NEU: Die schwedische Halbinsel der Zugvögel

Falsterbo

Sonntag, 29. August 2021

Von Fredericia nach Skamling

Sagte ich, Fyn sei hügelig? Das Festland ist noch viel hügeliger.

Jetzt radeln wir nach Süden in Richtung Deutschland, der Gegenwind sollte also vorbei sein. (Hast du gehört, Wind?) Auf dem folgenden Abschnitt durch Südjütland haben wir kaum etwas von der Ostsee gesehen, eigentlich (abgesehen von einer einzigen Stelle) nur auf Aussichtspunkten und an den Fjorden, die in die Großstädte hineinragen. Hier kommt gleich der Kolding Fjord, ein dicker grauer Arm aus Salzwasser. Wir sind ihm auf der Hauptstraße gefolgt. Auf den weiten Umweg der offiziellen Route hatten wir keine Lust. Anders als in den Niederlanden (wo die Hauptstraßen-Radwege einfach super sind) verstehe aber so langsam, warum die dänischen Radrouten so selten den Hauptstraßen folgen: Es ist wirklich anstrengend und oft schwindet der Radweg zu einem ganz schmalen Streifen dahin. Da war ich mir stellenweise nicht mal sicher, ob das noch eine Radspur sein sollte oder bloß die obligatorischen paar Zentimeter Abstand zwischen dem weißen Streifen und dem Ende des Asphalts.

Selbst die Stromleitungen haben hierzulande ihr eigenes Zelt.

Moment mal, an dem Biohof da drüben stand was von Ægg. Das heißt doch bestimmt Eier, oder? Wollen wir morgen nochmal Rührei machen?
Tatsächlich, in dem kleinen Geschäft gab es frische Eier und noch alles mögliche, sogar eingerollte, in Plastik eingeschweißte und tiefgefrorene Aale. Das war fast schon ein kleiner Supermarkt. Doch eine Bedienung gab es nicht, der ganze Laden war leer und still, nur die Tiefkühltruhe brummte geisterhaft. Wir warfen brav die Münzen in die Box und stellten erst dann fest, dass die Box offenbar nur für die Aale gedacht war und man für alles andere per Mobilepay zahlen sollte. Naja, jetzt ist es schon drin, lässt sich nicht ändern. Was haben die Dänen nur immer mit diesem Mobilepay?

Im chaotischen Kolding rückten wir näher an den Fjord heran. Direkt am Wasser hat die Stadt jedoch nur hässlich verschlungene Brücken, Villen und Segelboote zu bieten.

Um mehr von der Stadt zu sehen, mussten wir uns ein wenig vom Wasser entfernen. Obwohl - da ist ja gleich wieder Wasser! Und nachdem ich heute Morgen schon befürchtet hatte, wir wären vom August direkt in den November geradelt, kam sogar die Sonne heraus. Nein, der Sommer ist noch nicht vorbei, schien sie zu sagen - und während der folgenden Wochen gab sie sich alle Mühe, es zu beweisen.

Ah, das sieht doch schon besser aus! Über einem prächtigen See erhob sich das Schloss Koldinghus und änderte unsere Pläne. Aus Lass uns kurz die Innenstadt angucken wurde plötzlich Lass uns hoch zum Schloss schauen und dann Lass uns das Schloss besichtigen.
Das weiße Schlösschen vor dem Schloss hat offenbar nur die Funktion, einen Parkplatz zu umschließen.

Erst dahinter liegt das richtig alte Schloss. Es erinnert ein wenig an meinen Fahrradschlauch: Das alte Material wurde an vielen Stellen geflickt.
Der Weg dorthin war kürzer, als es schien. Zack, waren wir schon oben und hatten bezahlt.

Wenn die Könige Dänemarks gerade auf Jütland unterwegs waren, dann war dieses Schloss ihre offizielle Residenz. Christian der IV. ließ es ausbauen und hielt sich hier sehr oft auf.

Zu dieser Zeit erfreute sich ein früher Vorläufer des Bowlings großer Beliebtheit, bei dem die Adligen kleine Holzkegel mit einer Kugel an einer Schnur umhauten. So richtig verstanden haben wir die englische Übersetzung der Regeln nicht - je nachdem, wie wir sie interpretiert haben, war es entweder viel zu leicht oder viel zu schwierig.

