NEU: Die schwedische Halbinsel der Zugvögel

Falsterbo

Dienstag, 7. September 2021

Von Neuteschendorf nach Lensterstrand

Impf-Countdown: Noch 7 Tage

So, nach dem Zeitdruck gestern stehen wir um sieben auf und fahren um neun los, allerspätestens halb zehn!
So lautete der Plan.
Tja.
Und dann standen wir um 10:40 kurz hinter dem Campingplatz. Wo meine Freundin erstmal umkehrte, um die vergessene Taschenlampe zu holen. Spätestens zu diesem Zeitpunkt fürchtete ich, dieser Tag könnte wie gestern werden.
Spoiler: Wurde er nicht, ab da klappte eigentlich alles ganz prima und dieser Tag sollte ganz wundervoll werden. Aber das konnte mein nervöses Vergangenheits-Ich ja nicht wissen.

Nach ein paar Dorfhügeln entdeckten wir eine neue Stadt. Am Ortseingang folgten wir dem offiziellen Radweg brav auf eine Schleife durch ein hübsches kleines Seegebiet, denn dieser Umweg sah einfach zu verlockend aus. Ein pessimistisches Schild warnte vor schlechter Wegstrecke, was sich aber als ganz normaler Kiesweg herausstellte. Wir sind nur schnell durchgerauscht, waren dabei aber ganz berauscht von all dem satten Grün und zarten Blau. (Ein Satz, der eigentlich den ganzen Tag gut beschreibt.) Herrlich! So viel Landschaft zum Aufsaugen und Speichern für den nächsten Coronawinter!

Hinter den Wasserwiesen und Riesenrindern ragt ein blau gestreiftes Kreuzfahrtschiff auf... ach nee, das ist ein Hotel, welches verzweifelt zu beweisen versucht, dass nicht alle großen Strandhotels potthässlich sein müssen.

Das Ding gehört zu Heiligenhafen - ein Name, der sich auf Englisch auch gut als Bezeichnung eines gehobenen Strandrestaurants macht. Vor der Planung dieser Tour hatte ich noch nie von diesem Ort gehört, aber dieses Seebad scheint echt groß und beliebt zu sein. Selbst im September war es hier fast so voll wie in Warnemünde.

Heiligenhafen besteht quasi aus zwei Teilen. Auf einer Halbinsel erstreckt sich das Seebad. Hier haben wir in einer Art Bio-Touriladen ein paar Dinge nachgekauft. Die Bio-Sonnencreme stellte sich leider als hochgradig rassistisch heraus: Sie versuchte alles, womit sie in Berührung kam, weiß zu färben, und ließ sich auch durch noch so heftiges Verreiben nicht davon abbringen. Für den Rest des Tages ähnelten wir Schneemännern oder bescheuerten, weiß geschminkten Clowns.
Die Seebrücke fanden wir weitaus erfreulicher als die Sonnencreme. Es handelt sich nämlich um eine Erlebnisseebrücke. Wir liefen eine Weile darauf herum und suchten nach Erlebnissen. Die Brücke besteht aus Holz, wurde einem gezackten Blitz nachempfunden und beinhaltet neben Sitzgelegenheiten auch einen Spielplatz, einen Wasserspielplatz mit Pumpen sowie ein kleines Café. Stellenweise besteht sie sogar aus zwei Stockwerken. Neben den Kaiserbädern auf Usedom dürfte das eine der schönsten und aufwändigsten Seebrücken der Ostsee sein. Die Badestellen, die unser Reiseführer verspricht, haben wir nicht entdeckt. Am Ende war da ein komisches Gitter überm Wasser. Das könnte eine sehr ungemütliche Badestelle sein, aber die Treppe dahin war zugesperrt.
Auch die Aussicht von der Brücke ist wirklich monumental. Neben dem endlosen Meer breitet sich die Halbinsel von Heiligenhafen aus, dahinter ist die Insel Fehmarn mitsamt der dazugehörigen Brücke super zu erkennen. Und da ganz hinten - ist das etwa Lolland? Wir brauchten schon ein kleines bisschen Fantasie, um am Horizont wirklich die Stelle zu erkennen, an der wir vor zwei Wochen standen.

