zu Wüsten werden? In Izbica wird die Desertifikation maßgeblich von frustrierten Radfahrern unfreiwillig vorangetrieben.

Doch der Mensch wäre nicht der Mensch, wenn er eine Wüste wirklich sich selbst überlassen würde. Zumindest nicht für auf einem derart langen Teil der Küste. Deswegen hat der Mensch eine Schneise in die Natur geschlagen, und diese Schneise heißt Łeba. Straßen, Schienen, Radwege, tausende Reisende, sie alle durchstoßen den Nationalpark an dieser Stelle und dringen bis zur Ostsee vor. Die Stadt wird als Tor zum Nationalpark bezeichnet, aber wenn ich mir das auf der Karte so ansehe, erscheint mir das Wort Keil passender.
Wozu die Mühe? Łeba ist letztlich auch nur ein polnisches Ostseebad wie die bisherigen, nur etwas größer, gelber - und lauter. Dazu tragen vor allem die Lautsprecherwagen bei. Sie düsen durch den Ort, verstopfen die Straßen und die Ohren der Menschen noch weiter, und zwar zu keinem anderen Zweck als Plakate hochzuhalten und lautstark zu krächzen, wie toll doch irgendeine Attraktion der Region sei.
Um sich vor all dem Trubel zu schützen, erbauen die Menschen ihre eigenen Festungen aus Stöcken und Stoff. Noch nie habe ich derart viele Windschutzzäune an einem Strand gesehen. Vielleicht schützen sie sich ja noch vor einer anderen Gefahr?

Auf der Karte ist in den Dünen vor der Stadt die Kirchenruine St. Nikolaus eingezeichnet. Neugierig ließ ich das Rad stehen und erwartete... also, ich weiß nicht, was ich erwartete, aber mit Sicherheit mehr als einen kümmerlichen Ziegelhaufen, großräumig eingeschlossen von grünen Zäunen.

Kaum zu glauben, aber die alte Kirche von Łeba ist sogar noch kaputter als die von Trzęsacz. Dabei ist das Meer noch ein paar Meter entfernt? Was ist hier passiert? Die schiefe Mauer ist nur die Spitze des Eisbergs: Der Reiseführer sagt, die komplette Stadt stand mal an dieser Stelle, und der Kirchenrest ist als einziges übrig.

Das stimmt nicht ganz, ein Stück entfernt steht auch noch ein evangelischer Friedhof. Die Slowinzen waren nämlich Protestanten, im Gegensatz zu ihren Nachbarn, den Kaschuben, die schon deshalb katholisch waren, weil ihr Name ja auch mit Ka- anfing. Protestanten in Polen bedecken ihre Gräber vollständig mit weichem Moos, anders als der katholische Friedhofsfarn von Darłowo. Naja, das könnte aber auch bloß an der lokalen Pflanzenwelt liegen, da sollte ich lieber nicht zu viel Theologisches reininterpretieren.

Warum fahren so viele nach Łeba? Was ist mit der alten Stadt Łeba passiert? Warum war ich auf den letzten Kilometern so langsam? Die Antwort auf diese Fragen ist, wenn man sie so kurz wie möglich fasst, ein und dieselbe: SAND.
Die unglaublichen Sandkörner des Slowinzischen Nationalparks sind echte Multitalente. Sie können nicht nur Radfahrer nerven, sondern auch ganze Städte vernichten, Millionen Touristen anlocken und die spektakulärste Landschaft der polnischen Ostseeküste bilden.
Und deswegen fuhr ich jetzt wieder zurück, über 10 (die Karte sagt 5,5, das ist aber Blödsinn) Kilometer in Richtung Westen. Aber diesmal direkt an der Küste, also da, wo ich heute morgen nicht weiterdurfte. So weit es irgendwie geht. Mein Gefühl sagte mir: Das lohnt sich.
Diesmal war ich sogar zu einer Uhrzeit da, bei der ich tatsächlich den Eintritt für den Nationalpark entrichten musste. Eine kleine Schlange staute sich am Kassenhäuschen. Wanderer wanderten über ihren eigenen Wanderweg, und wir Radfahrer teilten uns die Straße mit kleinen Elektrobussen, die alle Lauffaulen zum Ziel bringen. Schon der Wald war ein Erlebnis, und als ich kurz einen Weg auf die Dünen rechts betrat, sah der Sand nicht schlecht aus. Aber ist das wirklich der Grund, warum so viele in diese Richtung unterwegs sind? Nee, da muss noch mehr kommen.
Rund um Łeba stehen immer mal wieder Mini-Bunker. Einen davon konnte ich geduckt betreten, andere sind mit einem Betonblock zugestopft. Im Gegensatz zu den rechteckigen Klötzen im deutschen Duderstadt haben die hier einen Spitzhut. Als hätte ein Volk von Märchenzwergen eine Zeitenwende erlebt und seine Häuser militärisch aufgerüstet.

