NEU: Die schwedische Halbinsel der Zugvögel

Falsterbo

Samstag, 11. September 2021

Von Priwall nach Hohen Wischendorf

Impf-Countdown: Noch 3 Tage

Der nächste Tag hat uns richtig gut gefallen. Ich würde die Strecke glatt meiner Familie empfehlen, aber die war schon längst hier. Die fand es da zwar ebenfalls schön, aber sehr anstrengend wegen der Hügel. Uns konnten diese kleinen Erhebungen nach den Bergen Jütlands nicht mehr aus der Fassung bringen. Die Sonne schien zwischen den dünnen Bäumchen hindurch und brachte den lichten Wald zum Strahlen, daneben rauschte das Meer. Anders als im ländlichen Schleswig-Holstein schimpfen die Radfahrer hier nicht, sondern entschuldigen sich sogar noch, wenn wir kurz den Weg blockieren.

Kleine Hindernisse wie die Sandpassage bei einem Reiterhof oder Holzbrücken konnten wir leicht überwinden.

Am Horizont verschwanden der seltsame Ostseeturm und der Schwur des Kärnan allmählich aus unserem Blickfeld. Nun sind wir auf der anderen Seite der Bucht, im guten alten Mecklenburg-Vorpommern. Viele Menschen verbinden dieses Bundesland mit FKK-Stränden, und überraschenderweise wurde dieses Klischee sofort erfüllt. Als wir zum erstbesten Strand runterliefen, sahen wir gerade Menschen beim Nacktbaden, und zwar junge! Ich habe jahrelang in diesem Bundesland gelebt, kann mich aber nicht erinnern, das jemals bei Leuten unter 40 gesehen zu haben. (Aus daten- und jugendschutzrechtlichen Gründen habe ich das Foto erst aufgenommen, nachdem sie nicht mehr im Bild waren.)
Abgesehen von Badehosen fehlten hier auch Strandkörbe (die sind ja eigentlich typisch MV), Menschenmassen, Möwenmassen und Geräusche, die lauter als das Wellenrauschen waren. Dieser Strand ist das komplette Gegenteil der Lübecker Erlebnisbucht, so frei und weit und wild, ganz wunderbar. An ins Wasser! Echt irre: Heute ist immer noch Badewetter.

Dabei ist MV ist das deutsche Bundesland mit den meisten Touristen. Da kann man sich ausrechnen, dass nicht alle Strände so aussehen.
Dass dieser Strand so unberührt und der Wald so jung aussieht, hat einen dunklen Hintergrund: Die Bucht ist hier so schmal, dass die Bürger der DDR auch ohne sportliche Erfahrung mit ein bisschen Glück rüberschwimmen oder rüberpaddeln konnten. Darum war die Ostseegrenze hier ähnlich tödlich ausgebaut wie die Binnengrenze den beiden deutschen Staaten, komplett mit Zäunen und Selbstschussanlagen. Das einzige Überbleibsel, das wir davon gesehen haben, ist der Kolonnenweg für die Fahrzeuge der Grenzsoldaten. Ich denke nicht, dass allzu viele Leute versucht haben, hier zu fliehen. Über den Zaun und das Meer ist es ja sogar noch riskanter, als nur über den tödlichen Zaun im Binnenland zu klettern.
Erst seit 1989 ist es wieder möglich, hier zu baden. 

Und auch die Steilküste kann erst seit dem Mauerfall bewundert werden. Das hölzerne Geländer sieht stellenweise aus, als wäre es zum letzten Mal vor dem Kalten Krieg repariert worden. Es wachsen derart viele Bäume, dass wir von oben nicht allzu viel erkennen konnten. Das Meer war nur ein vages blaues Etwas zwischen den Ästen.

Als der Wald sich lichtete, wollten wir einen Blick durch die Büsche werfen, aber diesmal versperrten zwei rotweiße Zäune den Weg. Das scheint eine gefährliche Stelle zu sein.
Erst beim dritten Versuch entdeckten wir einen Pfad, der uns einen richtigen Blick auf den Strand und die Steilküste verschaffte.

Die Hügel sind so niedrig, dass in regelmäßigen Abständen eine Schneise zum Strand runterführt. Unten sind die Klippen viel besser zu erkennen - so gut, dass mir meine wanderlustige Freundin einfach davongelaufen ist, um sich das genauer anzusehen. Die Landschaft sieht aus, als wäre die Steilküste von Sehlendorf und Neuteschendorf altersschwach geworden und könnte jeden Moment zusammenbrechen unter der Last der Bäume und Büsche, die im Laufe der Jahrhunderte auf ihr gewachsen sind. Da hinten ist sie offenbar schon zusammengebrochen. Hat aber auch was, so eine völlig überfrachtete, wilde Oldtimer-Steilküste. Ihr Name klingt auch ein wenig exzentrisch: Kleinklützhöved.

Diese auffällige Markierung zeigt, wo der Hundestrand beginnt.

Dieses Land heißt Klützer Winkel, auch bekannt als Goldene Aue oder Speckgürtel, weil der Boden so fruchtbar ist. Wir kamen an einigen Äckern vorbei, wo die braune Erde leer und abgeerntet auf den Winter wartete.
Jetzt wollte ich endlich mal die Empfehlung eines anderen Ostseeradlers umsetzen und das Café Großklützhöved besuchen. In maximaler Idylle ließen wir uns zwischen blühenden Büschen und Bäumen auf dem Fachwerkhof nieder. Ursprünglich dachte ich dabei wirklich nur an Kaffee und Kuchen. Aber dann sahen wir, dass die Speisekarte auch andere Dinge wie Suppe und wirklich gute Pizza umfasste. Am Ende bestellten wir so viel, dass wir zwei Tische zusammenstellen mussten. (Es waren aber auch sehr kleine Tische.)