Eine Brücke brachte uns zurück zum Festland. Die war dermaßen kurz, dass vom Wasser kaum etwas zu erkennen ist. Eigentlich ist das nur ein Damm mit kurzem Brückenstück, der einen Teil des Wassers fast komplett vom Meer abschneidet. Dieser Teil des Wassers heißt wieder mal Binnensee, wie unglaublich einfallsreich.
Am anderen Ende beginnt die eigentliche Stadt Heiligenhafen. Sie begrüßte uns mit einem Riesenrad (man kennt es, das weltberühmte Holy Harbour Eye) und Jahrmarktbuden, die aktuell als Corona-Testzentrum dienen.

Der Rest besteht aus historischen Salzspeichern mit viel Straßenverkehr dazwischen.

Wir bogen rechtzeitig von dieser Stressstraße ab, um einen wunderbaren Kiesweg am Ufer zu benutzen, bei dem es sich möglicherweise auch um eine alte Bahntrasse handelt. (Es ist dort wesentlich schattiger, als es auf dem Foto aussieht.) Einsame rote Boote ankerten im Haff. Dahinter wird die Halbinsel immer schmaler, hinter den letzten Häusern beginnt das Naturschutzgebiet Graswerder. Es sieht aus wie ein flacher Kamm aus Sand mit vielen kleinen Zähnchen.

Nun geht der Ostseeradweg weiter zur Insel Fehmarn. Eigentlich. Wir hatten auch vorgehabt, die Inselrundfahrt in unsere Reise zu integrieren. Eigentlich. Doch die Zeit drängte und ich kannte die Insel auch schon, also entschieden wir: Wir kürzen jetzt ab. Nicht nur die komplette Inselrundfahrt fliegt raus, sondern auch die Anfahrt zur Insel durch Großenbrode und sogar noch ein paar Kilometer mehr (wo man eh nicht wirklich am Meer fährt). Hinter Heiligenhafen sind wir einer Straße schnurgerade nach Süden gefolgt. Zunächst mussten wir einen anstrengenden Hügel unter der Autobahn bezwingen. Dann hupte uns ein LKW mehrere Minuten lang an, auch, als wir schon längst aus dem Weg waren. (Ich gehe mal vom Besten in unseren Mitmenschen aus und vermute, seine Hupe hat geklemmt.) Später wurde die Straße immer breiter und angenehmer, vor allem aber verdanken wir dieser Straße, dass wir nun wieder voll im Zeitplan sind.

Auf einmal baute sich neben uns ein dicker hellgrauer Turm auf. Wie unschwer zu übersehen war, befindet sich eine Ostsee-Erlebniswelt darin (also Aquarien). Aber ich bezweifle, dass der Turm von vorneherein als touristische Attraktion gebaut wurde. Dann sähe er bestimmt nicht dermaßen bescheuert aus. Womöglich stand seine ursprüngliche Funktion in irgendeinem Zusammenhang mit dem Kalten Krieg. Denn heute gelangen wir so langsam in einen Bereich, der stärker vom Ost-West-Konflikt geprägt wurde.

Eigentlich waren wir heute noch nicht am ehemaligen Eisernen Vorhang, aber irgendwo da hinten, auf der anderen Seite der Lübecker Bucht, befindet sich die DDR Mecklenburg-Vorpommern und rückt immer näher.
Als wir wieder auf die Ostseeküste trafen, überraschte sie uns mit einem verblüffend kleinen Hubschrauberlandeplatz aus Gras. Sollte hier wirklich ein Heli landen, dürfte er die Frisuren der Spaziergänger ordentlich durcheinanderwirbeln.

Die Abkürzung hatte sich gelohnt: Für den Rest des Tages konnten wir entspannt eine lange Strandstrecke durchradeln. Neben uns erstreckte sich eine weite Dünenlandschaft, in der einheimische Gewächse wie zum Beispiel der Deutsche Kurtaxe-Automat (visitatoris tributum machina teutonica) ihren natürlichen Lebensraum finden. Die enge Verwandtschaft mit dem Deutschen Parkautomaten (rhaedam machina teutonica), der auch an Stränden, jedoch noch häufiger in Großstädten lebt, ist klar zu erkennen.