Rechts ist die Ostsee, doch auch links ist Wasser - aber hallo! Der Jezioro Łebsko a.k.a. Lebasee - anscheinend hatte ich den ganzen Tag schon Polens drittgrößten See umrundet, ohne es zu merken! Jetzt bemerkte ich etwas mehr davon. Naja, auf der Waldstraße immer noch nicht so wirklich, aber zumindest konnte ich ihn am Kassenhäuschen in Augenschein nehmen. Wahlweise über einen brandneuen Aussichtsturm aus schwarzen Stangen und braunen Brettern, oder über einen alles andere als brandneuen Steg mit grauen Brettern, von denen einige gerade ein Bad im See nehmen... äh, ich nehme den Turm.
Dieser See ist wirklich eine andere Hausnummer als die kleineren Seen, die bisher dranwaren. Das ist sofort zu erkennen. Klar, das Ufer ist weiter weg. Aber auch die Oberfläche sieht anders aus, nicht so spiegelglatt wie bei den kleinen, sondern schon leicht gekräuselt, obwohl kaum Wind weht. Mit der Ostsee kann man ihn zwar nicht verwechseln, und doch kommt er ihr ein kleines bisschen näher.

Schließlich weitet sich die Waldstraße zu einem grauen Waldplatz. Bin ich endlich da? Auf jeden Fall bin ich endlich... irgendwo. Was ist das hier? Ein kleines Dörfchen mit schilfgedeckten Dächern? Eine Art Freizeitpark? Ich kaufte mir erstmal eine Zapiekarna, das ist eine Art traditionelles überbackenes Baguette der Slowinzen mit Käse, Schinken und Pilzen drauf. (Ich weiß natürlich nicht, ob die Slowinzen das genau so gegessen haben, oder ob es nicht doch nochmal mit den geschmacklichen Erwartungen heutiger Touristen überbacken wurde.)
Der hintere Bereich der Hüttenansammlung ist jedoch kostenpflichtig und voller Raketen, denn, wie ich überrascht feststellte, ist dieses kleine Touristendörfchen so etwas wie das Peenemünde Polens. Nachdem Werner von Braun in Peenemünde die Vorarbeit geleistet hatte, forschte das Unternehmen Rheinmetall hier, weit weg vom Rhein, an seinen eigenen Raketen mit so netten Namen wie Rheinbote und Rheintochter. Ausgerechnet die etwas brutaler klingende Feuerlilie sollte nur zu Forschungszwecken abgefeuert werden, die anderen mit den netten Namen waren militärisch. Militärinteressierte Polen fanden das hochspannend und strömten hinein, auch oder gerade weil dieses Militär von einem Regime stammte, das ihnen ja nun nicht im engeren Sinne freundlich gesinnt war.

Aber das kann doch auch nicht der Grund sein, warum sich haufenweise Menschen auf den Weg hierher gemacht haben? Nein, ich musste nochmal genauso weit. Und leider werden Wanderer, Elektroautos und Radler jetzt auf denselben Weg gepfercht und müssen irgendwie umeinander herumkurven. Ein Elektroauto überholte mich, und die Passagiere hielten mir ihre Arme hin, damit ich mich festhalten und ziehen lassen konnte - da ist sie ja endlich, die polnische Gastfreundschaft.
Schließlich weitete sich diese Massenstraße zu einem gelben Sandplatz. Hauptsächlich wird er eingenommen von rostigen Fahrradständern und drei ca. 5,5 Kilometer langen Warteschlangen, die an drei Dixiklos enden. Hier musste ich das Rad zurücklassen, so viel war offensichtlich. Ein Sandweg schmiegt sich an einer dekorativen Düne vorbei und lässt noch nicht ahnen, was sich um die Ecke verbirgt. Es sieht aus, als müsste gleich das Meer kommen?
Tatsächlich wartet um die Ecke das genau Gegenteil des Meeres.

Eine Wüste!

