NEU: Die schwedische Halbinsel der Zugvögel

Falsterbo

Samstag, 4. September 2021

Von Eckernförde nach Kiel

Impf-Countdown: Noch 10 Tage

Gestern erwähnte Frau Schlegel zufällig, dass die Kieler Woche bald beginnt.
Das hat uns überrascht.
Ich wusste nicht viel über diese Veranstaltung, nur dass es irgendwas ähnliches wie die Hansesail ist.
Tatsächlich startete die Woche genau heute. Und zwar in Eckernförde. Und zwar damit, dass ein gewaltiger Schwarm Segelschiffe von der Eckernförder Bucht in die Kieler Förde rübersegelt. Also genau dieselbe Strecke, die wir heute fahren. Was für ein irrsinnig toller Zufall ist das denn? Wir können mit einer kompletten Segelregatta (oder wie auch immer man das nennt, ich habe keine Ahnung vom Segeln) um die Wette fahren!
Natürlich verloren wir. Das machte aber nichts, denn es waren so viele Segelschiffe, dass bis weit in den Nachmittag immer neue hinterherkamen, gegen wir die dann auch noch verlieren konnten. Zum Glück für die Segler (glaube ich, aber wie gesagt, so genau weiß ich es nicht) wehte der Wind schön kräftig. Eine unübersichtliche Menge an weißen Dreiecken kreuzte über das Meer und ließ die Ostsee ganz spitz und stachelig aussehen.

Anfangs konnten wir die Segler super beobachten, solange es an der Eckernförder Bucht entlangging.

Als nächstes sind wir in einen Forst eingetaucht, der unter dem Namen Begräbniswald auch als Friedhof dient. Schon gestern hatten wir Werbung für eine Bestattung in diesem speziellen Wald gesehen.
Der Begräbniswald ist ein bisschen hügelig. Insgesamt ist die Landschaft seit der Flensburger Förde aber schon deutlich flacher geworden, kein Vergleich zu Jütland.

Je näher wir der Großstadt kamen, desto freundlicher wurde die Menschen. Das erkannte ich daran, dass sie ihr Meckern zu einem fröhlichen "Moin!" verkürzten.
Hinter dem Wald sind wir eine ganze Weile auf einem einem Straßenradweg gefahren. Ab und zu erspähten wir am Horizont die Ostsee mit ihren weißen Segelspitzen.

Aber erst in Strande konnten wir den Trubel auf dem Wasser wieder besser beobachten. Hier liegt der Eingang zur Kieler Förde, und das bedeutet, hier muss jedes Schiff durch, vom gewöhnlichen Paddelboot über Ausflugsschiffe, Hafenrundfahrten, all den städtischen Fähren, die im Zickzack von Vorort zu Vorort fahren, internationalen Ostseefähren bis hin zu Container- und Kreuzfahrtriesen - die zusätzlichen Segelschiffe der Kieler Woche sind da noch gar nicht eingerechnet. All diese großen und kleinen Pötte dringen von hier aus bis in die Innenstadt vor.
Ich hatte den Eindruck, dass bei der Kieler Woche weniger hölzerne, historische Schiffe dabei waren als auf der Hansesail in Rostock, dafür aber viel mehr gewöhnliche weiße Boote von normalen Seglern, die einfach aus Spaß an der Freude mitmachen. Ein in edlem Grau gemustertes Segel stach unter all den weißen Einheitssegeln heraus.

An Land war genau so viel Trubel wie im Wasser. Mitten im Durcheinander von Menschen, Schiffen, Kinderwagen und Musik fanden wir eine freie Bank und kochten Nudeln und wuschen ganz nebenbei und unbeabsichtigt Teile der Bank mit kochendem Wasser.
Dass hier schon immer viel gesegelt wurde, zeigt auch folgende Tatsache: Wann immer irgendwo in Deutschland Olympische Spiele stattfanden, wurden die Segelwettkämpfe nach Kiel ausgelagert (denn die Spree und die Isar reichen dafür nicht). Das ist noch heute an den ollen Bauklötzen zu erkennen, in denen einst die Athleten gewohnt haben und die heute euphemistisch Olympisches Dorf genannt werden.

Beim zweiten Mal wurde dieses Dorf natürlich nicht nochmal benutzt, es musste ein neues Haus gebaut werden, das noch heute die olympischen Ringe trägt.

