NEU: Die schwedische Halbinsel der Zugvögel

Falsterbo

Donnerstag, 2. September 2021

Von Flensburg nach Steinberghaff

Im Sommer 2021 geschah das, was kaum noch jemand der Bundesregierung zugetraut hätte: Plötzlich konnte sich jeder gegen Corona impfen lassen. Wirklich jeder? Nein! Ein paar tapfere niedersächsische Bürokraten taten alles, um meiner Freundin vollen Impfschutz zu verwehren. Mithilfe nicht funktionierender Websites, gezielter Fehlinformation und gegenseitigen Schuldzuweisungen hatten sie bewirkt, dass sie eine Erstimpfung, aber keinen Termin für die zweite hatte. Warum ich das erzähle? Weil das den Rest unserer Reise maßgeblich bestimmen sollte.
Morgens an der Flensburger Hafenspitze unternahmen wir einen weiteren Versuch und riefen ungefähr 4673 verschiedene Telefonnummern an. Schließlich tat sich ein Loch im Bürokratiedschungel auf: Am 15. September war in Rostock etwas frei. Das bedeutet: Ab jetzt wird nicht getrödelt, denn bis Rostock ist es noch ein ganzes Stück. (Spoiler: Es wurde trotzdem getrödelt.)

Impf-Countdown: Noch 13 Tage

Die Nähe zu Dänemark ist nicht nur kulturell, sondern auch geographisch zu spüren. Die deutsche Seite der Förde ist genauso hügelig wie die dänische. Auf so viele Steigungen hatten wir keine Lust. Den ersten Hügel versuchte ich zu umgehen, indem ich einfach direkt an der Förde blieb. Wir gerieten in ein abgewracktes Industriegebiet. Ab und zu steckten wir zwischen Bäumen und Bauzäunen in einer Sackgasse, aber insgesamt funktionierte es - der Weg blieb flach.

Super, dann können wir das beim zweiten Hügel ja auch so machen! Aber da machte uns die Bundeswehr einen Strich durch die Rechnung.

Am Ufer der Ostsee erhebt sich nämlich die Marineschule Mürwik. Hierher flüchtete Großadmiral Dönitz, der zweite und letzte Kanzler des Nazireichs, und unterzeichnete die bedingungslose Kapitulation. Im sogenannten Roten Schloss am Meer werden alle deutschen Marineoffiziere ausgebildet.

Sie lernen wahrscheinlich, was sie mit diesem grauen Kriegsschiff anstellen sollen, falls Putin angreift.

Dabei dürfen sie auf keinen Fall gestört werden. Deshalb schlängelt sich der Weg kurz vor der Marineschule den Berg hinauf. Unten dürfen wir nicht weiter. Der ganze Weg ist von Zäunen und Warnschildern umgeben, damit sich auch ja alle Zivilisten verpissen. Okay, okay, dann fahren wir halt über den Berg, bitte erschießt uns nicht, danke.

Oben entdeckten wir zufällig das berühmteste Gebäude Flensburgs: Das Kraftfahrt-Bundesamt merkt sich die schlimmsten Sünden, die deutsche Autofahrer im Straßenverkehr begangen haben. Es sieht ungefähr so aus, wie man sich ein Gebäude mit diesem Namen vorstellt. Jetzt haben wir mal gesehen, in was für einem altbackenen Speicher diese Daten landen. Bisher war dieses Gebäude für uns auch nur ein Name auf einer Karte - oder anders ausgedrückt, irgendein Punkt in Flensburg.

Unter dem wachsamen Auge dieses Bundesamts hielten wir uns besonders brav an die Verkehrsregeln. Deshalb schoben die Räder ordnungsgemäß auf dem Bürgersteig, als wenig später Bauarbeiten die Straße blockierten. Die Stadt Glücksburg beglückte uns mit diesen Baustellen-Bergen, vermutlich aus Rache, weil wir keine Lust auf einen Umweg hatten und ihr berühmtes Wasserschloss verschmähten.

Hier hat irgendjemand einen handgeschriebenen Wegweiser ergänzt. Dabei ist das Fahrradschild doch eigentlich eindeutig.

Der Wegweiser wäre an der nächsten Kreuzung im Wald, nur wenige Meter entfernt, besser aufgehoben gewesen. Hier musste ich mich erst eine Weile orientierungslos umschauen, bis ich weiter hinten an der übernächsten Kreuzung das nächste Schild erspähte. Während wir uns Essen kochten, beobachteten wir viele Radfahrer, die erstmal orientierungslos ein paar Meter in die falsche Richtung irrten. Während wir aßen, wurden unsere Hände und unser Besteck vorübergehend zum Wegweiser, wann immer jemand vorbeikam.

Menschen, die per Anhalter durch Schleswig-Holstein fahren, werden von diesem Bundesland besonders unterstützt. Immer wieder sind uns die Mitfahrbänke aufgefallen. Die Anhalter können nicht nur darauf sitzen, sondern auch ein Schild anhängen, in welche Stadt sie wollen. Allerdings haben wir nie jemanden gesehen, der darauf saß. Ich haben gewisse Zweifel, ob im Zeitalter von Online-Mitfahrdiensten noch ein Bedarf an solchen Dingern besteht. Sie sehen aber ganz hübsch aus und verschönern damit auch die Straßen.

