NEU: Die schwedische Halbinsel der Zugvögel

Falsterbo

Freitag, 3. September 2021

Von Steinberghaff nach Schönhagen

Impf-Countdown: Noch 12 Tage

Der erste Radweg des Tages sah aus, als hätte jemand einfach lustlos einen Eimer Teer über die großen Steine gekippt. Etwas me(e)rkwürdig, aber immerhin mit Meerblick.

Nun hat die Zeit des Vogelzugs begonnen. Boah, an dem Strand sitzen ja richtig viele! Und das Verrückte: Der Strand war kein Naturschutzgebiet oder so. Wir hätten zwischen denen einfach so baden gehen können.

Aber kurz darauf gibt es eine ganze Menge Naturschutzgebiet. Dieses Gebiet heißt Geltinger Birk. Die Karte führt da nicht durch, was mir völlig unverständlich ist, und die Schilder weisen es nur als Variante des Ostseeradwegs aus. Nur dank eines Buches mit dem Titel Eskapaden, das Ausflugstipps enthält, bin ich auf diese Halbinsel aufmerksam geworden. Letztes Weihnachten blätterte ich begeistert darin herum und mir war klar: Da radeln wir im Sommer durch.
Haben wir auch gemacht. Es wäre allerdings schlauer gewesen, wenn ich das Buch mitgenommen oder wenigstens die Karte darin abfotografiert hätte. Stattdessen sind wir quasi blind in die Geltinger Birk reingefahren. Den Eingang markiert ein Parkplatz mit kleinem Geschäft, es folgt die Schöpfmühle Charlotte, die nach einer Adligen benannt wurde. (Ich nehme nicht an, dass die hochwohlgeborene Charlotte jemals in der Mühle gearbeitet hat, aber trotzdem war sie halt viel wichtiger als irgendeine zur Namensgebung ungeeignete Müllerin.)
Ich wusste noch so viel: In der Geltinger Birk dürfen Fahrräder nur außenrum am Meer fahren, die Wege innendrin sind Wanderern vorbehalten. Was mir auch völlig ausreicht. Den Wanderern hingegen reichten die inneren Wege nicht aus, sie drängelten sich auch auf der Außenseite.

Das kann ich gut verstehen, denn hier befindet sich ein besonders schöner Teil der Ostseeküste. Auf der Ostseite hat das Meer einen kleinen Sandstrand angespült. Streng genommen ist es ein Sand-Algen-Stein-Strand. Ein grüner und ein brauner Algenstreifen reichen bis zum Horizont, und die Steine verzieren den ganzen Strand mit dekorativen Punkten. So sieht ein Strand aus, den man wirklich der Natur überlässt. Nur ein kleiner Bereich darf überhaupt betreten werden, der Rest ist mit Stöcken abgesperrt. Die vertrauen den Besuchern so sehr, dass sie keinen richtigen Zaun hinbauen. Naja, oder das Geld hat nicht gereicht.
Die Geltinger Birk entstand, als die Ostsee vor 1000 Jahren Sand von der dänischen Steilküste auf der anderen Seite nach Deutschland schmuggelte - gegen diesen dreisten Raub am dänischen Staatsgebiet waren selbst die Gendarmen vom Gendarmenpfad machtlos. Aber es sollte noch mehr als 800 Jahre dauern, bis die angespülte Sandinsel auch mit dem deutschen Festland verbunden war. So lange wollten die Deutschen nicht warten: Sie bauten schon vorher Deiche und Windmühlen, um ihr neues Staatsgebiet zu entwässern und landwirtschaftlich zu nutzen. Bereits im 19. Jahrhundert erkannten sie aber, dass die Natur hier schützenswert ist, und daraus entstand diese bezaubernde Kombi aus Tierweide und Naturschutzgebiet.

Der Rest der Küste besteht aus erstaunlich hellgrünen Wiesen, auf denen ein paar Heidepflanzen in voller Blüte standen. Offenbar hatten wir die perfekte Jahreszeit für die Geltinger Birk erwischt!
Oben an der Halbinsel endet die Flensburger Förde. Wehmütig warfen wir einen letzten Blick auf Dänemark, das sich am Horizont ins blaue Nichts auflöste.
Aber die eigentliche Besonderheit der Halbinsel sind die wilden Weiden. Wilde Weiden – das sind wilde, wunderbar wanderbare Wege durch pure Natur, so ähnlich hatte es das Buch beschrieben. Darauf leben wilde Tiere. Das wäre nicht weiter bemerkenswert, wenn es wilde Schnecken oder Ameisen wären, aber es handelt sich um Pferde. Wildpferde in Deutschland - ist das wirklich wahr? Keine Ahnung, denn wir haben sie nicht gefunden. Wir sahen wilde Ziegen, wilde Schafe, immer wieder wilde Galloway-Rinder und mindestens vier verschiedene wilde Vogelarten, wir sahen so ziemlich jede Tierart außer Pferden.