Wir irrten noch eine Weile durch die Vororte, bis wir wieder ans Wasser durften. Die Radwege waren zwar in Ordnung, aber so richtig Spaß gemacht hat es trotzdem nicht. Dafür war zu viel Verkehr. An einer Stelle wollte ich den Weg abkürzen. Ich wusste, dass wir an einer Kirche wieder links abbiegen müssen, nur war diese Kirche entweder unsichtbar oder sehr klein, auf jeden Fall sind wir viel zu weit gefahren. Als wir versuchten, doch noch zurückzufinden, drehten wir eine komplizierte Schleife durch einen Park, bis wir wieder einen Ausgang fanden. Alles, was wir durch die Abkürzung an Strecke gespart hatten, war spätestens jetzt wieder futsch.

Außerdem hat uns Reichskanzler Bismarck noch ein kleines Hindernis in den Weg gebaut: Der Nord-Ostsee-Kanal zweigt von der Kieler Förde ab. Der Kanal sollte hauptsächlich bewirken, dass die Kriegsschiffe in Kiel und Wilhelmshafen im Notfall schnell vereinigt werden können. Aber nach wenigen Jahren war das auch ohne Krieg die meistbefahrene künstliche Wasserstraße der Welt.
Wie kommen wir da nur rüber?

Instinktiv hätten wir vermutlich die nächste Brücke überquert, aber die führt nur zu einer Insel. Stattdessen folgten wir der Allee am Kanalufer, bis die Insel mit der Schleuse hinter uns lag.

Dann reihten wir uns in eine Schlange für die Fähre Adler V ein. Leider tuckerte gerade ein irrsinnig großes und irrsinnig langsames Schiff vorbei. Es wurde von einem Lotsen durch den Kanal gelotst, denn anders dürfen die Pötte hier nicht durch. Deshalb konnte die Fähre nicht zu uns rüberkommen. Und bei der langen Schlange waren wir nicht mal sicher, ob wir es überhaupt auf das nächste Schiff schaffen.
Da sprach uns plötzlich eine nette Kielerin an: "Suchen Sie ein Zimmer?" Sie bot nämlich auf der Plattform Warmshowers Übernachtungen an. So ein Pech, gestern hatten wir schon ein Zimmer gebucht und bezahlt - die einzige Nacht in Deutschland, wo wir uns so richtig was gegönnt haben, und dann bekommen wir aus heiterem Himmel ein Gratisangebot. Weiterhin erfuhren wir, dass die Fähre gratis ist (erstmal das Portemonnaie wieder wegstecken) und dass wir auch die Brücke da hinten hätten nehmen können, das ist nämlich gar keine Autobahnbrücke (zu spät, jetzt kommt die Fähre schon).

Wir standen ein bisschen unter Zeitdruck, denn der letzte Coronatest aus Kappeln war um 18:13 Uhr genau 48 Stunden her und damit nicht mehr gültig. Wir hatten keine Lust, unseren einzigen Abend in Kiel mit der Suche nach Testzentren zu verbringen. Deshalb haben wir eine Abkürzung genommen und sind auf direktem Weg ins Zentrum geeilt. Wie sich herausstellte, vollkommen unnötig, denn es war niemand im Hotel. Das Luxx-Hotel funktionierte genau so wie der Shelterplatz Millinge Klint: Per E-Mail bekamen wir eine Türcode, mit dem wir uns allein hereinlassen konnten. Damit hörten die Ähnlichkeiten mit Millinge Klint zum Glück auch schon auf. Das Zimmer war modern, gemütlich und direkt über der Fußgängerzone. Was für ein tolles Gefühl, abends faul in eine superweiche Matratze im warmen Zimmer sinken zu können! Erst durch die wilden Übernachtungen der letzten Wochen waren wir in der Lage, aus jedem Cent, den wir für diese Nacht ausgegeben haben, den maximalen Genuss herauszuholen. Wir duschten ausgiebig und schauten uns den Rest des Abends auf dem Bett einen Film an. Es war kaum zu glauben, dass wir so ein schönes, zentrales Zimmer in der Kieler Woche spontan buchen konnten - während der Rostocker Hansesail wäre das undenkbar, und schon gar nicht zu einem bezahlbaren Preis!
Das mit der Fußgängerzone ist allerdings nicht ganz so cool, wie es klingt: Aus irgendeinem Grund war da abends so gar nichts los. Das Eiscafé direkt vor dem Haus machte gerade zu, und alles andere war schon zu. Damit hatte ich nun wirklich nicht gerechnet, ich dachte, Kiel sei eine richtige Großstadt.

