NEU: Die schwedische Halbinsel der Zugvögel

Falsterbo

Mittwoch, 8. September 2021

Von Lensterstrand nach Travemünde

Impf-Countdown: Noch 6 Tage

Über die Zufahrtstraße vom Campingplatz gelangten wir bequem zurück auf den Deichradweg. Der brachte uns mitten unter die Hotelblocks von Grömitz. Es wäre schön, wenn alles andere an diesem Tag so einfach gelaufen wäre. Wir standen zwar nicht mehr unter Zeitdruck, das Wetter war traumhaft und alles klappte einigermaßen. Dennoch war dieser Tag anstrengend. Denn heute durchquerten wir die ultimative touristische Zone Schleswig-Holsteins.

Die Grömitzer Seebrücke ist mit einer Tauchgondel ausgestattet, die an einer senkrechten Stange in die Ostsee abtaucht. Davon gibt es an der Ostsee insgesamt vier, und jede hat ihren eigenen Grund, warum sie nicht funktioniert. Bei der Grömitzer Gondel waren es Bauarbeiten. Dass schon am Anfang der Brücke darauf hingewiesen wird, ist immerhin lobenswert.

Alles andere als lobenswert ist dagegen die folgende Strecke. Die Karte sagte, wir sollten jetzt auf einem Feldweg (auf dem Autos fahren, obwohl direkt nebenan eine Straße verläuft) ein ganzes Stück ins Hinterland fahren und dann wieder zurück. Nicht, weil da ein besonders schöner Weg ist, im Gegenteil: Dort erwartet uns eine blöde Bundesstraße.
Als wir an der stark befahrenen Straße ankamen, wiesen uns die Schilder in eine ganz andere Richtung, durch einen Tunnel unter der Bundesstraße durch und in ein Kaff namens Körnick. Wir folgten ihnen in der Hoffnung, dass inzwischen vielleicht ein neuer Radweg erbaut wurde. Doch mitten auf einem öden Acker zwischen Windrädern ließen uns die Schilder im Stich. Das letzte Schild war eindeutig falsch. Und zwar nicht nur verdreht oder falschrum aufgehängt, da war der komplett falsche Pfeil aufgedruckt. Aus diesem Grund waren wir heute alles andere als pfeilschnell.
Verärgert kehrten wir um. Die Karte hatte doch Recht, wir müssen uns in den Verkehr mischen (auf dem Bild sieht das nicht so nervig aus, wie es ist).

Endlich kehrten wir zum Strand zurück, doch der Lärm und Ärger war noch nicht vorbei.
Hinter uns erhob sich schon wieder so ein komischer dicker Turm, wie das Ostsee-Erlebniscenter gestern. Auch auf der anderen Seite, ganz hinten am Horizont ragte ein irgendein Turm oder Wolkenkratzer in die Höhe. Aus dem Hochhaus schlängelte sich eine seltsame Linie, auf der sich etwas zu bewegen schien... Erst nach einer Minute begriff ich: Es handelt sich um eine Achterbahn.
Bei Pelzerhaken war uns ein kurzes Stück roter Radweg vergönnt, und dazu gönnten wir uns ein Eis. Ringsherum waberte die stille Mittagshitze, wir leckten nichts Böses ahnend an der Eiskugel, als zwei Meter entfernt plötzlich die Situation eskalierte: Zwei verblüffend kleine Hunde verursachten einen verblüffend großen Krach. Ihr Leinen hatten sich verheddert, woraufhin sie sich innerhalb von 0,4 Sekunden in ein sowohl wütendes als auch panisches Hundeleinenknäuel verwandelten, dessen Lautstärke die der Bundesstraße bei Weitem übertraf. Was auch daran lag, dass das eine oder andere Kleinkind bei dem Krach eine Panikattacke bekam und mit seinen Lungen ein paar kräftige Dezibel beisteuerte.

Wenig später endete der Radweg. Fußgänger dürfen hier auf dem Strand oder auf dem oberen Weg weiterlaufen, Radfahrer jedoch sollen sich zu einer weiteren stark befahrenen Straße verpissen. Na toll. Hmm. Und wenn wir einfach das Verbotsschild ignorieren und oben weiterfahren? Der Weg sieht doch ganz okay aus, und es sind nur wenig Leute unterwegs.

