NEU: Die schwedische Halbinsel der Zugvögel

Falsterbo

Sonntag, 12. September 2021

Von Hohen Wischendorf nach Neubukow

Impf-Countdown: Noch 2 Tage

Während der letzten Wochen hatten wir manchmal das Gefühl, als Radfahrer ohne Elektromotor einer aussterbenden Spezies anzugehören. Aber stimmt das wirklich? Heute haben wir einfach mal Räder gezählt. Schon bald stellte sich heraus: Nur haargenau ein Drittel ist elektrisch. Es bleibt die Frage, ob diese Zählung repräsentativ für den deutschen Ostseeradweg ist. Denn ausgerechnet heute war das Wetter trübe, die Strecke vergleichsweise unattraktiv und deutlich weniger Radfahrer unterwegs, darunter überdurchschnittlich viele Alltagsradler aus der Stadt.

E-Bikes: 42
Normale Fahrräder: 84

Die Wismarsche Bucht ist erstaunlich groß. Gestern haben wir mit der Umrundung angefangen, heute machen wir den größten Teil und erst morgen Vormittag werden wir am anderen Ende ankommen.
In dieser Bucht besteht für Radfahrer eine derart hohe Hochwassergefahr, dass dafür extra ein neues Schild entworfen wurde. Allzu hoch sah das Wasser heute aber nicht aus, wir konnten problemlos am Wasser fahren.


Bald darauf fuhren wir sowieso die nächste Steilküste hoch, wo uns das Hochwasser ohnehin nicht so schnell erreichen kann.

An zwei Stellen bietet sich ein Blick über die Klippe, wir haben diesmal aber nur kurz den kleineren Aussichtspunkt angeschaut. Am größeren Aussichtspunkt stand eine Frau mit einem schlafenden Baby, das wir vermutlich in Nullkommanix aufgeweckt hätten.

Nächste Hansestadt: Wismar.
Dort zwangen uns Bauarbeiten zu einem nervigen Umweg durch triste Rentnerviertel. Erst an der Werft kehrten wir in die Nähe des Wassers zurück.

Als zweites zeigte Wismar eine nettere Seite, nämlich einen Park. Zwischen den Ästen der Weiden befinden sich Ententeiche, der Zoo und der Grund, warum alle Kinder in MV gern nach Wismar fahren.

Für sie ist Wismar vor allem eines: Ort des Badevernügens. Hier steht das Wonnemar, das beliebteste Schwimmbad des Bundeslandes. Von dicken Freunden, die in der Rutsche steckenbleiben, bis hin zum plötzlichen Ausfall der Pumpen, der die Rutschen doppelt so schnell macht - ein Mecklenburger Kind kann so manche Anekdote aus diesem Bad erzählen.

Auf dem Marktplatz steht ein rundes Häuschen, welches Wasserkunst genannt wird. Für diese historische Hütte war früher der Kunstmeister zuständig. Bei dem Wort Wasserkunst hätte ich so was wie kunstvolle Fontänen und Wasserspiele erwartet, tatsächlich ist Wasserkunst aber nur ein fancy Name für einen städtischen Wasserspeicher. Aus dem, zugegeben recht kunstvoll gestalteten, Pavillon gelangte das Wasser durch Holzrohre zu öffentlichen Brunnen und privaten Anschlüssen für die Reichen.
Rundherum stehen blassbunte Giebelhäuser. Meine Freundin fand Wismar nicht so schön, ein kleineres und langweiligeres Rostock. Das hinderte sie aber nicht daran, auf dem Marktplatz einen Kaffee trinken zu gehen und dem Kläffkonzert dreier Hunde zu lauschen. Die blassbunten Giebelhäuser erinnern wirklich sehr an den Rostocker Neuen Markt.

In der Altstadt stehen drei Kirchen, die ich mit komplett unterschiedlichen Erinnerungen verbinde.

Kirche Nr. 1 (Nikolai) hat das vierthöchste Kirchenschiff Deutschlands, aber eine Kindheitserlebnis hat sie mir ziemlich vermiest. Sie hängt damit zusammen, dass ich dringend auf Toilette musste, aber vor den strengen Augen der Klofrau die benötigten 50 Cent nicht mehr aus meinem Kinderportemonnaie zusammenkratzen konnte.