Die Rinder entspannten sich gern am Seeufer mitten im Vogelschwarm.
All diese Tiere pflegen die Landschaft, indem sie manche Pflanzen abfuttern und anderen dadurch Lebensraum schaffen. Der Thymian verdankt zum Beispiel den Schafen seine großen Flächen.
Aber sind die Tiere wirklich richtig wild? So einigermaßen, zumindest an 355 Tagen im Jahr. Irgendwelche Leute kümmern sich um das Naturschutzgebiet und schauen auch bei den Tieren nach dem Rechten. Einmal im Jahr fangen sie zum Beispiel die Pferde zur Kontrolle ein.
Fest steht: Wenn ich ein Rind oder Pferd sein müsste, würde ich gern hier leben.

Wir radelten immer weiter und weiter am Meer entlang, das Naturschutzgebiet wollte einfach kein Ende nehmen. Immer den Weg ganz außen nehmen klingt einfach, ist es auch, deshalb war die Navigation ohne das Buch kein Problem. Trotzdem hätte ich es wirklich mitnehmen sollen: Zum einen hätte ich dann gewusst, wo genau wir nach den Wildpferden gucken sollen, und zum anderen hätte ich dann nicht so massiv unterschätzt, wie lang die Strecke ist. Als wir die Geltinger Birk verließen, war der Tag weit vorangeschritten. Eigentlich wollten wir heute 70 Kilometer schaffen, doch nun stand fest: Das wird nix mehr. Somit war der einzige Puffer-Tag, der uns bis zum Impftermin blieb, an Tag 2 aufgebraucht. Bisschen früh.

Deutschland kennen wir ja schon von Geburt an. Eigentlich. Deshalb dachte ich, wir lernen auf dieser Reise vorwiegend Dänemark kennen. In Wahrheit haben wir, nachdem wir uns erst einmal auf die dänische Glücklichkeit eingestellt hatten, Deutschland ganz neu kennengelernt.  Hier wurden wir schon angeschnauzt, wenn wir für 0,2 Sekunden auf dem Radweg angehalten haben, um ein ganz kleines verbogenes Teil zu richten, auch wenn links und rechts Zäune waren und noch Platz zum Überholen blieb. Hier wird mit zweierlei Maß gemessen: Wenn ein Rentner mit E-Bike auf dem Weg anhält, um mit einem Dauercamper zu plaudern, obwohl er sich auch auf den Wiesenstreifen neben dem Weg platzieren könnte, ist das völlig okay und er bekommt keinerlei Ärger. Auf den Radwegen Schleswig-Holsteins sind junge und nicht elektrisierte Radfahrer eine Minderheit; an diesen Radlern zweiter Klasse darf jedermann seinen Frust auslassen. Warum auch nicht? Wir leben doch sowieso in einer Rentokratie, in der die Interessen der Älteren im Zweifel vorgehen (solange sie Geld haben). Wieso sollte sich diese Hierarchie nicht auch auf den Radwegen der Bundesrepublik spiegeln?

Hinter der Geltiger Birk durften wir noch eine Weile am Meer bleiben, bis wir bei Pottloch ins Hinterland abbiegen mussten. Eigentlich war das jeden Tag in Schleswig-Holstein so: Den halben Tag fuhren wir am Wasser, die andere Hälfte auf Straßen im Hinterland. Ich will mich nicht beschweren, im Gegenteil - 50 Prozent ist ganz schön viel, deutlich besser als der Großteil Dänemarks.

Am Campingplatz von Pottloch fiel meiner Freundin plötzlich ein: Wir haben auf der ganzen Reise noch kein Eis gegessen! Sofort setzten wir uns ins Café, um das nachzuholen. Als ich die Toilette aufsuchen wollte, meinte der Kellner, ich solle den Schlüssel vom Haken nehmen, im Haus gegenüber eine Kabine auf der linken Seite aufsuchen und unbedingt wieder abschließen. Offenbar teilen sich der Campingplatz und das Café ein Toilettengebäude - drei Kabinen für die Camper, die offen zugänglich sind, und drei sorgfältig beschriftete und abgeschlossene Kabinen für die Cafégäste. Wohlgemerkt, im selben Haus, direkt nebeneinander. Diese sinnlose Büklokratie verrät auch viel über Deuschland.