Ganz im Ernst, das obere Foto ist in Polen entstanden und nicht in Ägypten! Die Riesendünen von Łeba gehören zu den letzten Wanderdünen in Europa, die tatsächlich noch wandern. Sieben Meter pro Jahr bewegt sich der Sand vorwärts, gnadenlos bedeckt und erstickt er alles, was ihm im Wege steht, nicht einmal vor touristischer Infrastruktur macht er halt.
Ich hatte mit etwas wie der Hohen Düne auf dem Zingst gerechnet und hielt Riesendüne einfach für einen großspurigen Begriff für mehr oder weniger dasselbe. Was für ein Narr ich war! Oder wie viele Landkartentafeln, Wälder und Dörfer haben die Dünen vom Zingst schon ausgelöscht?

Es gibt Stellen, da schaute ich hunderte Meter in eine Richtung und sah keine Pflanzen, nicht einen einzigen Grashalm. Welche andere Düne an der Ostsee kann so was von sich behaupten?
Und manchmal sah ich zwar eine Pflanze, doch es steckte kein Leben in ihr. Tote Bäume strecken ihre dürren Stämme und Äste hinaus, aber ihre Hilfeschreie sind längst erstickt. Hinter ihnen fällt der Sand steil ab (ohne jedes Geländer, mein innerer Deutscher protestiert) zu den lebenden Artgenossen, die dort unten im Schatten ihres unausweichlichen Schicksals harren.
Ein Schicksal übrigens, dass durch die vielen Instagram-Posierer, die auf der Suche nach dem perfekten Baum zum Anlehnen noch mehr Sand den Abgrund herunterrieseln lassen, beschleunigt wird.
Das klingt jetzt etwas makaber, aber ich liebe diesen Ort. Er ist so völlig anders als alles, was man an der Ostsee findet, und doch fügt er sich vollkommen natürlich in die Küste ein. Die Riesendünen sind total surreal, aber eindeutig wahr. Eine toter Ort, umgeben von grüner und fast ungestörter Natur. Ein lebensfeindlicher Ort, der seltenen Arten eine Heimat bietet. Ein seltenes Vakuum in unserer zugebauten, vollgeplanten Welt, das den Blick vom Boden löst und in die Unendlichkeit zieht.
Und außerdem echt günstig.

Der tote Wald ist eine beliebte Stelle, die meisten Menschen zieht es aber auf den Gipfel. Eine Karawane strömt die rutschige Wand der  Łącka Góra a.k.a. Lontzkedüne aufwärts. Der Name kommt von einem Dorf, das die Düne schon längst komplett verschlungen hat. Mit 42 Metern ist das Europas höchste Wanderdüne, sie bewegt sich sogar um 12 Meter pro Jahr. Wobei die Zahlen immer schwanken: Gerade war Sommer, also wehte der Wind schwächer und die Düne war höher als im Winter, wanderte dafür aber langsamer.
Mal sehen, ob ich beim Dünenwandern schneller bin als 12 Meter pro Jahr. Der Anstieg ist zwar kein Problem, doch der Boden ist dermaßen weich, dass der Sand einfach überallhin gelangt. Der Dünenwanderer steht damit vor der Wahl, ob er
a) seine Schuhe zweimal pro Minute auskippt
b) eine halbe Tonne der Düne als Souvenir nach Hause mitnimmt oder
c) einfach aufgibt und dem Sand seine Schuhe überlässt, wo er sie so doch so gerne mag.

Ganz oben tauchen jenseits der grünen Säume der Wüste zwei blaue Spiegel auf - die Ostsee und der Lebasee, aus dieser Entfernung sind sie farblich kaum zu unterscheiden. Am Zaun stehen, starren und staunen die Menschen. Was ich bisher gesehen habe, war nur der Anfang - da hinten ziehen sich die Riesendünen bis zum Horizont. Die größte Düne (also der Fläche nach) umfasst 300 Hektar, und die höchsten Dünen generell (also inklusive Nicht-Wanderdünen) sind die Kleinen Wollsäcke, die sowohl 56 Meter als auch einen unpassenden Namen vorweisen können.
Nur - weitergehen darf man nicht, deswegen ja der Zaun. Aber es ist ja bereits ein riesiger (und doch verhältnismäßig kleiner) Bereich der Dünen freigegeben, wo man wandern und dabei sogar allen anderen Menschenmassen problemlos ausweichen kann. Deswegen, und weil niemand das zwingende Bedürfnis nach noch mehr Sand im Schuh hatte, hielten sich alle brav an die Begrenzung.