Nein, war eine blöde Idee. Über dem Strand schlängelte sich der Pfad an den Hecken der Ferienhäusern, Kleingärten und Campingplätze vorbei, und dabei wurde er immer schmaler, voller und matschiger. Meine Fahrradtasche beschloss, dies sei der ideale Abschnitt, um unterwegs ein paar Sachen auf den Matsch zu spucken. Am Ende haben wir einen großen Teil der Strecke geschoben. (Ich habe nur die harmloseste Stelle des Weges fotografiert.) In Zukunft halten wir uns an die Regeln. Also meistens.

Nach drei Kilometern wird daraus wieder ein richtiger Radweg.
Auf dem wir gleich wieder absteigen sollten, sagte ein Schild. Jedoch nicht, um den Verkehr sicherer zu machen, sondern um die Toten zu ehren. Dies ist der Ehrenfriedhof Cap Arkona. Wer diesen Namen auf der Karte sieht, denkt womöglich: Liegt das Kap Arkona nicht auf Rügen? In diesem Fall ist sind damit aber nicht die Kreidefelsen gemeint, sondern im Gegenteil etwas ganz Übles: Zwei Schiffe voll mit Häftlingen eines Konzentrationslagers, eins davon hieß Cap Arkona. Warum die Nazis sie in die Schiffe gebracht haben, ist bis heute ein Rätsel. Im Zweiten Weltkrieg haben die britischen Piloten sie versenkt, was die meisten nicht überlebten. Das ist derart grässlich, dass es völlig zu Recht verboten ist, auf diesem Friedhof Fahrrad zu fahren.
Ich frage mich nur, wieso der Uferweg überhaupt Teil des Friedhofs ist. Es ist ja nicht so, dass der Friedhof auf der anderen Seite des Weges noch weitergeht. Wenn es zu pietätlos ist, dass so viele Radler direkt daneben vorbeisausen, hätte man den Friedhof doch auch etwas weiter entfernt oder mit einer höheren Mauer bauen können. Wenn ständig Touristen in Badesachen, die eigentlich zum Strand wollen, das Gelände dieses Friedhofs durchqueren, ist das der Ehrung der Toten doch auch nicht förderlich.

Hinter dem schmalen Strand rückt die Küste mit der Achterbahn immer näher. Die Ostsee bildet einen kleinen Meeresarm namens Neustädter Binnenwasser, der ins Land hineinragt.

In Neustadt am Holstein haben wir das Binnenwasser auf einer kurzen Brücke überquert. Diese kleine Handelsstadt war auf diverse Getreidesorten und Heringe in Fässern spezialisiert, die in kleineren Speicherhäusern eingelagert wurden.

Jetzt haben wir das Unangenehmste geschafft, dachte ich, endlich kommen wir zügig voran. Die Straße brachte uns durch das Gewerbegebiet von Neustadt und anschließend durchs Grüne bis zum Parkplatz des Hansaparks. An diesen Parkplatz konnte ich mich noch genau erinnern, weil ich dort vor Jahren im Rahmen einer Werbeaktion eine kostenlose Coladose erhalten habe. Manchmal braucht es nicht viel, um ein Kind zu begeistern. Selbst dann nicht, wenn das betreffende Kind gerade in Deutschlands nördlichstem Freizeitpark war.

Den Hansapark in Sierksdorf haben wir ausgelassen, weil wir ihn schon gut kennen. Dieser Park hat besonders viele alberne, verkleidete Maskottchen. Die sind dermaßen dämlich, dass ich und meine drei Geschwister nacheinander von allein aufgestanden sind und deren bescheuerte Show verlassen haben. Obwohl wir völlig unterschiedlichen Alters waren. Naja, dieser Park richtet sich eben vorwiegend an Familien. Eigentlich.
Deshalb stehen da vor allem harmlose Achterbahnen. Hinzu kommen außerordentlich viele Wasserbahnen, die sämtliche Kinder zuverlässig durchnässen.