Auf einem Biohof wollten wir uns Eier besorgen, die waren allerdings ausverkauft, weil die Hühner gerade in der Mauser waren und nicht viel legten. Also mussten wir stattdessen Rewe aufsuchen.
Meine Tante hatte uns den Barfußpfad in Schwackendorf empfohlen. Wir warfen einen Blick auf die Preistafel und entschieden dann: Acht Euro sind uns ein bisschen viel, nur um zu rätseln, wo wir gerade drüberlatschen. (Hmm, eindeutig Reißzwecken...)

Im Naturschutzgebiet Maasholm zweigt die Schlei von der Ostsee ab. Da geht es nicht weiter, deshalb macht der Radweg einen großen Bogen. Erst kurz vor Kappeln haben wir die Schlei gesehen. Kappeln ist bloß ein funktionaler Ort, weder schön noch hässlich. Jemand hat sich gedacht Hier muss jetzt noch ne Hafenstadt hin und ein paar Ziegelsteine aufgestapelt, fertig. Interessant ist vielleicht, dass in der Schlei Heringszäune aus dem 15. Jahrhundert stehen. Diese Reusen sind immer noch intakt und können Fische fangen.
Die Schlei ist ein Meeresarm, aber ein total langer und dünner, der eher einem Fluss ähnelt, ganz anders als die Fjorde der großen Städte, die wie dicke Dreiecke ins Land ragen. Dass dieses Wasser zur Ostsee gehört, konnten wir aber daran erkennen, dass darauf ebenso viele Segelboote und Schiffe unterwegs sind.

Wir haben denen erstmal Vorfahrt gewährt und gewartet, bis die Kappelner Klappbrücke abwärts klappt (ein echter Zungenbrecher). Was blieb uns auch anderes übrig? Wir haben schon einige Berge mit dem Rad bezwungen, aber diese senkrechte Straße war uns doch zu anspruchsvoll (und wenn wir es geschafft hätten, wären die Probleme erst richtig losgegangen).

Zehn Minuten später konnten wir dann endlich die Schlei überqueren, zusammen mit einer langen Autokolonne von Leuten, die abends noch an den Strand fahren wollten.
Auf der anderen Seite geht Kappeln noch weiter. Was dort besonders heraussticht, ist der spitze Kirchturm.

Dann war der große Schlei-Umweg geschafft und wir durften die letzten Kilometer noch am Meer verbringen. Eine dichte Hecke mit roten Hagebutten wächst auf der Düne. (Ohne die Hagebutten wäre das Ding nicht mal hoch genug, dass man es ernsthaft als Düne bezeichnen könnte). Ein paar Kaninchen hoppelten über den Weg und versteckten sich im Gebüsch. In Schleswig-Holstein verging kaum ein Tag ohne Kaninchen.
Die Sonne wählte diesen Augenblick, um ganz langsam den Horizont zu berühren und diese perfekte Strecke in ein äußerst fotogenes, orangefarbenes Licht zu tauchen.

Drei Nächte haben wir in Schleswig-Holstein in der Wildnis verbracht, und jede Nacht war der Campingspot ein bisschen ungemütlicher. Der Waldstreifen bei Schönberg war noch ganz in Ordnung und sogar etwas heller, was ich beim Aufbauen recht hilfreich fand. Er befand sich aber auch näher an der Zivilisation, dementsprechend lag ein bisschen Müll herum.
"AAAAAAAAAH!", kreischte meine Freundin.
Als ich nach einem mittelschweren Herzinfarkt wieder zu mir kam, erfuhr ich sogar den Grund dafür: Kleine Spinnen mit dicken bleichen Hinterteilen krabbelten herum. Jedes Mal, wenn wir die Tür öffneten, krabbelte eine ins Zelt und ich musste sie wieder vor die Tür setzen. Die Biester waren vermutlich vom Dreh eines Horrorfilms übriggeblieben. Dessen Filmcrew hatte auch den Müll hinterlassen.
Man könnte uns jetzt vorwerfen, dass wir das Müllproblem mit unserer Übernachtung nur noch verschlimmern. Wir suchen den Waldboden am nächsten Morgen zwar immer ab, trotzdem kann ich nicht ausschließen, dass wir auch schon versehentlich etwas Müll verloren haben. Deshalb entsorge ich ab und zu Müll, den ich im Grünen finde - nicht um die Natur zu entlasten, sondern bloß um meinen eigenen Müllabdruck wieder auszugleichen. Fürs gute Gewissen also. Total egoistisch.

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