Zwischendurch haben wir das Ostseebad Dahme durchquert. Dort geschah etwas Trauriges: Eine der prächtigsten Dünen verwandelt sich in die mickrigste Düne der gesamten deutschen Ostseeküste. Langsam wächst im Deich eine Betonmauer heran.

In Dahme ist von der dünnen Düne kaum mehr als ein zittriges Häuflein Sand übrig, das sich an eine Betonmauer lehnen muss. Aber immerhin ist der Strand schön weit und weiß.

Dahme ist eine Ansammlung unauffälliger Ferienwohnungen und das einzige Ostseebad Schleswig-Holsteins, in dem wir schon mal waren. Daher haben wir nur kurz im Durchfahren gecheckt, ob noch alles da ist:
Die Seebrücke in Dahme ist das Standardmodell, das an so vielen Orten der deutschen Ostsee steht. Der Rest des Ortes ist rotem Stein gepflastert. Darauf stehen diese drehbaren, geschwungenen Holzbänke, die ich zum Beispiel auch in Fehmarn gesehen habe, ziemlich gemütliche Dinger.

Da wir noch ungefähr wussten, wo sich der Supermarkt befindet, haben wir weitere Sachen nachgekauft, die wir beim ersten Nachkaufen vergessen oder nicht gefunden haben. Dieser Supermarkt gehört zu keiner großen Kette wie Lidl, Rewe oder Aldi, trotzdem ist er gar nicht mal so klein und hat alles. Das ist in Deutschland durchaus eine erwähnenswerte Besonderheit.
Er bietet folgendes Getränkesortiment an: Möwenschiet, Ostseewasser und Ostseeschlamm, alles Spirituosen mit äußerst verlockenden Namen. Auch befinden wir uns bereits im Dunstkreis der Hansestadt Lübeck, die jede Menge Marzipan in alle Geschäfte der Region absondert. Bei unserem letzten Einkauf erlebten in diesem Supermarkt echte norddeutsche Bescheidenheit.
"Haben Sie Pizzateig?"
"Naja, wir haben das hier. Ich glaub, das kann man essen."

Hinter Dahme erstrecken sich Kleingartenanlagen mit einem Leuchtturm. Er heißt offiziell Leuchtturm Dahmeshöved, wurde in der DDR aber auch Licht der Freiheit genannt. Wer heimlich über die Mecklenburger Bucht paddeln wollte, orientierte sich an seinem Schein.

Bald darauf konnten wir zurück ans Meer. Es sieht ein wenig wilder aus und wird von Steinen und abgebrochenen Buhnen gesäumt. Strand gibt's erst wieder im nächsten Ostseebad, aber bis dahin ist es nur ein Katzensprung.

Hier bitte nicht mit dem Auto reinfahren. Auch wenn der Weg noch so verlockend aussieht, ist er für eine Autowäsche ungeeignet.

Der nächste Ort heißt Kellenhusen und ist originell gestaltet. Die (Kä)Seebrücke ist nicht das Standardmodell, sondern kreativ und löchrig.

An der Strandpromenade tauchten wir zwischen blauen Wellen und Walen und vielen Menschen hindurch. Die Mühe lohnte sich: Nach langem Suchen und Schieben tauchte ein großartiges Restaurant auf, sogar mit einem freiem Tisch direkt neben dem Strand. Dass wir damit riesiges Glück hatten, wurde uns erst klar, als während unserer Mahlzeit unzählige Gäste leicht geknickt nach drinnen gingen, weil im Außenbereich nichts mehr frei war.

Nach dem Essen verzogen wir uns von der überfüllten Promenade eine Reihe nach hinten. Dort verlief ein wunderbarer Radweg auf dem Deich. Statt wilder Dünen sahen wir diesmal eher gepflegte Parks und Wälder.
(Was ich nicht ganz verstehe ist, wieso in Kellenhusen ein Fußweg und direkt daneben ein gemeinsamer Fuß- und Radweg verläuft. Einen Weg hätte man doch echt ganz den Radlern überlassen können.)