Doch dann beschloss die Parkleitung eines Tages, so richtig was für größere Adrenalinjunkies zu bauen. Deshalb ragen zwei sensationell hohe und schnelle Achterbahnen in den Himmel: Den Fluch von Novgorod und den Schwur des Kärnan. Die haben folgende Gemeinsamkeit: An einer Stelle geht das Gleis senkrecht nach oben und direkt danach senkrecht wieder runter (bei Novgorod ist diese Stelle am Ende, bei Kärnan am Anfang). Nichts für schwache Nerven - das langsame Hochfahren jedenfalls, das Runterfahren geht ruckzuck und ist gar nicht schlimm.
Deutschlands einzige Erlebnispark am Meer versucht auch inhaltlich, einen Bezug zur Ostsee herzustellen. Deshalb haben die Gleise von Novgorod die Form eines Seemannsknotens. Außerdem war die Stadt Novgorod ja in der Hanse. Kärnan ist aber die bessere Achterbahn der beiden, er ist länger und die Sitze sind bequemer. Der riesige Kärnan war es auch, den wir heute früh aus der Ferne gesehen haben.
 

Das Lübecker Holstentor bildet den Eingang, und direkt daneben fuhr sogar mal der Rasende Roland, eine Achterbahn, die dem Dampfzug auf Rügen nachempfunden war. War, wohlgemerkt. Inzwischen wurde der ganze Bereich britisch thematisiert und der Roland in Royal Scotsman umbenannt. Trotzdem rattert die Bahn nach wie vor durch ein Bäderhotel, gestaltet im Stil vom Ostseebad Binz auf Rügen.

Außerdem lockt die Lübecker Bucht noch mit dem Sealife Timmendorfer Strand und der Ostseetherme in Scharbeutz. Diese teure Therme ist nur für komplett gegensätzliche Zielgruppen attraktiv: Leute, die entspannen oder gefährlich schnelle Wasserrutschen runter wollen. Wie ein Leuchtturm entsendet der Turm der Therme rotes und grünes Licht, das sich bei näherem Hinsehen als Rutsche entpuppt. Eine weitere Besonderheit ist, dass die Badegäste durch ein Drehkreuz direkt an den Strand und wieder zurück in die Therme gehen können, so oft sie wollen. Aus irgendeinem Grund waren ich und mein Bruder damals im April 2014 die einzigen, die das gemacht haben. Das war so ungewöhnlich, dass wir hinterher an der Kasse noch ungläubig darauf angesprochen wurden: "Wart ihr wirklich im Meer?"

Wann immer ich bisher die Lübecker Erlebnisbucht besucht habe, bin ich irgendwo ausgestiegen, habe mein Ziel angesteuert und fand das ganz super. Heute bin ich zum ersten Mal durch den Raum dazwischen geradelt. Am Ende des Tages sah ich die Erlebnisbucht mit anderen Augen. Mit deutlich negativeren Augen, um genau zu sein.
Die Seebäder Sierksdorf, Haffkrug, Scharbeutz, Timmendorfer Strand und Niendorf gehen direkt ineinander über, dazwischen ist kein einiger Zentimeter Platz für ein bisschen Ruhe. Selbst Mitte September war hier die Hölle los. Morgen sollten die Temperaturen fallen, und deshalb waren Tagesausflügler und Kurzurlauber aus aller Welt (die meisten sahen deutsch aus, aber eine schnelle Zählung ergab acht Milliarden) angereist, um den letzten heißen Tag auf einem Viertelquadratmeter Strand zu verbringen. Ich versuche ja wirklich, kein Etepetete-Traveller zu sein, der sich beschwert, sobald irgendwelche anderen Touristen da sind. Doch diese Bucht fand ich grenzwertig.

Inzwischen hatten wir Hunger. Doch wo sollten wir in diesem Gedränge den Campingkocher aufstellen, ohne den Corona-Mindestabstand zu unterschreiten oder andere Menschen anzuzünden? Im Schatten der Rasthütten drängten sich zu viele Leute. Endlich entdeckten wir in Haffkrug eine kleine Aussichtsplattform auf der Düne. Schnell sicherten wir uns eine der Bänke, solange sie noch frei war. An diesem kleinen Rückzugsort kochten wir uns Kartoffeln. Erstaunlicherweise benötigten wir wirklich den Campingkocher, die sengende Sonne reichte nicht aus, um das Wasser zum Kochen zu bringen. Während unserer Mittagspause nahmen mindestens fünf verschiedene ältere Paare auf der anderen Bank Platz, um jeweils einige Minuten lang das Meer anzustarren.