Kirche Nr. 2 (Georgenkirche) ist hoch, nüchtern, eindrucksvoll und die beste. Zum einen fährt hier ein Fahrstuhl zu einer 35 Meter hohen Aussichtsplattform (was allein schon genügen würde, um sie zu meiner Wismar-Lieblingskirche zu machen), zum anderen finden innendrin die Jedermann-Festspiele statt. Jedermann ist ein Theaterstück von Hugo von Hoffmannsthal, in dem ein Reicher unerwarteten Besuch vom Tod bekommt und versucht, seine Freundin, sein Geld (personifiziert durch einen fetten Glatzkopf im goldenen Anzug) und alles mögliche mitzunehmen. Spoiler: Es klappt nicht. Nur seine Werke (personifiziert durch eine sträflich vernachlässigte, schwächliche alte Frau) will ihn begleiten. Die Kirche passt gut zum Theaterstück. Im Hintergrund dreht sich das große Rad des Lebens, bis es sich irgendwann nicht mehr dreht.
2014 war ich dabei, als das zum ersten Mal aufgeführt wurde. Damit trug ich dazu bei, dass wegen der hohen Besucherzahlen eine jährliche Veranstaltung daraus wurde.

Von Kirche Nr. 3, der Marienkirche, steht seit dem Zweiten Weltkrieg bloß noch der Turm. Die restlichen Mauern sind bloß noch einen Meter hoch und bilden ein seltsames Backsteinlabyrinth. Diese Backsteine können übrigens sprechen. Und sie haben Arme. Ja, im Ernst.
Im Turm habe ich mal einen 3D-Animationsfilm gesehen, in dem die Kirche aufgebaut wurde. Dieser Bauprozess wurde erklärt und moderiert von einem der Ziegelsteine. Der zwischendurch auch eingebaut wurde und sich dann wieder aus der Lücke herauswinden musste (eine neue Variation von Jenga). Zum Glück können das nicht alle Steine, sonst wäre die Kirche nach fünf Minuten wieder eingestürzt.

Hinter diesem Turm steht ein Hamsterrad, in dem Kinder sehr gern und freiwillig arbeiten.

Ein Graben aus Feldsteinen und finsterem Wasser umschließt Wismar. Die Enten stehen dem Wasser skeptisch gegenüber,...


...weil es bei Schweinen bereits fatale Wirkung gezeigt hat.

Der Ostseeradweg geht am Hafen weiter. Diese Route kenne ich nur allzu gut, denn das ist die kürzeste Verbindung vom Bahnhof zum Wonnemar-Spaßbad. Als Wismar eine Hansestadt war, wurde hier vor allem Bier und Hering verschifft.
Nachdem die Hanse längst auseinandergebrochen war, die Pest und der Dreißigjährige Krieg Wismar heimgesucht hatten, wurde die Stadt zusammen mit der Insel Poel den Schweden übergeben. Die bauten sie zur größten Festung Europas aus. Irgendwann fiel ihnen aber auf, dass so ein kleines Stück Land auf der anderen Seite des Meeres nicht viel bringt, und sie verpfändeten es an den Herzog von Mecklenburg. (Ganz schön demütigend, der musste über eine Million Taler bezahlen, um das Land zu nutzen, auf dem früher sein eigener Hauptsitz stand.) Als der Vertrag nach 100 Jahren auslief, verzichtete Schweden auf die Rückgabe, und deshalb waren wir heute nicht im Ausland.

Im Hafenbecken liegt die Wissemara. Als in der Nähe der Insel Poel ein Wrack gefunden wurde, haben experimentelle Archäologen das uralte Segelschiff nachgebaut. Sie mussten allerdings einen Hilfsmotor einbauen, denn das ist gesetzlich vorgeschrieben, experimentelle Archäologie hin oder her. Ab und zu probieren sie aus, wie es war, damals zu segeln, ansonsten können Touristen darauf herumklettern.
Was für ein Schiff hier eigentlich nachgebaut wurde, ist immer noch nicht so ganz klar. Wissenschaftler untersuchten das verwitterte Holz und fanden heraus, dass es aus Danzig kommt, ach nee, falsch, aus Finnland, und dass es sich um eine spezielle Art der Hansekogge handelt, ach Quatsch, das Ding ist doch erst 100 Jahre nach dem Niedergang der Hanse entstanden.

Am Bahnhof von Wismar ließen wir den Zug vorbeifahren und zwängten uns an einer besonders großen Baustelle vorbei. Anscheinend wollten die Wismarer noch schnell ihre halbe Stadt umbauen, damit meine Freundin doch noch ihr Urteil über Wismar ändert.

Als nächstes fuhren wir eine Weile durchs Industriegebiet, wo es seltsamerweise deutlich ruhiger zuging und intensiv nach Holz roch.

Auf einmal bogen wir ab und wechselten schlagartig vom Grau ins Grün (nur der Himmel blieb grau). Ein großer Erdwall schirmte die Industrie von unseren Augen ab. Wir radelten daneben durch eine sumpfige Landschaft, vorbei am Faulen See. Diese Gegend ist voll kleinen Gewässern, die keine Lust auf Arbeit haben - der Name Fauler See findet sich immer wieder auf der Landkarte.

Dieser Sumpfschlenker ist aber nur eine Ausnahme, die restliche Route geht immer an der Straße entlang. Die Strecke ist super ausgebaut, aber (anders als gestern) eher eine funktionale Verbindung als ein landschaftlich spektakulärer Genussradweg.
Um diese Jahreszeit sind vor allem Tagesausflügler auf dem Ostseeradweg unterwegs, die sich eher die schöneren Tage und Strecken herauspicken. Hinzu kommt, dass die Straße (nicht aber der Radweg) wegen Bauarbeiten gesperrt war. Deshalb waren wir die meiste Zeit ganz allein unterwegs.
Ein paar Hügel mit Rasthütten und Meerblick verschönern die Route und bieten gleichzeitig eine Möglichkeit, kreuzenden Traktoren auszuweichen und dabei die Insel Poel am Horizont zu betrachten. In Groß Strömkendorf zweigt der Damm nach Poel ab.

Frisches Mühlenbrot, versprach ein Schild. Das machte mich neugierig. Die Windmühle machte auf mich einen etwas kopflosen Eindruck und sah nicht aus, als könnte sie irgendwas mahlen. Ihre Kappe lag einige Meter entfernt im Gras. Wir liefen nach oben, doch der Mann in der Mühle schickte uns zum Dorfmuseum 500 Meter weiter. Das Schild war ein bisschen irreführend.

Im Dorfmuseum Stove steht eine Scheune voll mit landwirtschaftlichem Zeug. Daneben duckt sich das kleine Backhaus. An mehreren Tag in der Woche entsteht hier leckeres Gebäck, und wir hatten das Glück, dass heute einer dieser Backtage war. Ich habe ganz vergessen zu fragen, ob das Mehl wirklich von der kaputten Mühle stammt. (Ich meine, warum sollte man es sonst Mühlenbrot nennen? Eine andere Mühle habe ich nicht gesehen.)
Zielsicher wählten wir aus, was am leckersten klingt und aussieht - das Zwiebelbrot und die Sesambrötchen. Damit hatten wir instinktiv die Bestseller ausgewählt, verriet uns die Bäckerin. Diese beiden Sorten gehen immer weg wie warme Semmeln.

Wieder haben wir eine neue Übernachtungsform kennengelernt, die Pilgerherberge. An der Mecklenburger Ostsee verläuft nämlich auch die Via Baltica, einer der vielen Jakobswege. Die Herberge im Pfarrhaus ist sehr komfortabel für etwas, in dem das Wort Pilger vorkommt, sogar eine Küche konnten wir nutzen. Anders als in einem Hotel sollen die Gäste ein bisschen selber mit anpacken, zum Beispiel die Dusche reinigen oder die Bettwäsche in die Waschmaschine stecken. Wie das gemacht wird, verrät ein Buch voller heiliger Gebote. (Und der Herr sprach: Ihr sollt die Duschwand erst heiß abspülen, dann kalt und dann wieder heiß, auf dass sie lange durchsichtig bleibe.) Um hier zu schlafen, zeigt man seinen Pilgerausweis vor und spendet fünf Euro. Das Gästebuch verrät, dass sich viele Pilger, die hier ankamen, diesen Luxus wirklich so richtig verdient haben, eine Frau ist zum Beispiel von Bergen auf Rügen hierher gewandert und hat alle vorherigen Nächte bei miesem Nieselwetter unter freiem Himmel verbracht. Respekt, da können wir nicht mithalten.
 

Vor der Dorfkirche von Neubukow praktizierten ein paar Jungs ein besonderes Gebetsritual, das darin bestand, immer wieder mit dem Skateboard über den Friedhof um die Kirche zu sausen.
Wir schlossen die hübsche Dorfkirche mit einem uralten, rostigen und sehr lockeren Schlüssel auf. Sie ist mit einer üppigen Bücherecke ausgestattet und erinnert an die Bernitter (von innen) und die Bützower (der Turm aus der Ferne) Kirche. Der Turm ist 52 Meter hoch. Deshalb war er in den Seefahrerkarten als Wegzeichen eingetragen, obwohl er mehr als fünf Kilometer vom Meer entfernt steht.
 

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