Es gibt jedoch noch einen zweiten breiten Weg, der sich in die Richtung entfernt, wo die Dünen wieder etwas niedriger und bewachsener werden. Erst hinter der letzten grünen Kuppe verbirgt sich der Strand. Überraschenderweise darf man an dieser Stelle sogar baden - und weiterwandern. Wer zu Fuß am Strand unterwegs ist, kann der Küste hier tatsächlich durch den ganzen Nationalpark folgen.
Ich kühlte mich eine Runde ab und entschloss mich dann, meine Schuhe auszukippen.
Drei Stunden später hatte die Kaskade an Sand immer noch nicht aufgehört.

Ich wollte nicht, dass der Höhepunkt der Reise schon zu Ende ist. Jetzt wieder Dorfstraßen im Hinterland, och nee... zurück in Łeba wählte ich also die Variante mit noch mehr Dünen. Dabei hatte mich die Karte gewarnt: Wurzeln! Wobei das eigentliche Problem nicht die Wurzeln waren, sondern die Dünen, für die ich eigentlich hergekommen war. Schick sehen sie ja schon aus mit ihren Tannenbäumchen und weißbraunen Mustern, ein etwas anderer Stil als die Riesendünen. Nur leider weiß sich der Pfad nicht anders zu helfen, als die Dünen anzuschneiden wie einen sehr weichen Apfelstrudel. Was dazu führt, dass die Eingeweide der Düne, also der Sand, direkt auf den Weg quellen, während Wurzeln wie abgeschnittene Adern an der Seite herabhängen. Wieso komme ich auf so morbide Assoziationen, obwohl es eigentlich schön aussieht? Vermutlich, weil ich mich durch diese Eingeweide quälen muss.

Dementsprechend sind hier hauptsächlich Mountainbiker (beziehungsweise Dünenbiker) unterwegs, die mich gelegentlich in den Wahnsinn trieben, indem sie mich überholten und dann direkt Pause machten, weshalb ich sie wieder überholen musste, obwohl sie offenkundig schneller waren und sich gleich wieder auf dem schmalen Pfad vorbeizwängen mussten.
Die ersten Kilometer folgen wieder mal einem Seeufer, was die Strecke nochmal aufwertet. Zum Radfahren würde ich sie trotzdem nicht empfehlen.

Auch dies ging vorüber, und schon wartete der nächste Höhepunkt. Ich bestieg eine Düne mit deutlich mehr Bäumen obendrauf. Erst kurz vor dem Ziel konnte ich ihn den Leuchtturm von Stiło erkennen. Jeden einzelnen der Leuchttürme aus dem Modellpark zu erkunden, wäre zu zeit- und kostspielig, aber diesen hier wollte ich noch mitnehmen, denn er liegt nicht nur ganz nah am Weg, auch seine Konstruktion ist etwas besonderes. Damit er den rauen Elementen standhält, wurde er komplett aus Stahlplatten zusammengeschweißt. Es gibt nur wenige Türme dieser Art in Europa, und einer davon steht ausgerechnet hier, wo man die Platten durch eine Landschaft transportieren musste, in der ähnliche Bedingungen wie in der Sahara herrschen!
Bei dem Wort Stahlplatten hat man nicht unbedingt ein schönes Bauwerk im Kopf, aber von außen ist er in leuchtturmtypischen Farben angepinselt, sodass die besondere Bauweise auf den ersten Blick nicht auffällt.
Von innen dagegen sind die Stahlplatten sofort zu erkennen. Alles in diesem Turm scheint stählern zu sein, insbesondere das metallische Tapp-Tapp-Tapp auf den Stahlstufen. Es würde mich nicht mal überraschen, wenn die Landschaftsgemälde aus Stahl bestehen. Das würde es jedoch schwerer machen, einen Käufer zu finden, schließlich müsste er sie dann den ganzen Berg runterschleppen - die Bilder stehen nämlich zum Verkauf.

