NEU: Die schwedische Halbinsel der Zugvögel

Falsterbo

Dienstag, 31. August 2021

Von Genner nach Flensburg

Unser letzter Dänemark-Tag begann mit einer hübschen gelben Wassermühle. Sie versteckte sich zwischen zwei steilen Hügeln im Wald.


Einen etwas befremdlichen Eindruck hinterließ bei uns der Ort Løjt Kirkeby. Hier vollführte gerade irgendein Kindergartenclown ein rätselhaftes Ritual auf dem Schulhof. Er hängte Fahrräder an eine eigenartige Skulptur oder ein Klettergerüst oder was auch immer, tanzte drumherum, hantierte an den Rädern herum und betätigte ab und zu eine Fahrradklingel.
Nebenan wurde die Straße neu geteert. Es standen ein paar Warnschilder herum, aber so richtig abgesperrt war die Fahrbahn nicht, obwohl der frische Asphalt noch dampfte. Wir schoben unsere Räder lieber auf dem Bürgersteig. Schon dort war die Hitze der kaum erträglich: Von oben brannte die Sonne und von unten der Boden. (Wären wir doch nur an einem kalten Tag an dieser Straße vorbeigekommen, dann hätte uns die Baustelle schön durchgewärmt.) Auf einmal überholte uns ein elektrischer Rollstuhl. Sein Fahrer entstammte offenbar dem Hause Targaryen oder hatte eine hitzeresistente metallische Haut (die so schwer ist, dass er im Rollstuhl sitzen muss - das ergibt Sinn). Ohne zu zögern steuerte er mitten durch die flammendheiße Hölle, zwischen den Dampfschwaden des frischen Asphalts hindurch.

Auf den nächsten Abschnitt freute ich mich besonders, denn es handelt sich um einen Bahnradweg namens Knapstien. Hier fuhr einst die... äh... Æ Kleinbahn nach Abenraa. Der größte Teil des Knapstien ist ein Wanderweg, erst auf den letzten Kilometern stößt der Ostseeradweg dazu. Zuerst sind wir unten durchgefahren, ein altes Viadukt aus Feldsteinen macht's möglich. Es liegt im Dorf mit dem passenden Namen Ste(i)ntofte.

Bald darauf verließen wir die Straße und schoben die Räder einen steilen Pfad aus Gras hinauf. Puh, jetzt kann der Spaß beginnen!
Diese Bahntrasse ist etwas schmaler als auf die auf Lolland, schließlich fuhr hier nur eine Kleinbahn. Der Kiesweg ist überaus grün, schattig und abwechslungsreich. Wir sahen weite Wälder, Kuhweiden, einmal kurz das Meer und zum Schluss die ersten Einfamilienhäuser von Abenraa. Ich sollte allerdings erwähnen, dass wir das alles nur durch die Bäume hindurch sahen. Das bedeutet, wir konnten es nur so halb erkennen und die Kamera gar nicht. Die Fotos vom Knapstien sehen dementsprechend alle gleich aus.

Einzige Ausnahme ist dieser Betonrastplatz am Ortseingang (hinter der Hecke verbirgt sich das erste Haus der Stadt).


Der Knapstien brachte uns direkt in die Großstadt Abenraa (unnötige Eindeutschung: Apenrade). Das war mal eine bedeutende Handelsstadt, was man zum Beispiel am Zollamt erkennt. Es wurde mit extravielen Schutzdächern gebaut, damit die Leute möglichst gut vor der heißen karibischen Sonne geschützt werden. Nun liegt, wie der eine oder andere vielleicht weiß, Dänemark gar nicht in der Karibik (obwohl es genau so viele Inseln hat). Der Bauplan war eigentlich für ein Zollamt auf den Jungferninseln gedacht, aber irgendwer hat die Pläne durcheinandergebracht, keiner der dänischen Bauarbeiter hat etwas gemerkt und jetzt gibt es dieses Gebäude halt zweimal. Bei der heutigen Hitze haben sich die Mitarbeiter bestimmt über den Fehler gefreut - der angesichts der globalen Erwärmung langfristig gesehen gar kein Fehler war.

Abenraa ist ein bisschen hügelig. Deshalb beschlossen wir, die Räder am Rand der Altstadt anzuschließen und einen Spaziergang zu Fuß zu unternehmen. Die Stadt besteht ähnlich wie Svendborg und Haderslev aus bunten Häusern mit einem bunten gastronomischen Angebot, das unsere Pläne sehr schnell von Lass uns kurz in eine Café setzen zu Lass uns richtig was essen änderte. Wo sonst kann man in einem dänischen Restaurant großartiges indisches Essen mit belgischen Waffeln zu Nachtisch verspeisen? Das nenne ich mal internationale Küche.