Der Radweg ging noch eine ganze Weile an der Straße entlang, bevor wir wieder an den Strand durften.
Weil hier früher die Angeln gelebt haben, heißt diese Landschaft, ähm, Angeln. Irgendwann segelten die Angeln von hier los, um sich zusammen mit den Sachsen und Jüten Gebiete in Großbritannien zu angeln. Später kamen Germanen auf dem Ostseeradweg von Jütland nach Angeln und brachten einen Haufen dänische Dorfnamen mit. Wir sind ja quasi auch Germanen (zumindest teilweise) und kommen aus derselben Richtung, haben aber bloß eine fast leere Packung Skyr und eine Tüte Karamellbonbons im Gepäck, die inzwischen zu einem einzigen Karamellbonbon zusammengeschmolzen sind.
Andauernd entdeckten wir Dorfnamen, die uns (in leicht veränderter Schreibweise) aus Dänemark bekannt vorkommen. Viele enden auf -up oder -by, darunter mindestens sechshundert Niebys. (In Dänemark gibt es sogar ein Ny Nyby, also eine Neue Neustadt, aber so ein Name war den Deutschen dann doch zu neu.) Auch das dänische Dorf Gejl hat hierzulande einen geilen Namensvetter.

Viele andere Dinge verändern sich jedoch in Deutschland, insbesondere die Trinkwasserversorgung und die Übernachtungsmöglichkeiten.
Wir können wir uns nicht mehr darauf verlassen, dass uns die Kirchen regelmäßig Trinkwasser verschaffen. Solange wir in der Nähe touristischer Strände bleiben, ist das nicht so schlimm. Hier gibts in regelmäßigen Abständen kostenlose Strandklos, damit die Badegäste nicht in die Ostsee pinkeln müssen. Sie befinden sich in kleinen eckigen Häuschen, die praktischerweise aufgrund ihrer bemerkenswerten Hässlichkeit sofort herausstechen. Dieses hier steht in Steinberghaff, dem Ostseebad der drei Lügen: Kein Stein, kein Berg und kein Haff.

Auch mit dem Übernachten ist es etwas... naja, einerseits leichter, aber am Ende doch schwieriger. In Deutschland ist Wildcampen verboten - behaupten viele Leute. Dabei stimmt das gar nicht. Manche Bundesländer, darunter auch die Ostseeländer Schleswig-Holstein und MV, machen eine Ausnahme -  für nicht motorisierte Reisende (sind wir), eine Nacht (das reicht uns), nicht im Naturschutzgebiet (schwieriger, als es klingt) und wenn es privatrechtlich erlaubt ist. (Äh, naja, ach, da steht kein Verbotsschild und kein Zaun, also ist es hoffentlich erlaubt - woher sollen wir denn wissen, wem das gehört und wen wir fragen sollen? Zumindest bei einem Staatsforst sollte es ja wohl gehen, denn der Staat hat uns seine Regeln ja gerade schon verraten.) Wenn wir in der Wildnis schlafen wollten, haben wir uns eine versteckte Stelle im Wald gesucht. Zum einen, weil die meisten anderen Flächen sowieso landwirtschaftlich genutzt werden, zum anderen, damit uns niemand stört, der die entsprechende Vorschrift nicht kennt oder anders interpretiert.

Dass der Wald kein Naturschutzgebiet sein darf, ist kein Problem, dachte ich, denn die sind ja alle in der Karte eingezeichnet. Bis beim Mittagessen im Wald (wo die vielen Radler falsch gefahren sind) ein Schild überraschend verkündete, dieser Wald sei ebenfalls Naturschutzgebiet. Na so was, die Karte ist gar nicht mehr aktuell. Wir suchten im Internet eine Karte mit Naturschutzgebieten in Schleswig-Holstein heraus und, oh nein, auch in dem Bereich, wo wir heute eigentlich schlafen wollten, war alles geschützt. Das bedeutet, wir mussten schon 8,5 Kilometer früher in einem anderen Wald schlafen gehen. Die heutige Strecke war dadurch etwas entspannter, aber morgen wird der Weg richtig lang.
Der Wald hinter Steinberghaff war hatte eine wunderbare versteckte Ecke, nebenan waren wieder einmal Kühe. Ich musste nur die großen Äste zur Seite räumen, dann war der Boden ideal.

Ich pumpte die Luftmatratze auf. Kurz darauf war sie schon wieder halb leer. Ich brauchte nicht lang zu Suchen: An der Oberseite klaffte ein richtig großes Loch, als hätte jemand mit einem Messer hineingestochen. Wie ist das denn passiert? Wir hatten zwei Arten von Flicken für Matratzen dabei, aber keiner der beiden konnte sich dem pfeifenden Luftstrom widersetzen. Erst beide Flickenarten übereinander fanden genug Halt.
Erleichtert ließen wir uns auf die Matte fallen, die prompt ein anderes Geräusch von sich gab. Eine Art dumpfes Surren. Entweicht etwa immer noch Luft? Ich lauschte an den beiden Flicken, aber dort war alles in Ordnung. Das Geräusch klang auch ganz anders... und es schien sich irgendwie zu bewegen.
Wir waren so müde, dass es viel zu lange dauert, bis der Groschen fiel. Ein Insekt war in der Matte gefangen, vermutlich eine Fliege! Wie zur Hölle war es da reingekommen, und seit wann? Die letzten zwei Nächte hatten wir die Matte ja gar nicht benutzt.
Zu Hause ist es schon schwer genug, einer Fliege begreiflich zu machen, dass sie einfach nur durch das sperrangelweit geöffnete Fenster fliegen muss. Unsere Chancen, dieser Fliege mitten in dunkler Nacht den Weg durch ein kleines Ventil zu weisen, standen vermutlich schlecht. Und das Insekt war offenbar auch müde, es summte nur, wenn wir uns wirklich viel bewegten. So ließen wir die Fliege fliegen und verbrachten in Anbetracht der Umstände eine überraschend ruhige Nacht
Als ich am nächsten Morgen die Luft herausließ, erschraken wir dennoch, als eine total fette Hummel aus dem Loch dem Licht entgegenflog. In dieser Nacht hatten wir wortwörtlich Hummeln unterm Hintern!

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