Wir waren fest entschlossen, nach dem Cafe noch einen Abstecher zur Steilküste Großklützhöved zu machen. Gut, dass wir uns das nicht haben entgehen lassen - hier ist die Steilküste 30 Meter hoch und viel offener. Dem Brodtener Ufer sieht sie zum Verwechseln ähnlich. An dieser spektakulären Stelle beginnt die Wismarsche Bucht.

Diesmal ist kein Haus von der Klippe gestürzt, sondern nur ein Absperrzaun. Äh, sehr beruhigend.

Als wir nach Boltenhagen hineinrollten, begrüßte uns eine kleine graue Katze mit Gummifetisch. An menschlichen Streicheleinheiten zeigte sie nicht das geringste Interesse, stattdessen strich sie immer wieder um unsere Fahrräder und rieb sich an den Reifen.

An der langen Straße von Boltenhagen entdeckten wir sogar zwei Supermärkte, die Sonntags geöffnet sind, auch wenn das Sortiment nicht allzu groß war. Da merkten wir gleich, dass alles auf Touristen eingestellt ist.
Boltenhagen ist ein ganz klassisches Mecklenburger Ostseebad, mit Sandstrand, hölzernen Buhnen, Kurpromende und allem Drum und Dran. Dies war der westlichste Ort, an dem die DDR-Bürger ins Meer springen durften. Dabei galten jedoch eigenartige Regeln, welche die Menschen auch beim unbeschwerten Baden daran erinnerten, in welchem Land sie lebten. Luftmatratzen waren vielerorts nicht erlaubt, es könnte ja jemand darauf wegpaddeln. Schiffe unterschiedlicher Größe bewachten das Meer, und selbst in Dörfern weitab der Küste passten ehrenamtliche Spitzel auf, ob nicht ein verdächtiges Auto mit Schlauchboot auf dem Dach durchfuhr.

Badekarren auf der Nordseeinsel Borkum
Räumlich gesehen ist Boltenhagen das erste Ostseebad (da wir von Westen kommen), zeitlich gesehen ist es das zweitälteste Ostseebad. Anfang des 19. Jahrhunderts tauchten hier die ersten Badegäste auf beziehungsweise ab. Bevor das Hotel erfunden wurde, schliefen sie in den Rauchhäusern der Bauern (die hießen so, weil sie keinen Schornstein hatten und die Rauchmelder darin permanent piepsten). Am Strand bezahlten sie für einen Badekarren, der von Pferden ins Meer gezogen wurde. Das war eine Art kleine Kutsche für 5 Leute. Sie stiegen hintenrum über eine Treppe ins Wasser, damit bloß niemand vom anderen Geschlecht zusah.

Wir sind dann eine Weile dem Radweg an der Straße gefolgt und haben ein paar Schleifen des angeblich schlecht befahrbaren Weges abgekürzt. Zwischendurch kamen wir noch einmal an einem Stück Ostsee vorbei, das einem Wattenmeer nicht ganz unähnlich war. Anschließend sind wir nach Hohen Wischendorf abgebogen und haben eine Weile die richtige Straße gesucht.

Ich erinnere mich noch deutlich, wie ich mit 10 Jahren auf meiner ersten Radreise verblüfft feststellte, dass wir jede Nacht auf eine ganz neue Art übernachteten, die ich noch nicht kannte - in einem Hotel, einer Pension, einem Gästehaus, bei Dachgebern oder einer Ferienwohnung.
Diese Erfahrung sollte sich überraschenderweise zum Schluss unserer langen Reise wiederholen. Dabei dachte ich, ich sollte mittlerweile alle Übernachtungsarten kennen. Von wegen! Ich habe noch nie zuvor Ferienhaus-Wildcamping gemacht. Das ist eine skurrile Kombination aus der teuersten und günstigsten Übernachtungsart und funktioniert folgendermaßen:
Ich kenne jemanden, der im Dorf ein Ferienhaus vermietet und uns auf dem dazugehörigen Grundstück am Dorfteich zelten lässt. Außerdem dürfen wir das Bad im Haus benutzen.
Eigentlich. Aber der Schlüssel befand sich nicht dort, wo er liegen sollte. Er hat ihn vergessen. Ich rief ihn an, damit er wusste, dass der Schlüssel nicht da war, auch wegen der nächsten Ferienhausgäste. "Oh, das tut mir leid.", meinte er. "Aber ihr habt ja Wasser aus dem Gartenschlauch."
Eigentlich. Aber selbst dazu braucht man so eine Art Schlüssel zum Aufdrehen, und der lag offenbar drinnen.
Wir schliefen gewissermaßen in der Wildnis auf der Schwelle zum Luxus. Der einzige Vorteil, den uns das Haus gab, bestand aus einem gemütlichen Holztisch auf der Veranda mit Licht und Regenschutz, den wir ganz für uns hatten. Einmal fragte der Nachbar, was wir denn da machen, aber er glaubte uns dann zum Glück, dass wir das dürfen.
Ich fand diese Nacht eher amüsant als ärgerlich. Nachdem unsere Gastgeber uns bisher immer so aufopfernd umsorgt hatten, dass ich schon ein schlechtes Gewissen bekommen habe, wurden wir diesmal eher mit ein bisschen überraschendem Chaos versorgt, das sich gut in die Reise einfügt.

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