Dass direkt hinter den Dünen eine Straße verläuft, ist der Entspannung auch nicht gerade förderlich. Anfangs mussten wir direkt auf der Straße fahren. Aber nicht einmal, als ein Radweg auftauchte, konnten wir wirklich aufatmen.
In Timmendorfer Strand werden die Radler auf zwei Straßen aufgeteilt, je nachdem, aus welcher Richtung sie kommen. Auf den Straßen ist so viel los, dass ihnen nicht Radfahrer aus zwei Richtungen zugemutet werden können.

Gott sei Dank, in Niendorf verschwanden wir hinter diesem Haus und landeten am Strand. Geht es hier wirklich weiter? Ja, aber nicht am Strand.

Der Wald verschluckte uns, und dort ging es dann erstmal aufwärts. Wir waren aber so froh, der Erlebnisküste entronnen zu sein, dass es fast wie von selbst den Berg hinaufging. Klarer Fall, hier wächst eine neue Steilküste heran! Als wir den Wald wieder verließen, konnten wir sie erkennen.
In Schleswig-Holstein haben wir so einige steile Ufer gesehen, doch nun boten die letzten Kilometer ein grandioses Steilküsten-Finale. Diese Küste ist weder vollkommen zugewachsen noch ganz nackt, sondern leicht bekleidet. Sie trägt quasi Badesachen, weil sie an einem Textilstrand steht.
Auch hier waren viele Menschen unterwegs, aber in einem Ausmaß, mit dem wir klarkamen. Zwischen dem Abgrund und dem Stoppelfeld radelten wir auf und ab. Unten kreischten Menschen im Wasser. Die badeten wesentlich gefährlicher, aber auch weniger beengt als die Leute im Strandkorbmeer einen Kilometer entfernt. Immer wieder hielten wir an, um uns eine Stelle genauer anzusehen. Ein Geländer gibt es nicht, die Sicherheitsvorkehrungen werden hier eher locker gehandhabt.

Ein Geländer würde sowieso bald runterfallen. Jedes Jahr bricht die Küste um ein paar Zentimeter ab. Für die Radfahrer und Wanderer ist das gefährlich (was aber offenbar niemanden juckt), für die Bauern ärgerlich. Denn mit jedem Abbruch verschiebt sich der staubige, ausgetretene Wanderweg weiter auf ihre Felder, sodass ihnen weniger Anbaufläche bleibt. Früher gab es hier auch Holztreppen runter zum Strand, die sind inzwischen abgestürzt. Wer weiß, wie lange es noch möglich ist, hier oben rumzulaufen. Bevor es zu spät ist, verleihe ich dem Brodtener Ufer das Prädikat

🌟Ort, den ich meiner Familie mal als Tagesausflug empfehlen würde

Was ist das denn? Oha! Auf einmal erkannte ich die Grundmauern eines kleinen Häuschens, die an der Steilküste abhingen. Sie waren zwar ein bisschen zugewachsen und eingefallen, aber die Form ließ sich noch ungefähr erkennen.

Mich persönlich würde so ein Anblick ja ein bisschen nervös machen, wenn ich ein Haus an dieser Küste hätte. Zwei Häuser stehen hier tatsächlich, erstens dieses Wohnhaus und zweitens das Erlebniscafé Hermannshöhe. Letzteres steht in großem Sicherheitsabstand zur Küste, damit es für die Gäste nicht zu erlebnisreich wird.

Hinter dem Café sind wir wieder im Wald verschwunden und durch die dünnen Bäume bergab gesaust. Auch wenn wir nicht sehen konnten, wie sich die Steilküste zurückzieht, war das ein super Abschluss der Steilküstenspannungsstrecke.

Eigentlich hatten wir überlegt, jetzt noch nach Lübeck zu radeln. Dort wollten wir bei Waltraud, einem weiteren herzensguten Menschen, übernachten. Unsere Pläne änderten sich, als sie uns oben auf dem Brodtener Ufer anrief und mitteilte, sie habe einen Tisch für acht Uhr beim Italiener reserviert. Um noch rechtzeitig anzukommen, stiegen wir in den Schnellbus. Anschließend verbrachten wir einen wunderbaren Abend mit der nettesten und großzügigsten Familie von Lübeck und legten einen dringend benötigten Ruhetag ein.

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