Christian IV. fand das wohl auch irgendwann langweilig, deshalb marschierte er im Dreißigjährigen Krieg im Nachbarland ein, um statt der Holzkegel ein paar Deutsche umzuhauen. Das führte dazu, dass die Deutschen bald bei ihm einmarschierten. 1626 floh der König aus Deutschland zurück nach Koldinghus, und am nächsten Tag setzte er mit der Fähre nach Fyn über. (Er machte quasi unsere Reise rückwärts.) Die Deutschen demolierten das Schloss so gründlich, als hätte eine große Version der Bowling-Holzkugel wie eine Abrissbirne über den Mauern gewütet.
Der Dreißigjährige Krieg ist damit letztendlich auch der Grund für die Ähnlichkeit zwischen Schloss Koldinghus und meinem Fahrradschlauch. Bei der Renovierung 1995 wurden die Leerstellen mit Holz gefüllt. Das sieht irgendwie faszinierend aus und hat dem Schloss den Europa-Nostra-Preis eingebracht. Wer ganz, ganz genau hinschaut, erkennt noch, welche Teile des Schlosses Original sind.
Das ganze Schloss ist gefüllt mit verschiedenen Ausstellungen, Treppenhäusern und seltsamen Räumen, deren Sinn sich nicht immer erschließt. Dazwischen lagen immer mal wieder längere Metallbrücken, auf denen wir die halb zerstörten Mauern auf uns wirken lassen konnten. Wir stießen sogar auf eine Werkstatt, wo offenbar vor Ort genäht wurde. Nur mithilfe eines Übersichtsplans konnten wir uns einigermaßen zurechtfinden. (Die Betonung liegt auf einigermaßen.)

Weder unsere Zeit noch unsere Orientierung reichte aus, um alles zu sehen. (Aber los, komm, den Aussichtsturm machen wir noch! Ich mag Aussichtstürme.)
Nach seiner Niederlage konnte Christian IV. durch geschicktes Verhandeln gerade noch verhindern, dass er ganz Jütland an Deutschland abgeben musste. (Ansonsten hätten wir jetzt schon die ganze dänische Ostseeküste geschafft. Schade eigentlich.) Um das Festland zu verteidigen, wollte er das kaputte Schloss unbedingt durch eine bessere Festung ersetzen. Kolding lag zu tief unten im Tal. Also entschied er schließlich, dass in Snoghøj eine Festungsstadt mit dem extrem einfallslosen Namen Stadt Jütlands entstehen und per Zwangsumsiedlung mit Bewohnern von Kolding gefüllt werden sollte.
Warte mal, Snoghøj? Da haben wir doch gestern geschlafen, da war doch überhaupt keine Festung.
Stimmt, denn sie wurde von den Schweden verwüstet, bevor sie überhaupt fertig war.
Erst sein Nachfolger Frederik III. nahm das Projekt wieder auf, und letztendlich wurde aus der Idee die Festungsstadt Fredericia. Wie wir selbst gesehen haben, ist Fredericia so einladend, dass keine Zwangsumsiedlung nötig war, um sie mit Menschen zu füllen.

Über Frederik III. informiert eine finstere Sonderausstellung. Der Typ war anscheinend ein absoluter Monarch und ein absoluter Macho, der gern jagte, kämpfte und, wenn er mal nicht jagte oder kämpfte, auf einem Thron aus Einhornhorn (eigentlich den Stoßzähnen von Narwalen, siehe Bild) chillte. Wäre er ein deutscher König gewesen, würde ihn die heutige Geschichtsschreibung wohl nicht so gut beurteilen: Im Prinzip hat er Kriege gegen Schweden angefangen (negativ), hat anfangs immer gewonnen (immerhin) und dann umso krachender verloren (negativ). Außerdem hat er durch politische Reformen die Macht stärker von anderen Adligen zu sich selbst verschoben (naja). Irgendwie merkt man schon, dass seine Nachkommen heute noch an der Spitze Dänemarks stehen - in einem Video zu Beginn der Ausstellung versuchte ein junger, geschniegelter Museumsdirektor mit etwa einer Tonne Haargel auf dem Kopf, sich irgendwas Gutes zu Frederik III. aus den Fingern zu saugen: "Frederik hat uns gezeigt, dass jeder seinen eigenen Weg finden kann, um sein Schicksal zu erfüllen, und das können wir von ihm lernen."
Nein, liebe Rechtskonservative, das ist jetzt keine Cancel Culture. Über solche Könige soll weiterhin informiert werden, und zwar auch über ihre positiven Seiten. Doch wenn ich mich daran zurückerinnere, wie wir im Geschichtsunterricht tabellarisch die vielen guten und schlechten Taten von Friedrich II. sortiert haben, dann gefällt mir die deutsche Art der Geschichtsschreibung besser.