Der Kiesweg war schneeweiß und puderte unsere Reifen schön ein, sodass sie sogar noch am nächsten Tag kreideweiß aussahen und damit perfekt mit unseren von der Bio-Sonnencreme verunstalteten Clownsgesichtern harmonierten.

Vom Wildcampen haben wir im Moment genug. Zwischen Lensterstrand und Grömitz erstreckt sich ein ganzes Campingplatz-Biotop mit Plätzen jeder Art und Preisklasse, doch wir wollten ganz sichergehen und unseren Fehler von gestern nicht wiederholen. Auch, um diesmal vielleicht einen wärmeren Empfang zu erleben. (Spoiler: Das funktionierte.) Deshalb suchten wir schon beim Essen online nach den Campingplätzen und riefen schließlich den ersten an der Strecke an, um zu fragen, ob wir in einer Dreiviertelstunde einchecken könnten. "Gut, ich warte noch so lange.", antwortete der Herr an der Leitung. Auch dort wäre wohl eigentlich Feierabend gewesen.
Dieser Zeltplatz hatte uns mit dem moderaten Preis überzeugt und damit, dass es sich um "den einzigen Campingplatz in Lensterstrand" handelt, der "noch vor dem Deich direkt am FKK-Strand" liegt. Das ist sicherlich praktisch, wenn man sich im Campingplatz-Biotop mit diesem Merkmal wortwörtlich hervorheben kann. Sobald wir den Eingang sahen, rutschten wir einfach einen steilen Pfad am Deich runter und waren am Ziel. Wir erhielten einen Schlüssel für die Waschräume und konnten wieder mal ohne Zeitbegrenzung duschen, noch so ein Luxus, den wir erst jetzt so richtig schätzen. Damit die Gäste es mit dem Duschen nicht übertreiben, müssen sie aber etwa alle 0,3 Sekunden den Knopf für neues Wasser betätigen.
"Ach so, müssen wir Kurtaxe bezahlen für den Strand?", fragte ich noch, als der Herr, der auf uns gewartet hatte, schon gehen wollte.
"Ich sag's mal so: Der einzige, der das hier kontrolliert, bin ich, und ich hab jetzt Feierabend."
Das ist doch mal eine Ansage.

Auch dieser Zeltplatz stand voller Wohnmobile, doch ihre Bewohner gingen offenbar alle früh schlafen. Es war kaum zu fassen, aber wir hatten an diesem traumhaften Abend den Strand komplett für uns. Wir setzten uns auf zwei wacklige Plastikstühle, die daraufhin halb im Sand der Dünen versanken, und beobachteten, wie die Sonne es den Stühlen gleichtat, in den Dünen versank und einem Sternenhimmel Platz machte. Ein kleiner Fluss mündet hier in die Ostsee, und ein Schöpfwerk verhindert, dass die Ostsee bei einer Sturmflut durch das Flussbett ins Land eindringen kann. Im Abendrot erinnerte mich die Silhouette der Betonbögen an eine antike Ruine.

Am nächsten Morgen betrat ich die Rezeption, um zu bezahlen. Der nette Herr bat mich um folgendes: "Und schließt uns in euer Nachtgebet mit ein."
Ich hielt das für einen ungewöhnlichen Abschiedsgruß oder vielleicht auch einen Hinweis auf die Notlage der touristischen Betriebe während der Pandemie. Er nahm den Schlüssel entgegen und verabschiedete sich. Als er nichts mehr sagte, wies ich darauf hin, dass wir noch nicht bezahlt hatten.
"Ich sagte ja: Schließt uns in euer Nachtgebet mit ein."
Er wollte... was? Uns den Preis erlassen? Ich war erstmal zu verblüfft, um mich angemessen dankbar zu zeigen, gab ein irritiertes "Okay" von mir und stolperte hinaus. Zum Glück begegneten wir ihm später nochmal. Den ganzen nächsten Tag rätselten wir, was ihn zu diesem besonderen Radlerrabatt von genau 100% bewegt haben könnte. Mochte er Tourenradler einfach und traf nur selten welche zwischen all den Wohnmobilen? Oder war er fest entschlossen, all die gemeinen Dinge zu widerlegen, die ich hier über Deutschland geschrieben habe?
Welch seltsame, aber ganz großartige Übernachtung.

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