Was erwartet mich hier wohl für eine Aussicht? Bei den meisten Aussichtstürmen weiß ich ungefähr, womit ich zu rechnen habe - dieser hier hat mich aber komplett überrascht. Wald! So viel Wald! Okay, eigentlich sollte ich davon nicht sonderlich überrascht sein, wenn ich die letzten Stunden nur durch Wald gefahren bin. Aber ich bin es dennoch. Habe ich jemals so viel Wald auf einmal gesehen? Hm, vielleicht von einem Berggipfel der Alpen oder im Harz... aber im Flachland?
Die Ostsee ist ein dunstig-blauer Rand an der Seite, gegenüber ein paar hellere Felder. Jahrelang konnte man einen Mast aus dem Meer ragen sehen, ein Überrest der West Star, die hier gestrandet ist. Und sonst eine dunkelgrüne Masse wie ein riesiges Moos. Der letzte See ist nur ein winziger blauer Fleck am Horizont, Łeba und die Riesendünen sind längst verschwunden. Wie weit bin ich bitte seit heute Mittag gefahren?

Weit genug, um mir eine Mahlzeit zu gönnen. Am Fuße des Leuchtturms roch es nach gebratenem Fisch.
Natürlich wird auch an der polnischen Küste gern gefuttert, was so im Meer herumschwimmt. Wie wohl polnische Fischbrötchen schmecken? Unmöglich zu sagen, musste ich feststellen, denn klassische Fischbrötchenstände sind hier kein Ding. Stattdessen ist der Fischverkauf etwas dezentraler organisiert, sogar die örtliche Dönerbude hat oft gebratenen Fisch auf ihrer Speisekarte. Den fand ich ich ganz okay, besser ist es jedoch, man machte es wie ich heute und holt sich seinen Fisch mit Pommes in der Smaziarna ("Braterei"). Da ist er noch knuspriger und hat mehr Aroma.

Und dann die Überraschung: Ein Weg, nagelneu und noch nicht auf meiner Karte. Die lästigen Sandzungen der aufgeschlitzten Dünen werden immer schmaler und seltener, ich musste kein einziges Mal absteigen. Da schau einer an, es ist also doch physikalisch möglich, gute Wege durch diese Dünen zu bauen! Und wie!
Einfach traumhaft, diese helle Rennstrecke durch die Nadelbäume und Blaubeeren. Hügelig zwar, aber der Fisch in meinem Magen scheint nur darauf zu brennen, mir seine Energie zu verleihen und mich damit über diese Dünen zu schießen.
Ab und zu konnte ich auch die Ostsee am Rande eines Abgrunds zu erahnen, oft ist besagter Abgrund aber abgesperrt.

Aber da, die App zeigt eine Schleife zum Wasser an - da ist sogar das Symbol für Klippen auf dem Rückweg eingezeichnet!
Neee, das war ein Fehler. Die Klippen waren mehr oder weniger dieselben Dünen wie sonst auch, und das kurze Wegstück war sogar noch sandiger als alles, was ich heute sonst noch an Radrouten hatte. So verpulverte ich die restliche Fischenergie etwas sinnlos.

Dann ist es wohl Zeit zum Schlafen. Passenderweise endet der Tag im Dorf Białogóra, also Weißer Berg? Das ganze Dorf ist voller Campingplätze. Ich war in den letzten Tagen so gut vorangekommen, dass ich entschied: Ich suche mir jetzt einen schönen Zeltplatz und schlafe morgen etwas länger aus.
Doch die Betreiber der Plätze hatten das Gegenteil von Ausschlafen gemacht und waren früh schlafen gegangen. Leider kam ich erst kurz nach acht an, und acht war offenbar der der spätestmögliche Zeitpunkt, an dem eine Rezeption geöffnet sein konnte. Ich entdeckte auch keinerlei Hinweis, dass man sich einfach wie auf vielen dänischen Plätzen spontan dazustellen kann, vielmehr ähnelten die Plätze äußerlich eher den deutschen.
Zum Campingplatz-Dorf gehören übrigens auch zwei Camps für Kinder und Jugendliche, eins mit Pfadfindern und eins mit Harry-Potter-Motto (wären die in meiner Kindheit in der Nähe gewesen, hätte ich meine Pfadfindertruppe sofort in der Wildnis im Stich gelassen und wäre übergelaufen).
An die Palisaden sind sämtliche Ministeriumserlasse von Professor Umbridge (auf Englisch) getackert, und während ich mir die noch einmal genau durchlas, stellte ich mir ernsthaft die Frage, ob nicht möglicherweise Dolores Umbridge die polnische Regierung per Imperius-Fluch kontrolliert. Würde eine Menge erklären.
Doch auch hier durfte ich nicht schlafen, denn: No Muggles allowed.

Was solls, der Wald vorhin sah total schön aus und war zur Abwechslung mal kein Schutzgebiet. Dann suche ich eben morgen einen Campingplatz.

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