Auf einen ganz speziellen Raum hatte uns die Dame an der Kasse aufmerksam gemacht. "Da sind sehr schöne Sachen.", versprach sie. Dronninges Samling heißt die Ausstellung - Die Sammlung der Königin.
Eine Frage, die sich bestimmt schon einige Deutsche zu den letzten europäischen Monarchien gestellt haben, lautet: Was macht eine Königin eigentlich heutzutage außer stur lächeln und winken?
Hier fanden wir die Antwort: Sticken. Sie stickt und stickt und stickt wie verrückt. Auf Millimeterpapier plant sie genau, wie das Ergebnis aussehen soll. Anschließend verarbeitet sie die Wolle zu bunten Schals und Kissen, Adventskalendern für ihre Kinder, Handtaschen und sogar Handyhüllen. Auch kleine Bilder sind darauf zu finden, etwa Tannenbäumchen (Adventskalender) oder ein Braten (Tischdecke). Königin Margrethe hat ihr eigenes Unternehmen, das basierend auf ihren Entwürfen Sachen verkauft. Irgendwie schön, dass wir in Zeiten leben, in denen eine Königin quasi hauptsächlich Unternehmerin ist, deren Privileg in ein bisschen Gratiswerbung durch die Klatschpresse besteht.
Was sie eigenhändig erschaffen hat, ist natürlich ein bisschen wertvoller und landet deshalb in Glasvitrinen. Ein seriöses Museum muss natürlich Herkunft und Zeit angeben, deshalb steht unter den meisten Vitrinen ganz ehrfurchtsvoll als Quellenangabe: HM Dronningen. HM The Queen. Darunter lasen wir häufig: Gestickt während des zweiten Corona-Lockdowns 2021. Im Schloss Koldinghus werden die Lockdowns bereits wie ein historisches Ereignis behandelt, genau wie der Dreißigjährige Krieg im Zimmer nebenan.

Das hier sind die einzigen beiden alten Fachwerkhäuser von Kolding, natürlich in den beiden Standard-Farben Rot und Gelb.

Die Innenstadt hat mich an Minden erinnert und sieht manchmal ein bisschen leer und abweisend aus.

Dabei hat Kolding durchaus schöne Ecken, die mussten wir nur erstmal entdecken - in versteckten Innenhöfen zum Beispiel oder am Kolding Å (Koldingfluss). Dort verzehrten wir ein phantastisches Nudelgericht.

So, dachte ich, jetzt müssen wir aber wieder raus aus Kolding, wenn wir heute wirklich noch den Campingplatz oben auf dem Berg erreichen wollen. Zu diesem Zeitpunkt wussten wir noch nicht, dass die Strecke aus der Stadt raus viel angenehmer war. Zuerst konnten wir ein Stück direkt am Fjord fahren.

Ein neuer Radweg kommt bald, versprach ein Schild, weil ein paar Wurzeln den Asphalt aufgerissen hatten. Ich würde ja erstmal der Straße von heute Vormittag ordentliche Radwege verpassen - aber andererseits war die Strecke dort ja auch kein offizieller Radfernweg.
Auf dem Horizont tauchte bereits der Berg auf, und ehe wir es uns versahen, waren wir oben. Moment mal, was? Das ist einer der höchsten Berge Südjütlands, aber er war nicht mal halb so anstrengend wie die end- und namenlosen Hügel vor Kolding - selbst, als der Radweg irgendwann aufhörte.

Dieser Berg heißt Skamlingsbanken, ist 113 Meter hoch und von großer historischer Bedeutung. Als Preußen einen Teil von Südjütland erobert hatte, guckten die Dänen von hier aus auf ihr verlorenes Territorium runter. Als die Nazis später noch weiter vordrangen, wurde die patriotische Endmoräne zur symbolischen Stätte des Widerstands gegen Bismarck und Hitler.
Nun verkündet eine flatternde Flagge triumphierend, dass die Widerständler letztendlich doch gewonnen haben, und ein Stapel Betonklötze erinnert an die Namen der Menschen, die im Widerstand gestorben sind - die ihre Leben gegeben haben für die grün-gelb gewölbte Fläche namens Dänemark, von der hier oben so viel zu sehen ist. Wir wanderten ein paar Minuten über den Rasen der Hügelkuppe und entdeckten weitere graue Gedächtnissteine mit viel mehr Namen, als wir im Gedächtnis behalten konnten. Sie verraten nichts Genaues über die Todesumstände der Menschen, aber ich empfinde ihnen gegenüber mehr Respekt als gegenüber Frederik III.

Die Aussicht ist auch ohne den historischen Kontext klasse. Auf der anderen Seite erstreckte sich das zarte Blau der Ostsee. Sie schien so nah zu sein, dabei war sie im Radführer nicht mal auf derselben Karte drauf wie die Skamlingsbank.

Auf diesem Berg sollte es einen Campingplatz geben. Nein, leider nicht ganz oben bei der tollen Aussicht, sondern ein paar Meter tiefer und von Bäumen umgeben - da drüben, das muss er sein! Moment, ist das nicht ein Privatgrundstück? Ah, doch, da steht ein Zelt.
Als wir an der Haustür klingelten, kam ein tattriger Mann heraus und nahm unsere Münzen. Die Waschräume mochten voller Spinnen sein und die Plastikstühle alt und wacklig, aber dafür hatten wir auf der Wiese jede Menge Platz. Dies war der einzige Campingplatz auf der gesamten Reise, auf dem wir nicht von Wohnmobilen umzingelt waren und sogar anderen Tourenradlern begegneten - einem dänischen Paar, das die komplette 8 des dänischen Ostseeradwegs durchfährt.

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