Das Rätsel löste sich teilweise, als wir am nächsten Tag die Kiellinie erkundeten. Das ist eine Hafenstraße am Wasser, wo die Kieler Woche hauptsächlich stattfinden sollte (und wo der Ostseeradweg eigentlich entlangführt). Es standen ein paar Fressbuden, der Stand eines Bildhauers und eine einsame kleine Bühne eines Radiosenders herum, aber insgesamt wirkte es trotzdem sehr leer.
Die Kieler haben für ihre Woche nämlich ein ganz anderes Coronakonzept: Statt wie in Rostock mehr oder weniger das übliche Programm mit Beschränkung der Besucherzahl und Einlasskontrolle zu machen, haben die Kieler ihre Woche auf ein Minimum reduziert.

Auch lagen weniger Segelschiffe am Hafen, als ich das von Rostock gewohnt war. Es ist ja ein Kernelement dieser Segelfeste, dass die Besucher so viel Eintritt wie bei einem Freizeitpark bezahlen, um auf einem der Segelschiffe mitzufahren. Als wir uns umsahen, waren die meisten Schiffe gerade zur Vormittagsfahrt ausgeflogen, mit etwa 25 Euro pro Nase ist das noch der mit Abstand günstigste Tarif.

Die Kulturstadt Kiel begeistert mit musikalischer Vielfalt: Ein Segler schmetterte ein Seemannslied, während er irgendwelche Arbeiten am Boot verrichtete. In der Fußgängerzone hingegen sang ein Musiker mit Gitarre dieses Halleluja-Lied, das einfach überall gesungen wird, wobei er das "Halleluja" in "Deine Mudder" umschrieb (den Rest habe ich nicht verstanden, er hat zu sehr genuschelt).

Wir hielten ein paar Minuten an, um die Seehunde im Becken der Seehundestation zu beobachten. Sie  leben in echtem Ostseewasser, pro Stunde werden 50 000 Liter aus der Förde ins Becken und wieder zurückgepumpt. Darin schienen sie sich wohlzufühlen, sie paddelten hin und her und auf und ab, über und unter Wasser, mal wie schnelle menschliche Schwimmer, dann wieder mehr wie große Fische. Selbst auf dem Rücken schaffen sie es irgendwie, sich elegant und zugleich entspannt durchs Wasser zu schlängeln, während ihre Flossen wie gefaltete Hände auf dem Bauch liegen.
Einmal pro Woche muss das Becken von allen Algen gereinigt werden. Die Seehunde stört es zwar nicht, wenn ihr Wasser immer grüner wird, aber die Besucher umso mehr, denn die wollen ja was sehen.

Weiter unten konnten wir nicht direkt am Wasser radeln, weil hier die großen Fähren nach Oslo, Göteborg und Klaipeda fahren. Sie legen direkt neben der Innenstadt ab: Mitten im Zentrum sind auf einmal Fahrspuren, auf denen man sich nach Oslo einordnen kann. Das fand ich erstmal ungewohnt, bisher kannte ich nur Städte, wo der Fährhafen an den Stadtrand ausgelagert wurde - außer in Svendborg, aber das waren ja auch nur regionale Fähren.
Kiel ist keine besonders schöne Stadt, aber auch keine hässliche. Kiel ist einfach nur Kiel, ein Haufen Häuser, die dem Zweck dienen, all den Schiffen auf der Förde einen Landeplatz zu bieten. Auch wenn ich Rostock lieber mag, eines muss ich Kiel lassen: Zum Schiffegucken ist es die beste Stadt, die ich kenne.

