NEU: Die schwedische Halbinsel der Zugvögel

Falsterbo

Samstag, 11. September 2021

Von Travemünde nach Priwall

Impf-Countdown: Noch 4 Tage

Im modernen Seebad Travemünde stehen die Strandkörbe in Reih und Glied wie Soldaten. Es sind dermaßen viele, dass der Sand dazwischen nur bei genauerem Hinsehen zu erkennen ist. Wer sich keins von den Dingern mieten und trotzdem ans Wasser setzen will, muss möglicherweise die Fähigkeit entwickeln, auf einem einzelnen Sandkorn Platz zu nehmen. Oder, sofern alle Sandkörner schon besetzt sind, notfalls auf einem Kaffeekörnchen. Die hat eine koffeinsüchtige Möwe verstreut, die meiner Freundin den Kaffee stehlen wollte. Überragt wird der Kaffee-Strandkorb-Strand von einem Wolkenkratzerhotel.

Dagegen sieht der älteste Leuchtturm Deutschlands geradezu mickrig aus. Er wurde 1827 gebaut und könnte rein theoretisch immer noch weiterleuchten, wäre da nicht das Hotel, das sein Licht komplett verdeckt. Deswegen wurde er 1972 abgestellt.

Auch Relikte des Kalten Krieges stehen herum.

Wer immer weiter über den Stein der Strandpromenade wandelt, gelangt in eine Fußgängerzone, die ähnlich dicht bevölkert ist wie die Lübecker Erlebnisbucht - selbst dann, wenn das Grau des Himmels dunkler ist als das der Pflastersteine.

Viele Wege führen nach Lübeck, aber nicht alle davon sind leicht zu beschreiten. Obwohl Lübeck nicht direkt am Meer liegt, gehört die Stadt auch mehr oder weniger zum Ostseeküsten-Radweg. Um die Hansestadt zu erreichen, bieten sich folgende Möglichkeiten:
  • Der Regionalexpress: Der Bahnstreik ist doch jetzt vorbei, oder? Ja, Züge fahren aber trotzdem nicht, und zwar wegen Bauarbeiten auf einer Brücke.
    Der Travemünder Strandbahnhof sieht ein bisschen düster aus. Eine Turmuhr verkündet nicht nur die Uhrzeit, sondern auch, wann der nächste Zug nach Lübeck fährt (übermorgen). Das habe ich so auch noch nie gesehen.
  • Der Schnellbus: Davon würde ich eher abraten, sofern es sich um einen Ersatzbus für ausfallende Züge handelt. So ein Schnellbus ist zwar schnell, aber ungefähr so voll wie die Londoner U-Bahn - er fährt sogar kurz unter die Erde, nämlich durch den Herrentunnel. Früher überspannte an dieser Stelle eine unglückselige Klappbrücke die Trave. Die erste Herrenbrücke wurde 1909 von einem finnischen Dampfer zerstört, die zweite rostete vor sich hin und klemmte beim Auf- und Zuklappen immer wieder, sodass die Schiffe manchmal volle Kraft zurücksteuern mussten, um eine zweite Kollision zu vermeiden. Angeblich soll sich der verantwortliche Architekt wegen der Mängel von der Brücke gestürzt haben. Seit 2005 gibt's hier also stattdessen einen Tunnel, Fußgänger und Radfahrer sollen einen kostenlosen Shuttlebus nehmen, Autofahrer bezahlen Maut. Wie das bei solchen Großprojekten meistens ist, waren die Fahrgastzahlen und Einnahmen deutlich niedriger, die Kosten und damit die Maut am Ende höher als gedacht.
  • Der offizielle Ostseeküstenradweg: Macht erstmal einen Bogen durch irgendwelche hügeligen Dörfer. Ich habe versucht, ihn zu finden. Nachdem ich fast eine Stunde eine sinnlose Runde durch Travemünde gedreht habe und den Einstieg einfach nicht entdecken konnte, habe ich es aufgegeben.
  • Der direkte Radweg: Ein super ausgebauter Radweg folgt der Hauptstraße und der Bahnstrecke. Dabei passiert er viele Alleen und Vororte. Nicht die idyllischste Strecke, aber doch überraschend grün, obwohl es die ganze Zeit an der Straße langgeht.
  • Der Panoramaweg: Ach verflixt, wenn solch ein Name auf dem Schild steht, kann ich einfach nicht widerstehen. Diese Variante zweigt vom für ein paar Kilometer vom direkten Radweg ab. Es handelt sich um einen Kiesweg, der auf halber Höhe eines verdammt großen Deichs (falls das überhaupt ein Deich ist) entlangführt. Das Panorama besteht aus der Trave, modernen Hafenanlagen und grüngelb verregneter Landschaft. Das lohnt sich.

Hier verkehren Ostseefähren am Skandinavienhafen von Travemünde. Vor ein paar Jahren sind wir von hier aus nach Lettland gefahren. Das dauert anderthalb Tage, sodass wir sogar eine Nacht in einer Kabine verbracht haben. An Schlaf war aber kaum zu denken, weil ein mittelmäßiger Gitarrist dafür bezahlt wurde, bis spät in die Nacht schnulzige Lieder als Bordunterhaltung zu singen.
Übrigens ist die Ostsee an dieser Stelle noch einmal mit der Nordsee verbunden, und zwar über die Kanal-Trave und die Elbe. Diese Wasserstraße diente anders als der Nord-Ostseekanal wirtschaftlichen statt militärischen Zwecken, außerdem ist sie 500 Jahre älter.

Panoramaweg, direkter Radweg und Ostseeküstenradweg treffen alle beim Bahnhof Lübeck Dänischburg-IKEA (der heißt wirklich so) aufeinander und bilden einen wunderbaren Wiesenbogen am Ufer der Trave. Vom Wasser ist zwar nichts zu sehen, trotzdem ist das der schönste Abschnitt auf dem Weg nach Lübeck. Hinterher folgen nur noch Großstadtstraßen.

Unter den deutschen Ostseestädten ist die stolze Hansestadt Lübeck ganz besonders wichtig. 1161 schlossen sich hier die deutschen Handelsstädte zusammen, um besser mit der Konkurrenz auf Gotland verhandeln zu können. Sie nannten sich Genossenschaft der Gotland besuchenden Deutschen, fanden aber schnell heraus, dass diese Bezeichnung etwas zu... deutsch war, und kürzten sie ein kleines bisschen ein. Unter dem Namen Hanse booteten sie die Gotländer ganz schnell aus und dominierten den Handel jahrhundertelang, ohne dass sie irgendwelche offiziellen Verträge über ihr Handelsbündnis schließen mussten. Die erste Hansestadt ist machtpolitisch, wirtschaftlich und optisch quasi der Hanse-Urtyp, mit dem sich alle anderen Hansestädte automatisch messen.
Für viele Ostseeradler ist Lübeck der Startpunkt ihrer Reise, für uns hingegen nur eine Zwischenstation.
 

Die Altstadt Lübecks liegt auf einer Insel, umgeben von verschiedenen Gräben, Kanälen und den Flüssen Wakenitz und Trave. Diverse Stadttore bewachen die Eingänge zur Insel, und ich muss zugeben, dass sie beeindruckender sind als die Stadttore in meiner Heimat Rostock. Das bekannteste ist natürlich das Holstentor. Die hanseatischen Kaufleute wollten sich einen richtig eindrucksvollen Eingang gönnen und bauten deshalb das Tor zum Hansapark nach. (Oder war es doch umgekehrt?) Zum Vergleich: Das Kröpeliner Tor in Rostock sieht ungefähr so aus wie der mittlere Teil, ohne die beiden fetten Türme an der Seite.
In den Salzspeichern rechts daneben wurde Salz aus der Lüneburger Heide gelagert, das anschließend eine Schiffsreise nach Skandinavien antrat.

Fragt man Deutschlehrer, so besteht Lübeck praktisch nur aus pleite gehenden Kaufmannsfamilien. Fragt man mich, so besteht Lübeck praktisch nur aus Marzipan.
Das berühmte süße Mus der Firma Niederegger ist überall käuflich zu erwerben, in Form von Broten, Holstentoren, Gemüse oder gleich der ganzen Stadt. Wie, die steht nicht zum Verkauf? Zu spät, jetzt habe ich schon abgebissen.
 

Radfahrer, die eilig quer durch die Lübecker Altstadt wollen, müssen sich auf die stressige Hauptverkehrsachse zwängen. Radfahrer, die sich Zeit lassen, können durch die hübschen und zum Teil sogar ruhigen Nebenstraßen irren. Ich habe beides getestet und fand das erste besser. Nein, kleiner Scherz, das zweite natürlich.

So viel zu Lübeck. Mit der Ostsee geht es folgendermaßen weiter: Erstmal mussten wir die Priwallfähre von Travemünde nehmen. Das dauerte lange. Die Fähre fährt pendelt hin und her, und die eigentliche Fahrtzeit ist total kurz, doch die Schlange am Fahrkartenautomaten reichte fast bis nach Kiel. Ich bin irgendwann genervt zum Schalter reingegangen, wo ich aber auch keine Zeit sparte. Wir haben mindestens zwei Abfahrten versäumt, bis wir Fahrkarten hatten. Jede verpasste Fähre machte durch das Schrillen einer Schulglocke auf sich aufmerksam, während sich die Schranken schlossen.

Gegenüber von Travemünde liegt der Stadtteil Priwall, eine moderner Segelboothafen mit Hotels. Besondere Berühmtheit genießt das Boot, pardon, die Viermastbark Passat. Hier gab es mal eine Reederei, die alle Schiffe auf einen Namen mit P taufte (zum Beispiel Pamir, Padua, Pommern, Peking). Das war die sogenannte Flying-P-Linie. Das allererste Schiff wurde Pudel genannt, weil die Frau des Reeders so hieß. Also, mit Spitznamen. Diese Schiffe machten dann Wettrennen, bei denen die Kapitäne zum Beispiel schneller als die Konkurrenz Weizen von Australien herschaffen mussten. Der konnte dann teurer versteigert werden und sie bekamen eine Prämie.

Hinter dem Glasbalkon trugen wir die Räder eine Treppe runter, da müssen wir schon wieder irgendwie falsch gefahren sein. Nach wenigen Metern am Strand folgten wir einem schnurgeraden Weg durch Kleingartenanlagen.

Und nun stoßen wir auf die traurige Seite der Ostsee. Dieser Strand gehörte zur Hälfte zur NATO und zur anderen Hälfte dem Warschauer Pakt. Es ist der einzige Ostseestrand, über den der Eiserne Vorhang quer rüber lief (denn beim finnischen Virolahti gibt es keinen Strand in dem Sinne). Hinter der ehemaligen Grenze wird der Strand etwas wilder und schmaler. Komischerweise endet der FKK-Strand genau dort, wo Ostdeutschland beginnt.
Lübecker und Touristen badeten hier im Schatten der tödlichen Grenzzäune der DDR, oder sie kamen extra her, um sie sich anzusehen. Auf der anderen Seite badete niemand. Die offizielle Grenzlinie lag ein Stück vor dem Zaun. So geschah es zwei Mal, das ein ausländischer Badegast die deutschen Schilder nicht verstand und versehentlich kommunistischen Sand betrat. Ein splitterfasernackter Brite wurde eine halbe Stunde mit einer Kalaschnikow bedroht, bevor er zurückgehen durfte. Erschossen wurde zumindest an dieser Stelle niemand.

Eine Flucht über diesen Strand erschien besonders einfach. Deshalb befanden sich hier neben den üblichen Grenzzäunen auch Stacheldrahtrollen, fünf verschiedene Signaldrähte und bis zu fünf Wachtürme in den Dünen. Ist der da hinten einer davon? Nein, der steht im Westen. In diesem Turm wachen nur Rettungsschwimmer, obwohl seine Form den Grenztürmen irritierend ähnlich sieht.

Auch sonst sind keine Überreste der Geschichte zu sehen, weder im Sand, noch in den dichten Hecken oder auf der Straße mit den endlosen Holzpfosten. Nur ein Stein und zwei Informationstafeln erinnern an die Grenze.

Drei Kilometer später war unsere Tagesetappe auch schon zu Ende. Heute hatten wir nicht viel vor, denn ein weiterer Besuch stand an.
Wir kamen an einer Straße raus und erreichten Mecklenburg-Vorpommern, ohne es überhaupt mitzubekommen. In dem Moment war ich auf etwas ganz anderes konzentriert, nämlich eine weitere herzensgute Gastgeberin zu treffen: Meine Oma erwartete uns in der Kurve nach Pötenitz. Da ich wusste, dass sie neuerdings ein Wohnmobil hat, winkte ich erst einmal fröhlich einem wildfremden Mann zu, der in einem Wohnmobil mit getönten Scheiben saß.

Hier zweigt ein weiterer Radweg nach Lübeck ab:
  • Der Iron Curtain Trail/Europa-Radweg Eiserner Vorhang, ungefähr entlang der Ausbeulungen am Ostufer der Trave
Bei meiner Oma tranken wir Wein am Lagerfeuer. Ich hatte etwas Süßes als Gastgeschenk mitgebracht, aber das ist bei einer Oma natürlich schwierig: Egal, wie viel Süßigkeiten man ihr schenkt, man erhält doppelt so viel zurück.

Die Ostseegrenze

Streckenlänge: 5600 km (davon bisher gefahren: 1000 km)
Grenzquerungen: 1
Bundesländer: Ostsee/Mecklenburg-Vorpommern (am anderen Ufer Schleswig-Holstein)
Andere Länder: Ostsee/Polen/Litauen/Lettland/Estland/Russland (am anderen Ufer Dänemark/Schweden/Finnland)
Erkenntnis: Nie war Strandurlaub so unentspannt wie im Kalten Krieg.

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