Völlig vollgestopft erhoben wir uns wieder und kehrten zu unseren Rädern zurück. Verdammt, wo sind die denn? Diese Straße hier kommt mir überhaupt nicht bekannt vor. Lass uns nochmal zurück zum Marktplatz gehen.
Erst beim dritten Versuch entdeckten wir die richtige Gasse.

In Abenraa stand auch noch ein anderer wichtiger Punkt an: Meine Freundin brauchte einen Coronatest für die Einreise nach Deutschland. In einem niedrigen grauen Glaskasten im Gewerbegebiet befand sich das Testzentrum von Abenraa. Zum Glück ist Dänemark eines der drei europäischen Länder, wo auch Ausländer sich kostenlos und (fast immer) ohne Termin testen lassen können. Die dänische Regierung veröffentlicht im Internet eine Karte, wo alle Testzentren mit Öffnungszeiten zu finden sind. (Deutschland hat zwar mehrere solcher Karten, aber die sind so unvollständig, dass es ein ausgesprochen seltenes Phänomen darstellt, wenn zwei davon dasselbe Testzentrum anzeigen.) Dänemark ist halt super. Das beweist auch das folgende historische Ereignis:
Vor langer Zeit erließ der dänische König ein Gesetz, dass im ganzen Land in regelmäßigen Abständen ein Kro (Krug), also ein Gasthaus für Reisende, errichtet werden muss. Während dies auf der Insel Møn offenbar bis heute nicht umgesetzt wurde, sind auf dem Festland immer wieder Hotels zu sehen, die sich noch als Kro bezeichnen. Einer davon steht direkt am Aabenraa Fjord neben der Müllverbrennungsanlage.

Da ist dieser weiße Kro doch wesentlich schöner gelegen!
Weil die Zeit langsam knapp wurde, haben wir die Wegführung der Karte (die eh nicht am Meer langgeht) ignoriert und sind der großen Straße gen Süden gefolgt. Der Radweg war zwar nicht immer so super, aber zumindest kamen wir schnell voran. Am Wegesrand sahen wir einige Süßwasserseen und eine Eisenbahnstrecke ohne Schwellen. Jedes Mal, wenn wir in den Schatten der Bäume eintauchen konnten, atmeten wir erleichtert auf.

Kurz vor Kruså (Krusau) wurde der Radweg an der Hauptstraße wieder schöner. Den durften wir sogar doppelt fahren, weil wir einen Fahrradhelm auf dem Rastplatz liegen ließen.
Dann kamen wir am Grenzübergang heraus. Seit 1920 verläuft die Grenze hier. Anfangs arbeiteten die dänischen Zöllner in einem Kro und die Deutschen in einer Bretterbruchbude, bevor beide Länder richtige Gebäude errichteten. Da drüben beginnt schon Deutschland. Aber wären wir hier schon rübergewechselt, dann wären wir auf einer Autobahn gelandet.

Wir sind doch Ostseeradler, und deshalb überqueren wir die Grenze an der Ostsee!
Das war aber gar nicht so leicht, denn immer wieder wären wir um Haaresbreite zu früh in Deutschland gelandet. Einmal wunderte ich mich, wieso direkt vor unserer Nase schon ein deutsches Fahrradschild aufragte. Dann begriff ich, dass die Viehsperre zu meinen Füßen, ein kleines unauffälliges Gitter, offenbar die Grenze darstellte.
Dahinter ist der Kruså alias die Krusau, ein deutsch-dänischer Bach, die Grenze. In einem Bett aus schwarzem Schlamm wälzt sie sich durch einen hellen Wald. Dieser Wald gehörte bis 2006 der Stadt Flensburg, die ihn aus Geldmangel an einen dänischen Privatmann verkaufte. Heute gehört er dem dänischen Naturfonds. Einige Meter vom Bach entfernt holperten wir über Stock und Stein auf und ab. Dieser Weg heißt Gendarmenpfad, denn hier patrouillierten bis 1958 Gesetzeshüter auf der Suche nach Schmugglern. Sie lebten in einfachen Häusern direkt an ihrem Grenzabschnitt, den sie so gut wie ihren eigenen Garten kannten, weil es quasi ihr eigener Garten war. Angeblich war es für sie Ehrensache, ihre Waffe nicht zu ziehen, ein echter Gendarm verhaftete jeden Schmuggler einfach mit Autorität und Charme.
Die EU hat die Gendarmen überflüssig gemacht, doch das Coronavirus hat sie zurück auf ihren Pfad gebracht. Halb im Gebüsch verborgen saßen zwei Gendarmen in einem dänischen Polizeiauto. Sie winkten uns freundlich durch. Vermutlich waren sie mehr an Reisenden interessiert, die in die andere Richtung unterwegs waren. Später versperrte uns ein seltsamer Zaun den Weg, den wir erst umständlich öffnen mussten. Er verlief nicht entlang der Grenze, also sollte er wahrscheinlich das Wild im Wald schützen.

Endlich kamen wir an der Ostsee heraus, genauer gesagt an der Flensburger Förde. Langsam hatten wir das Gefühl, der Gendarmenpfad nimmt gar kein Ende. Dabei war das noch der harmlose Teil, wer auf der südlichen Variante des Ostseeradwegs über die Insel Ærø fährt, für den wird jetzt es erst richtig heftig. Wir wären am liebsten auch noch weiter durch Dänemark gefahren, so toll fanden wir das Land. Irgendwann fahren wir vielleicht auch mal diese Variante. Aber jetzt hatten wir schon die längere Tour durch Deutschland geplant.

Und die begann jetzt gleich am Grenzübergang Schusterkate, dem kleinsten Grenzübergang Europas. Er besteht aus einer Holzbrücke über die Krusau, die einzige Brücke, die Deutschland und Dänemark verbindet (und weil sich die Dänen umentschieden haben, dass sie lieber einen Tunnel und keine Brücke nach Fehmarn bauen wollen, wird das auch so bleiben und das kleine Brücklein bekommt doch keine gigantische Konkurrenz). Am Geländer hing gerade eine kleine Ausstellung mit deutschen Karikaturen.
Die Schusterkate selbst ist ein rotes gemütliches Holzhäuschen mit Bootsanlegesteg. Sie steht auf der dänischen Seite, aber der darin lebende Schuster scheint deutsch zu sein. Privatgrundstück! Rasten verboten! schrie uns ein Schild entgegen, als wir gerade überlegten, ob wir nicht direkt an der Grenze eine Essenpause einlegen sollten.

Auf der anderen Seite ging der Schilderwald weiter: Schutt abladen verboten! Ein Schild, auf dem Deutschland stand, gab es nicht (nur einen steinernen Grenzpfosten mit einen D drauf). Wozu auch? Die Begrüßung war unmissverständlich.
Die deutsch-dänische Grenze verläuft ab hier auf dem Meer. Diese Stelle ist übrigens der westlichste Punkt der Ostsee und liegt damit quasi gegenüber von St. Petersburg.

Kaum zu glauben: In ganz Dänemark haben wir nur einen einzigen Massenstrand gesehen (in Marielyst). In Deutschland dagegen kam schon nach wenigen Metern der Badestrand von Wassersleben. Ob man in dieser Hinsicht Deutschland oder Dänemark besser findet, ist wohl Ansichtssache. Breitere Sandstrände sind schön, auf dem Radweg immer wieder Badegästen auszuweichen, ist nicht schön.
Ich erinnere mich vage, dass ich als Kind mal hier war. Als man mir erklärte, dass da drüben schon Dänemark sei, fand ich es unglaublich cool, auf dem "letzten Spielplatz von Deutschland" zu spielen. Auch diesmal statten wir dem Spielplatz einen Besuch ab, aber nur, um auf der Bank Nudeln zu kochen. Grenzüberquerungen machen außergewöhnlich hungrig.

Privatgrundstück! Ein Bootsclub hinderte uns daran, dem Wasser weiter zu folgen. Wir irrten durch einen Park und durchquerten ein Industriegebiet.

Dann durften zurück ans Meer. Ein paar historische Segelschiffe liegen still in der Flensburger Förde.
Förde ist das deutsche Word für Fjord. Streng genommen ist das nicht richtig, wie ich auf dieser Tour gelernt habe: Ein Fjord entsteht durch Gletscher, die sich in Richtung Meer schieben, bei einer Förde wandern sie in Richtung Land. Aber diese Unterscheidung benutzen bloß Geographen. Die Leute, die die ganze Landschaft benannt haben, haben sich danach gerichtet, auf welcher Seite der Grenze das Wasser liegt. Die Flensburger Förde ist die Grenze, also hat sie zwei Namen: Die Dänen nennen sie Flensborg Fjord.

Die Förde wird immer schmaler und endet schließlich mit ein paar Holzbänken an der Hafenspitze. Die Ostsee hat sich richtig tief ins Stadtzentrum gegraben, und das nur, um ein paar Studenten den idealen Platz zu geben, sich mit Freunden auf eine Flasche Bier zu treffen. Oder?
Nein, ursprünglich diente diese Stelle als geschützter Naturhafen. Anfangs war die Hafenspitze sogar 500 Meter tiefer. Es war nicht so schlau von den Flensburgern, ihren Schutt da reinzukippen, denn irgendwann war das Wasser nicht mehr tief genug für die Schiffe und schließlich verschwand es ganz.
Wenn ein Schiff von hier aus nach Westen wollte, musste es einen komplizierten, teuren (wegen der Zölle) und gefährlichen (wegen der Sandbänke) Umweg durch die dänischen Sunde fahren und eventuell sinken. Dagegen war unsere Radtour durch die dänischen Sunde harmlos. Eine britische Eisenbahngesellschaft baute 1854 eine Bahnlinie quer durch Schleswig-Holstein, um die Dänen zu umgehen. Drei Jahre später schafften die Dänen den Sundzoll ab. Ein Zufall? Wohl kaum. Eine Weile teilten sich die Dänen und Briten die Einnahmen der Flensburger Schiffe, nach 13 Jahren wurde die altersschwache Bahn wieder abgebaut.

Parallel zur Förde verläuft die Fußgängerzone mit dem alten Rathaus. Das eine oder andere alte Gebäude ragt hier krumm und schief in die Straße hinein.

Flensburg liebt dich, wie du bist! verkündet ein Plakat. Das ist doch eine weitaus nettere Begrüßung. (Aber wenn du mich wirklich liebst, Flensburg, warum hast du mir dann diese entsetzliche öffentliche Toilette angetan? WARUM?)
Die Nähe zu Dänemark ist noch deutlich zu spüren - eine Buslinie fährt bis Kruså, viele Schilder sind zweisprachig, in der Fußgängerzone steht dänische Bibliothek und selbst am Bahnhof steht auf dem blauen Schild Flensburg Flensborg - nur für den Fall, dass die Dänen den Namen wegen des einen unterschiedlichen Buchstabens nicht verstehen sollten.
Jung und studentisch, hip und historisch - Flensburg scheint eine passende Stadt für unsereins zu sein. Dazu passt, dass in Flensburg schon immer viel Rum gehandelt und gemixt wurde - und dass unser Reiseführer zu Flensburg eine komplette Spalte nur über Beate Uhse schreibt, die hier den ersten Sexshop der Welt gegründet hat.
Über der Straße hängen Schuhe, die, vermute ich mal, auf ein politisches Anliegen aufmerksam machen sollen.

Und die Fahrräder sind bereits warm eingepackt, damit sie auch im Winter fahren können.

Jetzt durchqueren wir Schleswig-Holstein. Das Gute daran ist: In diesem Bundesland kenne ich mehrere herzensgute Menschen, die nach einem Anruf ohne zu Zögern bereit waren, uns kurzfristig eine überaus komfortable Übernachtung zu gewähren. Ohne sie wäre diese Tour längst nicht so schön geworden. Nur: Die wohnen nicht direkt am Meer. Um unsere lange Strecke nicht noch weiter zu verlängern, griffen wir auf öffentliche Verkehrsmittel zurück.
Am Bahnhof Flensburg Flensborg sind wir eine Station mit dem Zug gefahren und dann noch eine Weile in das Dorf geradelt, wo herzensguter Mensch Nr. 1 lebt, meine Tante. Sie begrüßte uns selbstverständlich mit: "Na, ihr Weltreisenden?" (Wenn sie den Spruch nicht gebracht hätte, wäre ich auch enttäuscht gewesen.) Den Rest des Abends verbrachten wir damit, fast alles aufzufuttern, was im Haus an Lebensmitteln vorrätig war. Grenzüberquerungen machen wirklich, wirklich hungrig.
Wir schliefen zwei Nächte in einem Wohnmobil namens Klaus-Peter, das sogar wasserdicht war - wenn auch nur, weil eine Plane darauf lag. Nach unserem Zelt war es trotzdem der reinste Luxus. Einen Ruhetag verbrachten wir damit, Wäsche zu waschen, noch mehr zu essen und auf der Terasse die Sonne zu genießen. Außerdem ließ ich mich im Dorffreibad, wo wirklich jeder jeden kannte, anstarren. Ich war vermutlich der erste auswärtige Besucher seit mindestens 140 Jahren.

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