Irgendwas Tolles wollte ich in Kiel noch machen, wenn wir schon in der Stadt sind. Sobald ich diesen Gedanken fasse, steht eigentlich schon fest, wo ich am Ende lande: Auf einem hohen Aussichtsturm.
Kurzfristig habe ich uns eine Führung auf den Rathausturm gebucht. Am nächsten Vormittag stellten wir uns vor die Rathaustür zu einer Handvoll Menschen, die sich gleichmäßig aus Einheimischen, Touristen und Mitarbeitern der Stadtverwaltung, die gratis mitkommen dürfen, zusammensetzte. Über uns ragte das Rathaus auf, ein großes Rechteck, aus dem ein Turm aufragt, eigentlich relativ nüchtern, aber trotzdem eines der prächtigsten Gebäude der Stadt. Der Turm kam mir irgendwie bekannt vor. Bald erfuhr ich, wieso: Es handelt sich um eine Kopie des berühmten Glockenturms auf dem Markusplatz von Venedig. Weil die Kieler schneller bauten, war diese 113 Meter hohe Kopie sogar ein bisschen schneller fertig als das Original.
Als die goldene Turmuhr schlug, tauchte ein älterer Stadtführer auf und brachte uns zum ersten Aufzug. Wie ein freundlicher, aber strenger Lehrer gab er ein paar Fakten zum Turm preis und zeigte auf einer Karte von Kiel verschiedene Objekte. Unsere Aufgabe als Schüler bestand darin, sie nachher oben in der echten Stadt zu finden.

Dann wurden wir in zwei Gruppen aufgeteilt und stiegen in einen zweiten, uralten Aufzug. Bei dieser Konstruktion kann ich ausnahmsweise verstehen, dass man nur während einer Führung in den Fahrstuhl darf. Er hat nämlich keine Tür. Das heißt, auf den Stockwerken gab es schon Türen, aber die Kabine selbst hatte keine. Während wir fuhren, hätte man die Hand ausstrecken und über die vorbeifahrende Wand streichen können. Und wäre keine Aufsichtsperson dabei, dann wäre es nur eine Frage der Zeit, bis irgendein Horst den Aufzug mit ein bis zwei Händen weniger verlässt.
Oben angekommen pustete uns eine frische Brise um die Ohren. Wir wanderten einmal um den schmalen Balkon herum, während neben uns ein junger Fotograf im Auftrag der Stadt Bilder knipste. Schnell waren wir uns einig, dass die Seite mit der Förde die bessere Aussicht bot, denn da erstreckte sich nicht nur ein endloses eckiges Häusermeer, sondern ein auch ein richtiges Meer. Auf dieser Seite entdeckten wir auch die meisten der gesuchten Objekte. Ah, da hinten ist der blaue Kran der Werft. Er ist 179 Meter hoch. Seit es ihn gibt, ist das Rathaus nicht mehr Kiels höchstes Gebäude. Aber vermutlich ist es etwas schwieriger, auf den Kran zu kommen.
Und hier vorne sind gleich die zwei Seen, von denen er vorhin erzählt hat.

Zwischen diesen Seen fällt der Blick auf einen Park und eine Fontäne direkt vor dem Rathausturm (den ich aus dieser Perspektive zuerst für einen Kirchturm gehalten habe). Das dürfte der schönste Platz der ganzen Innenstadt sein.
Die Seen waren mal Teil der Ostsee. Sie bildeten eine Halbinsel, auf der die ersten Häuser von Kiel errichtet wurden. Gegründet hat die Stadt Graf Adolf IV. von Schauenburg, weil sein Reich noch keinen Hafen hatte. Das ist natürlich ein bisschen peinlich, wenn das Reich über so viel Ostseeküste verfügt. Unserem Radführer zufolge hat dieser Graf sowieso jedes einzelne Dorf, Kloster oder öffentliche Klo in der Gegend gegründet, vorher muss hier echt gar nix gewesen sein.

Die Verbindung zum Meer ist längst zugeschüttet und überbaut, obwohl ein paar Betonbecken noch erkennen lassen, wie das damals ungefähr aussah.
So richtig kamen die Kieler aber erstmal nicht aus dem Tee, weil die reichen Handelsstädte Lübeck und Hamburg Kiel meistens ausbooteten. Das änderte sich erst mit der Industriellen Revolution, als Industriebetriebe und die Eisenbahn auftauchten, dann wurde noch die Kriegsflotte aus Danzig hierher verlegt und schließlich entstand der Kanal zur Nordsee, Hobbysegler erfanden aus Spaß die Kieler Woche und die Stadt begann so richtig zu boomen.

Überrascht hat mich, dass auch das Freilichtmuseum Molfsee unter den Kieler Sehenswürdigkeiten gelistet war. Als ich es vor Jahren besucht habe, schienen seine weitläufigen Wiesen so ungefähr gar nichts mit jeder Art von Großstadt zu tun zu haben. Mit magersüchtigen Mühlen, bäuerlichen Schaufensterpuppen und historischem Spielzeug zeigt es den einstigen Alltag auf dem Land. Motto: Ausprobieren erwünscht.
 

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen